Schuldfrage

„Will ich ihn zur Strafe im Knast sehen?“

Von Axel Schock
Auf dem Bild ist ein Mann in einem braunen Anorak von hinten zu sehen, der einen Weg in herbstlicher Umgebung lang geht.
Wie damit umgehen, wenn man von einem Sexpartner wissentlich mit HIV infiziert wurde? Ist eine Strafanzeige ein hilfreicher Weg? Auch Angelo hat sich diese Frage gestellt – und eine HIV-Anzeige verworfen.

Eine HIV-Infektion, ganz gleich, unter welchen Umständen sie passiert, ist für viele Betroffene zunächst ein großer Schock. Auch wenn HIV heute gut behandelbar ist, verändert die Infektion doch nachhaltig das Leben.

Doch was, wenn man von einer vertrauten Person wissentlich dem Infektionsrisiko ausgesetzt und tatsächlich auch mit HIV angesteckt wurde? Das deutsche Strafrecht wertet solche Fälle als versuchte bzw. schwere Körperverletzung. Bei einer Verurteilung drohen so eine Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bzw. eine Geldstrafe.

Angelo weiß seit zehn Monaten von seiner Infektion, und er weiß auch, dass er sich bei seinem damaligen Beziehungspartner infiziert hat, der ihn nicht über seine Infektion informierte. Warum er sich letztlich gegen eine Strafanzeige entschied, erzählt er im Interview mit magazin.hiv. 

HIV-Diagnose nach einer „Sommergrippe“

Wie hast du von deiner HIV-Infektion erfahren? Durch einen Routinetest?

Das war vor einem halben Jahr. Ich hatte damals tagelang hohes Fieber. Der Arzt tippte als Erstes auf eine Sommergrippe.

Ich war von dieser Diagnose allerdings nicht so überzeugt. Als ich am Wochenende immer noch 40 Grad Fieber hatte, bin ich in die Krankenhaus-Notaufnahme gegangen.

Die haben mich auf alles Mögliche untersucht, was hätte theoretisch möglich sein können, zum Beispiel Borreliose und das Epstein-Barr-Virus.

„Ich hätte nie gedacht, dass er mich anlügt“

Ich hatte dann vorgeschlagen, vielleicht mal einen HIV-Test zu machen. Aber darauf ging zunächst niemand ein. Ich bin dann ohne Ergebnis entlassen worden.

Ich habe damals schon ehrenamtlich in der Aidshilfe gearbeitet, und ein Mitarbeiter bot mir an, einen Schnelltest zu machen.

Sex ohne Kondom im Vertrauen auf den Partner

Hattest du insgeheim mit einem positiven Testergebnis gerechnet?

Nein, überhaupt nicht. Ich hatte damals gerade seit drei Monaten einen neuen Partner und kurz davor einen Routinetest gemacht, der war negativ ausgefallen.

Mein Partner hatte mir versichert, dass er auch negativ getestet ist. Ich hätte nie gedacht, dass er mich anlügt.

Das heißt, du hattest Sex ohne Kondom im Vertrauen darauf, dass sein negativer Testbefund aktuell ist bzw. stimmt. Ihr wart noch zusammen, als du dein positives Testergebnis erfahren hast?

Ja, da waren wir noch ein Paar. Ich hatte mir dann von ihm zunächst Kommentare anhören müssen wie: „Wo hast du dir das denn geholt?“. Aber ich merkte an seiner Art, dass da etwas nicht stimmt.

Per Zufall kam dann heraus, dass er selbst auch positiv ist und das sogar schon seit fünf Jahren wusste, aber nie seine Tabletten genommen hat.

Das heißt, er hat seine Therapie abgebrochen.

Richtig.

Angst und Ausflüchte

Konntet ihr euch dazu aussprechen?

Ich habe ihn natürlich zur Rede gestellt. Aber dann kamen Ausflüchte: „Es tut mir leid, aber wenn ich gesagt hätte, dass ich positiv bin, hättest du bestimmt keinen Sex mit mir haben wollen.“

Der Gedanke, dass er einfach hätte sagen können: „Ich weiß nicht, ob ich positiv oder negativ bin.“ Das ist ihm aber wohl nicht in den Sinn gekommen. Das wäre dann zwar auch gelogen, aber dann läge die Entscheidung beim anderen, ob man beim Sex auf ein Kondom verzichtet oder nicht.

Hast du verstanden, warum er seine Tablette nicht genommen hat?

