„Kinder werden oft unterschätzt“
Dieser Beitrag erschien zuerst im HIV-Magazin hello gorgeous. Herzlichen Dank an Herausgeber und Autor Leo Schenk und Fotograf Eelk Colmjon für die Erlaubnis zur Veröffentlichung. Übersetzung: Alexandra Kleijn
Für die oberste Klasse der Grundschule „De Vlinder“ (der Schmetterling) im niederländischen Heemskerk ist es die letzte Unterrichtsstunde des Tages. Die Schüler_innen setzen sich in einen Kreis, um an der Präsentation von Hennie Swain (63) und ihrer Tochter Sammie (25) teilzunehmen. Die beiden sind von der Arbeitsgruppe „HIV und Vorurteile“ und wurden für diesen Nachmittag von der Schule eingeladen.
Die erste Frage an die Klasse lautet, ob denn jemand wisse, was HIV sei. Niemand hebt die Hand. „Und Aids?“ fragt Sammie. Jetzt gehen gleich mehrere Hände hoch. Nach einer Erklärung der Begriffe an der Weißwandtafel übernimmt Hennie und spricht mit den Kindern über Vorurteile. Danach lernen sie, wie das Virus das Immunsystem lahmlegt und wie Medikamente das Virus bremsen können.
Die Kinder müssen raten, wer HIV-positiv ist
Am Ende des Vortrags erzählen Mutter und Tochter, wie man sich mit HIV infizieren, aber auch, wie man sich davor schützen kann. Die letzte Folie der Präsentation zeigt ehrenamtliche Mitglieder der Arbeitsgruppe, und die Kinder müssen raten, wer von ihnen HIV-positiv ist. Keines zeigt auf die richtige Person.
Die 2002 ins Leben gerufene Arbeitsgruppe hält pro Jahr rund 30 solcher Vorträge an Grundschulen in der Region Haarlem. Die Idee dazu entstand nach einer Reise nach Singapur. „Ich war mit meinen zwei Töchtern dort, um eine Freundin zu besuchen“, erzählt Hennie. „Als wir mit ihr auf einen Markt gingen, sah sie eine Bekannte. Die Frau erschrak sichtbar, als sie uns sah, und rannte davon. Ich fragte meine Freundin, was los sei, und sie sagte: ‚Sie arbeitet mit Aidskranken im Endstadium und hat Angst, dass ihr das erfahrt und es weitererzählt.‘ Ich fiel aus allen Wolken, als ich das hörte.“
„Wenn du die Welt verändern willst, fang bei dir selbst an“
Wieder zu Hause, beschloss Hennie, dass sie etwas unternehmen wollte – frei nach dem Prinzip „Wenn du die Welt verändern willst, fang bei dir selbst an“. „Ich kannte zwar niemanden mit HIV oder Aids, aber das Thema hatte mich immer schon fasziniert. Ich hielt es für eine schreckliche Krankheit und wollte etwas gegen die Vorurteile tun, mit denen viele HIV-Infizierte konfrontiert werden.“ Hennie dachte auch gleich an ihre Tochter Sammie, die damals elf Jahre alt war. „Kinder in dem Alter stehen am Anfang der Pubertät. Sie entdecken die Sexualität, wissen aber noch wenig damit anzufangen.“
Von einer HIV-Beraterin bekam Hennie den Namen eines Mannes, der gerade erfahren hatte, dass er HIV-positiv ist. Sie nahm Kontakt zu ihm auf, und so kam Wynand Inkelaar (57) als einer der ersten zur Arbeitsgruppe. „Als Hennie mich fragte, ob ich mich engagieren wolle, brauchte ich nicht lange zu überlegen. Ich war nicht gerade glücklich mit meiner HIV-Diagnose, sie war ein ziemlicher Schlag ins Gesicht. Jetzt kann ich als Betroffener Jugendliche aufklären, das war genau der richtige Schritt für mich“, so Wynand.
„Jetzt kann ich als Betroffener Jugendliche aufklären“
Die frisch gegründete Arbeitsgruppe (AG) sammelte Informationsmaterial und versuchte, Kontakt zum niederländischen Aidsfonds und zur Hiv Vereniging Nederland aufzunehmen. Diese reagierten jedoch nicht. Auch mit dem Gesundheitsamt klappte es nicht ─ es sah die AG „eher als Fluch denn als Segen“. „Letztendlich mussten wir alles selber machen, und das hat super geklappt“, sagt Wynand.
In der AG engagieren sich derzeit 14 Ehrenamtliche. Die Vorträge an den Schulen machen sie jeweils zu zweit. Es gibt regelmäßige Trainings. „In unserer Gruppe sind drei Leute mit HIV. Sie halten uns über neue Entwicklungen auf dem Laufenden“, sagt Sammie, die seit ihrem 15. Lebensjahr Vorträge hält.
