„Ich habe mich sofort wie in einer Familie gefühlt“
Mit routinierten Bewegungen formt Ingrid Kenne Kugeln aus Hefeteig, die sie dann in einen Topf mit heißem Fett fallen lässt. Der Duft dieser leicht süßen, frisch frittierten Beignets mischt sich mit dem von schmorendem Gemüse, scharfen Zwiebeln und Gewürzen.
Seit morgens um acht bereiten sie und ihre beiden Helferinnen Gerichte vor. Jeden letzten Samstag im Monat nämlich lädt die Braunschweiger AIDS-Hilfe zu einem Afrikanischen Abend. Das klingt unspezifisch – und so ist es auch gedacht, erzählt Kerstin Göllner von der Braunschweiger AIDS-Hilfe. Es kommen Menschen aus ganz unterschiedlichen Ländern: Nigeria, Elfenbeinküste, Mali, Guinea, Kamerun, Liberia, Sudan, Simbabwe, Somalia, …
Vorbeikommen und afrikanische Küche genießen
Die Idee ist, einen Ort der Begegnung zu schaffen – für Menschen aus afrikanischen Ländern und ihre deutschen Freund_innen, für Menschen mit und ohne HIV. Die Botschaft lautet: Kommt einfach vorbei, es gibt afrikanisches Essen. Dabei wird aber immer auch über HIV und Aids gesprochen – zum Beispiel über Testmöglichkeiten. Das habe schon einige Besucher_innen motiviert, sich beim Gesundheitsamt testen zu lassen, berichtet Kerstin Göllner.
Es liegen Informationsbroschüren in Englisch und Französisch aus, im Eingangsbereich steht ein Korb mit Kondomen und Frauenkondomen zur kostenlose Mitnahme bereit. Externe Referent_innen sind eingeladen, die über Möglichkeiten zur Integration und das Gesundheitswesen in Deutschland informieren.
„Zu Anfang haben uns alle gesagt: Das wird nichts“
Kerstin Göllner wirft einen Blick auf die Uhr. Schon nach zwei. Sie sorgt sich, dass an diesem windigen, bewölkten Tag weniger Gäste kommen könnten als sonst. Bisher allerdings haben sich diese Zweifel jedes Mal als unbegründet erwiesen. „Zu Anfang haben uns alle gesagt: Das wird nichts. Afrikaner trauen sich nicht in die Aidshilfe“, erzählt die Sozialpädagogin. Und doch ist es dem Team gelungen, einen Ort zu schaffen, an dem Menschen mit und ohne HIV zusammenkommen. Ohne Multiplikator_innen aus der afrikanischen Community würde das aber nicht funktionierten. Auf die Frage, wie sie von den Treffen erfuhren, haben die meisten Besucher_innen eine kurze Antwort parat: „Von Ingrid.“
Mit Menschen ins Gespräch kommen
Die 33-Jährige trägt ein gemustertes leuchtend orangefarbenes Kleid, große Creolen-Ohrringe und ein strahlendes Lachen. Sie steht am Herd in der offenen Küche, legt die frischen Hefeteigkugeln auf eine Platte und sagt auf Französisch an, was als nächstes zu tun ist.
„Die meisten Leute haben nicht so viele Informationen“
Die Aidshilfe lernte Ingrid Kenne eher zufällig kennen. Vor mehr als zehn Jahren kam sie aus Kamerun nach Deutschland. Sie studiert soziale Arbeit und begleitet schon länger Menschen im Asylverfahren. Eines Tages vertraute sich ihr eine HIV-positive Frau an, mit der sie daraufhin zum Arzt und zur Braunschweiger AIDS-Hilfe ging. Sie begann, sich dort zu engagieren, weil sie gemerkt hat: „Die meisten Leute haben nicht so viele Informationen.“
In der Küche wird es langsam turbulenter, Platten füllen sich mit Salat und Gemüse. Besonders verlockend erscheint der Haufen aus frittierten Kochbananen, der schon etwas geschrumpft ist. Denn alle, die vorbeilaufen, stibitzen ein Stückchen. Zwei kleine Kinder von anderthalb Jahren tapsen durch den großen Raum und zwischen den Beinen der Köchinnen umher.
„Was hast du denn mit deinen Haaren gemacht“, fragt eine Frau lachend, als sie hereinkommt. „Nächstes Mal färbe ich sie blau“, sagt Ingrid Kenne, deren kurze Locken kupferfarben leuchten, und lacht. Sie schildert, wie sie mit Menschen ins Gespräch kommt. Morgens zum Beispiel, wenn sie ihren Sohn zur Schule bringt, kommt sie an der niedersächsischen Landesaufnahmebehörde vorbei und erzählt dort von den Afrikanischen Abenden.
Kein Aids für alle – bis 2020!
Finanziert wird das Projekt im Rahmen der Kampagne „Kein Aids für alle!“ der Deutschen AIDS-Hilfe. Ziel ist, dass ab dem Jahr 2020 in Deutschland niemand mehr an Aids erkranken muss. Eine rechtzeitige HIV-Behandlung verhindert den Ausbruch der Krankheit Aids. Dafür muss die Infektion zunächst erkannt werden. Viele Menschen jedoch scheuen den HIV-Test – aus Angst nach einer positiven Diagnose ausgegrenzt und angefeindet zu werden.
