Ausstellung

In die Mitte der deutschen Gesellschaft

Von Axel Schock
Plakat zur Ausstellung
Die große wie großartige Berliner Doppelausstellung „Homosexualität_en“ zelebriert ein breites Panorama zur queeren Geschichte und Gegenwart

Ein Porzellanservice, ein Elektroschockapparat, Wildlederschuhe und eine Herrenhandtasche: So manches derzeit im Deutschen Historischen Museum Berlin (DHM) gezeigte Objekt wird bei den Besuchern im ersten Moment zunächst Erstaunen und Irritation auslösen. Andere hingegen, wie Dildos und Mösenmobil, werden womöglich ein verschämtes Lächeln entlocken.

Welche Geschichten sich hinter diesen Ausstellungsstücken verbergen, verraten die entsprechenden Texttafeln. Und es sind sehr viele Geschichten, die in der üppigen Ausstellung erzählt werden. Rund 800 Exponate auf insgesamt fast 2.000 Quadratmetern – Fotografien und Dokumente, Videos, zeitgenössische wie historische Kunstwerke und Objekte – sind in dieser vom Schwulen Museum* Berlin initiierten und mitkuratierten Ausstellung zusammengetragen.

Eine Jahrhundertschau

zwei Soldaten halten Hand
Soldatenfreundschaft, um 1913 Foto: (c) Schwules Museum*

Es ist, das darf man mit Fug und Recht behaupten, eine Jahrhundertausstellung. Dort, wo sonst die großen Themen deutscher Geschichte verhandelt werden, wird nun die Geschichte der Homosexuellen in Deutschland und ihr Beitrag zur Zivilgesellschaft ausgebreitet, diskutiert und erlebbar gemacht. Dass sie nun just zu der mit dem Irland-Referendum neu entfachten Diskussion um die „Ehe für alle“ eröffnet wurde, ist ein Glücksfall.

Kulturstaatsministerin Monika Grüters sieht die Schau denn auch als einen „Beitrag zur Versachlichung der Debatte“ und als ein „Bekenntnis zur Pluralität der Lebensentwürfe“. Vor allem aber soll sie deutlich machen, dass Homosexualität und Homosexuelle einen nicht unwichtigen „Teil der deutschen Kulturgeschichte“ ausmachen, wie Isabel Pfeiffer-Poensgen von der mitfinanzierenden Kulturstiftung der Länder in einem Pressegespräch betonte.

Entsprechend hoch waren die an diese Ausstellung gestellten Erwartungen. Wie also 150 Jahre Geschichte, Kultur und Politik der Homosexualität in Deutschland breitenwirksam, vorurteilsfrei, modern und verständlich aufbereiten? Das Kuratorenteam hat sich für eine kaleidoskopartige Erzählweise entschieden und dies auch bereits mit dem Unterstrich (Gendergap) im Ausstellungstitel deutlich gemacht.

Die Homosexuellengeschichte ist auch deutsche Kulturgeschichte

Es gibt nicht nur die eine Homosexualität, wie es auch nicht nur zwei Geschlechter gibt. Dem vergleichsweise jungen Diskurs um die Gendertheorie und die Vielfalt geschlechtlicher Identitäten ist deshalb auch ein eigenes der insgesamt zehn Kapitel gewidmet.

Buchumschlag
Buch von Kurt Hiller „§ 175: Die Schmach des Jahrhunderts“ (1922), Dt. Historisches Museum, Berlin

Andere beschäftigen sich beispielsweise mit den Heldinnen und Helden der Homosexuellenbewegung und homoerotischen Darstellungen von der Antike bis zu Pin-Ups der 1970er-Jahre, während gleich im Entrée der Ausstellung in Videos Menschen von heute von ihren markanten Coming-out-Momenten berichten.

Im Kapitel „Vor Gericht“ ist nachzuerleben, wie sich die Strafgesetzgebung zur Homosexualität verändert hat und wie herausragende (Schau-)Prozesse – von Oscar Wilde über Philipp von Eulenburg bis Ernst Röhm – auch das öffentliche Bild von Schwulen und Lesben geprägt haben.

Und auf einer Weltkarte sind über 70 Länder markiert, in denen Menschen aufgrund ihrer Homosexualität weiterhin mit Strafverfolgung rechnen müssen. In einem Durchgang ist nachzuhören, wie Staats- und Kirchenmänner über Schwule und Lesben auch in jüngster Zeit noch hetzen und beharrlich an ihren Vorurteilen festhalten.

Verfolgung und Repression

In den drei Hauptlinien, die sich durch diese Ausstellung ziehen, wird die Geschichte der Homosexuellen in Deutschland mal aus der Sicht der Wissenschaft (und deren Pathologisierung von Homosexuellen), der Justiz (und damit der Kriminalisierung) und der Emanzipationsbewegung erzählt.

Es ist ein sehr buntes, aber zugleich klug strukturiertes Sammelsurium. Als Besucher sollte man einiges an Zeit mitbringen, am besten sogar die Ausstellung mehrfach besuchen. Denn zu entdecken gibt es viel. Manches ist reines Nerd-Wissen für Fortgeschrittene. Zugleich dürften Menschen, die sich bislang kaum oder gar nicht mit der Homosexuellengeschichte befasst haben, so manches Aha-Erlebnis haben.