Um ehrlich zu sein: nein. Er kam mit so sonderbaren Erklärungen wie: „Die wirken bei mir eh nicht.“ Und: „Ich habe doch ein tolles Immunsystem, da ist das gar nicht notwendig. Der Arzt hat gesagt, ich brauche gar keine Medikamente.“

Das ist natürlich alles Blödsinn. Aber ich habe nicht ganz verstanden, warum er die Therapiemöglichkeit ignorierte, und damit letztlich nicht nur sich selbst, sondern auch anderen schadet.

Wissen milderte den Schock ab

Wie hast du auf dein positives Ergebnis reagiert?

Wenn man so will, hatte ich das Glück, dass ich schon zwei Jahre als Ehrenamtler bei der Aidshilfe gearbeitet habe.

Ich weiß, dass ein positives Testergebnis heute kein Todesurteil mehr ist, dass es wirkungsvolle Therapien gibt und dass man damit gut leben kann.

„Mein Vertrauen war natürlich zerstört“

Unter anderen Umständen hätte mich das ganz bestimmt viel mehr aus der Bahn geworfen.

Seid ihr noch befreundet?

Mein Vertrauen zu ihm war natürlich war zerstört. Dieser Mann war ja nicht irgendein One-Night-Stand, sondern wir hatten zu diesem Zeitpunkt ja schon eine mehrmonatige Beziehung.

Diese ganze Geschichte hat – neben anderen Gründen – dann recht schnell zum Ende der Beziehung geführt. Und wir sind nicht einmal mehr befreundet.

Wenn mich jemand selbst bei solch wichtigen Dingen betrügt, wie kann ich ihm da bei anderen Sachen noch trauen?

Diese Frage hat man immer im Kopf, und dieses ständige Misstrauen ist keine Basis für eine Freundschaft.

„In einer Partnerschaft muss man ehrlich miteinander umgehen“

Hast du dir selbst den Vorwurf gemacht, ihm einfach naiv zu vertrauen, was seinen HIV-Status angeht?

Im Nachhinein weiß man immer alles besser. Wäre das nun irgendein Date gewesen, mit dem man sich zum Sex verabredet, dann hätte ich mir wirklich was vorzuwerfen.

Natürlich hätte ich auch ein Gummi nehmen können. Aber wo beginnt und endet Vertrauen in einer Beziehung?

„Am liebsten hätte ich ihm den Hals umgedreht“

Ich finde, in einer Partnerschaft muss man ehrlich miteinander umgehen, und das erwarte ich auch von meinem Partner.

Zumal er wusste, dass ich ehrenamtlich bei der Aidshilfe aktiv bin. Da hätte er eigentlich wissen müssen, dass ich auf einem guten Informationsstand bin, was HIV angeht. Ich hätte also damit umgehen können, wenn er mir seine HIV-Infektion offenbart hätte.

Was ist unmittelbar nach dem Testergebnis in dir vorgegangen?

Als ich zu einem Bestätigungstest gebeten wurde, ahnte ich schon, dass ich positiv bin. Ich konnte mich dann schon ein wenig innerlich darauf vorbereiten.

Zuerst war da ein Gefühl der Leere. Dann fing ich an zu überlegen: „Wem kann ich es sagen? Wem nicht?“

Dann dachte ich an die vielen Nebenwirkungen, die auf den Beipackzetteln der HIV-Medikamente gelistet sind. Werde ich die Tabletten gut vertragen? Ich kenne Positive, die sich mit Magen-Darm-Problemen herumschlagen müssen.

Wut, Hass, Unverständnis, aber keine HIV-Anzeige

Und wie waren deine Gefühle gegenüber deinem nunmehr Ex-Freund?

Das war eine Mischung aus Wut, Hass und Unverständnis. Am liebsten hätte ich ihm den Hals umgedreht.

„Er hatte Sorge, dass meine Infektion auf ihn zurückfällt“

Wütend machte mich dann vor allem, dass er versuchte, mich davon abzuhalten, anderen vom meinem Testergebnis zu erzählen. Er hatte allen Ernstes Sorge, dass es auf ihn zurückfällt: „Am Ende denken die Leute noch, ich habe es auch.“

Dazu fällt einem doch nichts mehr ein, oder? Ich habe dann natürlich gedacht: Wer weiß, wie viele von ihm schon infiziert wurden oder wie vielen nach mir es ähnlich ergehen könnte.