Bevor neue Ehrenamtliche in die Schulen gehen dürfen, absolvieren sie zwei Trainings, die der Vorstand durchführt. Danach müssen sie bei mindestens zwei Vorträgen anderer AG-Mitglieder hospitieren, bevor sie gemeinsam mit einem erfahrenen Mitglied ihren ersten Vortrag in einer Klasse halten dürfen. „Das machen wir so lange, bis wir das Gefühl haben, dass sie jetzt wissen, wie es geht. Die Qualität unserer Präsentationen ist uns sehr wichtig“, so Sammie.
Die Anwesenheit HIV-Positiver schafft eine besondere Atmosphäre
Im Idealfall gibt es je eine Präsentation von einem HIV-positiven und einem HIV-negativen AG-Mitglied. Das klappt aber oft nicht, weil es in der Arbeitsgruppe nicht genug Menschen mit HIV gibt. „Auch wenn es die Nichtinfizierten super machen, ist es doch anders, wenn jemand kein HIV hat“, erklärt Wynand. „Wenn die Jugendlichen jemanden sehen, der mit HIV lebt, schafft das gleich eine besondere Atmosphäre. Das bringt HIV ganz nah, und die Kinder sind einfach neugierig. So erleben es auch die beiden anderen HIV-Positiven in der Gruppe, ein heterosexuelles Paar mit einem Kind, das kein HIV hat. Wenn die beiden ihre Geschichte erzählen, hören alle gebannt zu.“
Die Klasse in der Grundschule „De Vlinder“ zeigt sich sehr interessiert, und die beiden Vortragenden können viele offene Fragen stellen, die von den Kindern beantwortet werden. „Wir halten diesen Vortrag auch an einer Schule für Kinder mit Lernschwierigkeiten. Dort stellen wir aber eher geschlossene Fragen“, erläutert Hennie. „Bei der Klasse hatte ich das Gefühl, ich müsste betonen, dass Sex auch Spaß machen kann“, ergänzt Sammie. „Du kannst durch Sex krank werden, aber du kannst ihn auch genießen.“
„Ich möchte deutlich machen, dass man trotz HIV gut leben kann“
Wynand erzählt, dass er durch solche Vorträgen immer einen Energieschub bekommt. Das kommt vor allem durch die Interaktion mit den „jungen Menschen“, wie er die Kinder lieber nennt. Was möchte er mit dem Erzählen seiner Geschichte erreichen? „Ich möchte deutlich machen, wie man eine HIV-Infektion vermeiden kann, aber auch, dass man trotz HIV gut leben kann, auch wenn man das Virus den Rest seines Lebens hat. Es geht mir nicht um Mitleid, höchstens um Empathie. Vorwürfe und Anschuldigungen sind schnell bei der Hand, wenn es um HIV geht, und dadurch entstehen viele Vorurteile. Ich erzähle dann zum Beispiel, dass es Leute gibt, die für ihre HIV-Therapie von Groningen nach Haarlem fahren, weil sie Angst haben, dass es am Wohnort jemand erfahren könnte.“
Die Arbeitsgruppe möchte den Kindern keinesfalls eine bestimmte Meinung aufzwingen oder unbedingt politisch korrekt sein. „Kinder können sehr wohl erwachsene Antworten geben. Wenn du fragst, wer einmal Kondome benutzen wird, heben drei Viertel die Hand, weil sie wissen, dass das die erwünschte Antwort ist. Aber darum geht es uns nicht. Wir geben ihnen Informationen, damit sie ihre eigenen Entscheidungen treffen können, wenn Sex ein Thema wird“, so Wynand. „Wenn wir uns bei einer Schule melden, werden wir oft gefragt, ob die Kinder dafür nicht zu jung seien. Kinder werden häufig unterschätzt. Sie können die Bedeutung eines Themas sehr gut beurteilen.“
Schulen mit vielen ausländischen Schüler_innen meiden das Thema HIV
Es kommt auch vor, dass Schulen selbst bei der AG anfragen. Aber manche Türen bleiben verschlossen. So meiden zum Beispiel Schulen mit einem hohen Anteil ausländischer Schüler_innen das Thema. „Von den Dozent_innen kommt häufig der Vorwand, dass die Eltern es nicht wollen“, berichtet Hennie. „Es geht ja um Sex, und das ist für viele ein Problem. Wir reden zwar nicht über bestimmte Positionen oder dergleichen. Aber in manchen Kulturen ist es einfach nicht üblich, über Sex zu reden.“
Hennie möchte die AG-Leitung in ein paar Jahren an ihre Tochter abgeben. Sammie ist dazu bereit. „Ich mache das jetzt schon seit zehn Jahren, und jedes Mal ist es anders. Es gibt immer wieder andere Reaktionen, und Sex ist nach wie vor ein Tabuthema. Wir erzählen den Schüler_innen, dass Sex etwas ganz Normales ist, und regen sie dadurch zum Nachdenken an.“
Diesen Beitrag teilen