Eine wahre Fundgrube, heimliches Highlight und Kernstück der Gesamtschau ist jedoch das Kapitel mit dem schönen Titel „Wildes Wissen“, in dem die Exponate wie provisorisch auf Gitterwänden drapiert sind. Hier drängt sich, alphabetisch unter Stichworten wie „ACT UP“, „PositHIV“ und „Krüppellesben“ über „Stasi“ und „Matrizen“ bis „Wigstöckel“ ein ganz eigenes Arsenal zur queeren, nicht nur Berliner Geschichte und zum schwullesbischen Alltagsleben.

Vielfalt queerer Alltags- und Bewegungsgeschichte

bemalte Toilettentür mit Loch
Tür mit „Glory Hole“ aus einer Berliner „Klappe“ © Schwules Museum*, Berlin

Gespeist aus dem schier unendlichen Archiv des Schwulen Museums und anderer Community-Sammlungen zeigen diese Schlaglichter die Bandbreite dessen, was die Geschichte der Homosexualität_en ebenfalls ausmacht und in dieser Ausstellung keine Erwähnung finden konnte. Sie zeigt darüber hinaus auch, wie bunt und vielfältig queere Geschichte ist und wie viel nicht nur zu sammeln, sondern auch zu erforschen und für die Menschen – schwulen, lesbischen, heterosexuellen und allen anderen – aufbereitet und erzählt werden müsste.

Neben einer mit Graffiti übersäten Klappentür samt Gloryhole finden sich unter das „Wilde Wissen“ sortiert Kuriosa wie ein blumenverziertes Essservice der Serie „Mariposa“ – die offizielle Siegprämie des DFB zur Frauen-Europameisterschaft 1989, aber auch die wesentlichen Ausstellungsexponate rund um HIV und Aids.

So etwa ein Infozettel der Berliner Charité von 1985 mit dem Titel „AIDS berührt unser Leben“, mit dem man gezielt junge Menschen über die HIV-Übertragungswege informierte: „Wissen hilft, Angst zu überwinden, ohne ängstlich zu werden“. Oder ein „Rundschreiben zum Dienstgebrauch“ des Rats des Stadtbezirks Leipzig, in dem das korrekte Vorgehen bei einem HIV-Verdacht festgelegt wurde: „Überweisung des Verdächtigen durch den erstbehandelnden Arzt an die nächstgelegene regionale Konsultationseinrichtung. Sofortige Unterrichtung der Staatlichen Hygieneinspektion des Ministeriums für Gesundheitswesen“.

Aidsaufklärung in der DDR

Auf einem Bildschirm sind Aufklärungsspots der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung von 1987 zu sehen, unter dem Stichwort „Cruisingpack“ ist eine beachtliche Sammlung von Safer-Sex-Materialien zusammengetragen. An einer anderen Wand erinnert ein Plakat von 1987 an die Münchner Demonstration gegen die bayrischen Aids-Zwangsmaßnahmen.

In seinen eigenen Räumen widmet sich das Schwule Museum* statt der Vergangenheit vor allem der zeitgenössischen Kunst und queeren Gegenwart Berlins. Die dort präsentierten Fotoserien, Videos, Installationen und anderen Kunstwerke unter anderem von Andy Warhol, Stefan Thiel und Mary Cobles kreisen allesamt um Geschlechteridentitäten, um Lust, Sex und Paarbeziehungen.

Nicht alle Arbeiten und Räume erschließen sich von selbst. Den einen werden diese Arbeiten im Idealfall zu eigenen Assoziationen anregen, andere wird die Auswahl beliebig erscheinen und schlicht kalt lassen. Rundum überzeugend ist dann aber der letzte Raum: ein stilisiertes Wohnzimmer mit reichlich Sitzgelegenheiten und Bildschirmen, auf denen Interviews mit Aktivist_innen der Berliner LGBT-Szene gezeigt werden.

Ausstellungsplakat
Das viel diskutierte Plakatmotiv von Heather Cassils und Robin Black – © Heather Cassils and Robin Black

Hier sind die „Homosexualität_en“ dann ganz im Hier und Jetzt angekommen und wagen, im Rahmen der Möglichkeiten, sogar einen Blick in die nahe Zukunft. „What’s next“ ist dieser Raum denn auch programmatisch überschrieben.

Aber auch das Ausstellungsprojekt selbst will in die Zukunft hineinwirken. Denn während DHM-Direktor Alexander Koch mit dieser Schau eine „Nische“ innerhalb der deutschen Geschichte beleuchtet sieht, bestätigt er ungewollt die Kritik der bisherigen offiziellen Geschichtsschreibung.

Viel zu oft, so Birgit Bosold vom Schwulen Museum, werden in kulturhistorischen Ausstellungen queere Bezüge, Aspekte und Details schlicht unterschlagen oder gar nicht erst mitgedacht. Nach „Homosexualität_en“ , so die Hoffnung, soll das nicht mehr so einfach möglich sein.

„Homosexualität_en“, bis 1. Dezember 2015 im Deutschen Historischen Museum, Unter den Linden 2 und im Schwulen Museum*, Lützowstraße 73.

Zur Ausstellung gibt es ein umfangreiches Begleitprogramm mit Vorträgen, Diskussionen und Filmvorführungen.
Zur Ausstellung ist ein Katalog im Sandstein Verlag erschienen.

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