Hast du dich da in der moralischen Verantwortung gefühlt, ihn aufzuhalten?

Anfangs habe ich tatsächlich darüber nachgedacht. Ich habe mich dann aber auch gefragt: Gibt mir eine HIV-Anzeige irgendeine Art der Befriedigung? Will ich ihn zur Strafe im Knast sehen?

Doch ganz gleich, zu was ihn ein Richter verurteilen würde: Niemand kann, was passiert ist, ungeschehen machen kann. Was bringt es mir, wenn er zu Schmerzensgeld verklagt wird? Der wird mir das Geld nie zahlen können.

„Ich wünsche ihm, dass er zur Vernunft kommt“

Ich bin dann eigentlich sehr schnell von der Idee weggekommen, ihn anzuzeigen. Warum mir diese Arbeit machen, diesen Stress? Wozu führt es?

Weiß ich, wie die Richter den Fall entscheiden werden? Am Ende habe ich vielleicht noch Anwaltskosten zu zahlen. Vielleicht habe ich einen halben Tag lang die Genugtuung, dass er eine Strafe aufgebrummt bekommt hat. Aber ist es das wert?

Ich habe dann auch überlegt, ob ich allen sage, wer mich infiziert hat. Aber ist das wirklich ein Weg? Wenn ich Pech habe, werde ich wegen Verleumdung und üblicher Nachrede verklagt. Wer uns beide kennt, wird sich denken, dass ich mich bei ihm infiziert habe. Ich wünsche ihm, dass er zur Vernunft kommt.

Verständnis, wenn jemand den Weg der HIV-Anzeige geht

Wie bist du mit dem Testergebnis und der Lüge deines Partners umgegangen? Hast du die Sache allein mit dir ausgemacht?

Ich habe natürlich mit anderen darüber gesprochen, insbesondere mit Leuten in der Aidshilfe. Da hörte ich dann von Kollegen natürlich auch Sätze wie: „Du kannst doch nicht als Ehrenamtler einen Schwulen verklagen, von dem du dich hast ohne Gummi vögeln lassen!“

Das würde ich gelten lassen, wenn ich Sex mit jemandem gehabt hätte, den ich kaum oder gar nicht kenne. Aber hier war das doch etwas anderes.

Der mich infiziert hat, wusste schon seit fünf Jahren, dass er positiv ist und dass er das Virus weitergeben kann. Dieser Mann war kein One-Night-Stand, sondern mein Beziehungspartner, und er hat mich wissentlich angelogen.

„Diese Form der Genugtuung bringt mir nichts“

Kannst du nach deiner Erfahrung andere verstehen, die in einer vergleichbaren Situation sagen: „Ich zeige den Typen an, der mich infiziert hat“?

Ich kann das nachvollziehen. Man sollte sich aber wirklich überlegen, ob man sich das geben will. Ob es sich jemand leisten kann und die Energie hat, sich womöglich durch mehrere Instanzen zu klagen, um am Ende eine Verurteilung auf Bewährung zu erzielen.

Für mich war klar: Ich will das nicht. Diese Form der Genugtuung bringt mir nichts. Ich wollte mich zum Beispiel auch nicht den Vorwürfen anderer aussetzen müssen: „Wie kannst du den armen Kerl nur verklagen, der ist doch selber krank!“

Gab es etwas, das dir geholfen hat, diesen Hass und die Wut zu neutralisieren?

Ich hatte Glück, dass ich mich zufällig schon vor dem Testergebnis zu einem Seminar im Waldschlösschen angemeldet hatte, bei dem die Mehrheit der Teilnehmer selbst auch positiv war.

Dort hatte ich die Gelegenheit zu reden und musste nicht überlegen, wem kann ich sagen kann, dass ich positiv bin. Das hat viel geholfen: Zu reden und zu sehen, wie andere mit ihrer Therapie zurande kommen und mit ihrem Positivsein leben.

1 Kommentare

Rene 3. September 2020 10:23

Sehr taffe Frau. Interessante Person und interessante Denkweise.
Ich selbst wäre wahescheinlich den Weg der Anzeige gegangen, nicht aus finanziellen Gründen (wie sie bereots erwähnte, hätte hier sowieso niemand gezahlt), aber aus der Abschreckung heraus: Du hast Mist gebaut und hiernach wirst du es kein zweites Mal machen.
So ist er quasi „davon gekommen“.
Aber wer weiss, wie man handelt, wenn man selbst tatsächlich in der Situation ist.

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