Laut dem Robert-Koch-Institut werden etwa ein Drittel der HIV-Neudiagnosen in Deutschland bei Migrant_innen gestellt, darunter sind viele Menschen aus den Ländern Subsahara-Afrikas. Unter ihnen ist auch der Anteil derer besonders hoch, die erst spät von ihrer Infektion erfahren.
„Sie dachte, sie dürfe niemanden mehr berühren“
Teil des Problems sind unter anderem Tabuisierung und Stigmatisierung von HIV und Aids in afrikanischen Communitys. Theresa Chuma* weiß das aus eigener Erfahrung. Vor zwei Jahren kam die 63-Jährige aus Simbabwe nach Deutschland – geflohen vor der gefährlichen Situation in ihrer eigenen Familie. „Mein Sohn hat mich bedroht. Er wollte mich umbringen“, erzählt die zierliche, elegante Frau, die im Garten der Aidshilfe an einem Tisch sitzt.
Viele Fragen, viele Informationen
Vor einem Jahr erst hat sie erfahren, dass sie HIV-positiv ist. Sie vermutet aber, dass sie sich schon vor langer Zeit infiziert hat. Die Diagnose war ein Schock. „Ich wusste nichts darüber“, erzählt sie. Die Unsicherheit war groß – auch in ihrer Umgebung. Ihre Cousine, mit der sie nach Deutschland gekommen ist, habe ihr sogar verboten, ihre Sachen anzufassen. Sie habe gedacht, sie dürfe niemanden mehr berühren, berichtet Kerstin Göllner vom ersten Treffen mit Theresa Chuma. „Wir haben ihr einen Kuss auf die Wange gegeben, um zu zeigen: Du bist keine Gefahr!“
Auch Kouami Doukoure* erzählt, er habe bei den Treffen viel gelernt. „Man bekommt sehr viele Informationen, wie man sich schützen und wie man mit HIV leben kann“, erzählt der 26-Jährige mit rotem Basecap, Jackett und dünnem Goldkettchen. Was er vorher zum Beispiel noch nicht wusste: dass Menschen mit HIV Kinder bekommen können, ohne das Virus weiterzugeben. „Ich stelle viele Fragen“, sagt Kouami Doukoure. Das hat einen bestimmten Grund. Ein enger Freund von ihm ist HIV-positiv. Das habe ihn anfangs verunsichert, sagt er, denn er sei jemand, der gerne mit Menschen in Kontakt ist und viel kommuniziert. Immer wieder albert er mit den Kindern herum. Die Stimmung ist herzlich, Berührungsängste scheint es nicht zu geben.
Einander kennenlernen
Immer mehr Gäste treffen ein, tragen Tabletts mit Fleischbällchen, Spießen und eine mit Schüssel mit Fischen hinaus. Der 34-jährige Amadou Cissé* steht mit anderen jungen Männern am Grill. Er komme eigentlich jedes Mal. „Bei den Abenden kann man einander kennenlernen“, sagt er. „Ich habe mich sofort wie in einer Familie gefühlt“, erzählt auch Murielle Kouassi*, die seit drei Jahren in Deutschland lebt. Es sei schön, dass man bei den Abenden auch Deutsche treffe.
„Wir wollen die Augen nicht vor HIV und Aids verschließen“
Jedes Mal werden Gerichte aus anderen afrikanischen Ländern gekocht, an diesem Abend vor allem Spezialitäten von der Elfenbeinküste, berichtet Aminata Bouabre*. „Ich habe hier auch die Küche aus Sambia und Kamerun kennengelernt“, erzählt sie. Das afrikanische Essen ist zentraler Bestandteil der Feste. „Man hat nicht so viele Gelegenheiten, solche Gerichte zu essen“, erklärt Kouami Doukoure. Zutaten für afrikanische Rezepte sind teuer.
Zur offiziellen Eröffnung des Fests bilden alle einen Kreis. Kerstin Göllner ermutigt zur Begrüßung alle Gäste, mit Fragen zu ihr zu kommen. „Wir wollen die Augen nicht vor HIV und Aids verschließen “, betont sie.
Nach dem Essen beginnen die Trommler. Ein kleiner Junge läuft zu den Musikern und haut auf die Trommel, die so groß ist wie er. Getanzt wird, bis ein Nachbar am Gartentor anfängt zu zetern: „Das ist ja ein Krach!“ So wird das Fest kurzerhand nach drinnen verlegt, wo ein paar Frauen Kleider aus traditionellen Stoffen vorführen. Zwar behauptet der Nachbar: „Wir sind hier nicht in Afrika.“ Doch man hat den Eindruck: An diesem Abend irrt er gewaltig.
Von Inga Dreyer
*Namen von der Redaktion geändert
Mehr zur Kampagne „Kein Aids für alle!“ auf kein-aids-fuer-alle.de
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