Wie können Linke mit der Pandemie und der Corona-Politik umgehen?
Staat und Pharmakonzerne werden in der Pandemie mächtiger, „Querdenker*innen“ protestieren. Doch wie sieht eine linke Antwort auf die Missstände in der Corona-Krise aus?
Von Andreas Wulf
In der Corona-Krise wird der Staat mächtiger denn je. Mit Verblüffung stellten wir Linken fest, dass auf einmal die scheinbar ehernen neoliberalen Grundfesten nicht nur ins Wanken gerieten, sondern geradezu über Bord geworfen werden. Die Schuldenbremse ist ad ultimo ausgesetzt, milliardenschwere Stützungsprogramme werden aufgestellt für die schwächelnden Wirtschaftssektoren. Sogar zum strategischen Einkauf in „systemrelevante“ Unternehmen – bei der Lufthansa und beim Pharmaunternehmen Curevac – ist der Staat bereit. Die globalisierten Produktions- und Lieferketten sind in ihrer Dysfunktionalität während einer globalen Krise enttarnt.
Als wäre es ein Lehrstück von Carl Schmitt: Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet. Es regiert das Corona-Kabinett und die Runde der Kanzlerin mit den Ministerpräsident*innen. Der Gesundheitsminister steigt zum Vizekanzler auf. Das Infektionsschutzgesetz, zuvor kaum bekannt und höchstens angewendet in kleinem Maßstab der Eindämmung lokaler Infektionsausbrüche, wird zum Instrument des Lockdowns öffentlicher Einrichtungen und privater Unternehmen. Es steht zudem für einen nie dagewesenen Eingriff in zentrale Freiheitsrechte der bürgerlichen Demokratie: Flächendeckende Verbote der öffentlichen Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit, strafbewehrte Regeln, wer sich mit wem auch im privaten Raum noch treffen darf, selbst Ausgangssperren als Ultima Ratio können angeordnet werden. Die Parlamente sind auf eine Rumpfgröße geschrumpft und vom Tempo der Entwicklung vollständig überfordert, Verordnungen der Exekutive ersetzen die etablierten Gesetzgebungsverfahren.
Was in einer Zeit der Debatte von Notstandsgesetzen in den 60er-Jahren zu massiven Mobilisierungen der Linken gegen diese autoritären Zumutungen führte, die damals nur „präventiv“ in Gesetze gegossen wurden, wird jetzt im Zuge des befürchteten Massensterbens und der Überforderung des Gesundheitswesens zu einer notwendigen „Zumutung“, der wir uns alle gemeinsam stellen.
In der neuen Normalität ist noch wenig klar, ob sich progressive Forderungen – z. B. nach der Stärkung der „systemrelevanten Berufe“ in Gesundheit und Pflege sowie nach einer Begrenzung der Privatisierungstendenzen in öffentlichen Schlüsselsektoren wie Krankenhäusern und in Forschung und Entwicklung von lebenswichtigen Gütern wie Impfstoffen und Medikamenten – durchsetzen lassen. Oder ob sich der Trend vor allem zur Vertiefung von Überwachungs- und Kontrollfunktionen über gesundheitlich definierte Risikobereiche und Risiko-Verhalten verstetigt. Denn nach der Pandemie ist vor der Pandemie. Vor einer solchen „Versicherheitlichung“ der Gesundheitspolitik haben kritische Stimmen bislang vor allem auf globaler Ebene und mit Bezug auf Epidemien im globalen Süden und ihrer Eindämmung gewarnt[1], nun erfasst es ganz konkret unsere eigenen Lebensräume des Globalen Nordens.
Es macht sich Unbehagen breit. Dass dieses sich vor allem in Querdenker-Demos mit ihrem unerwartet erfolgreichen „Querfront-Mobilisierungen“ äußert, ist ein echtes Dilemma für eine emanzipatorische Linke, für die die Kritik staatlichen Überwachungs- und Kontrollhandelns konstitutiv war und ist.
Wie lässt sich also die Kritik an überbordender Kontrolle in Pandemiezeiten führen, ohne im Gefolge des Obskurantismus der Hobby-Virolog*innen, der Gates-Verschwörungen und Impfgegner*innen zu landen?
Die Aids-Rebellen
Ein Blick zurück hilft manchmal mehr als eine detaillierte Gegenwartsanalyse mit Interessenskonflikten bei der Weltgesundheitsorganisation, dem Streit der Virolog*innen um das richtige Maß des Lockdowns und die Eitelkeiten der Ministerpräsident*innen mit möglichst radikalen Lösungen als bester Landesvater oder Landesmutter dazustehen.
Überraschende Ähnlichkeiten zu den heutigen Debatten lassen sich nämlich bei der damals neu auftauchenden Aids-Epidemie in den 80er- und 90er-Jahre finden. Auch hier wurden besonders in den Anfangsjahren die Fragen um das HI-Virus und seine Folgen nicht weniger heftig ausgetragen als heute die Coronavirus-Debatten. Damals mit deutlich geringeren Folgen auf das Alltagsleben der großen Mehrheit der Bevölkerung in Europa und Nordamerika, wo die Epidemie zuerst in den Minderheiten der schwulen Männer, Sexarbeiter*innen, Drogengebraucher*innen und Hämophilie-Kranken sichtbar wurde.
Die Fragen nach dem Ursprung des Virus, nach seiner Übertragbarkeit und auch nach seiner tatsächlichen Gefährlichkeit waren längst nicht unumstritten, sondern führten ganz genau wie bei Covid-19 zu heftigen Kontroversen. Neben dem schließlich geklärten Ursprung des Virus im tropischen Afrika (HIV ist eine klassische „Zoonose“ mit Ursprung in Menschenaffen, die sich erst über die zunehmende globale Mobilität der Menschen ab Ende der 70er-Jahre verbreitete) waren lange auch Vermutungen im Umlauf, HIV sei in einem geheimen Forschungslabor der US-Armee entstanden und von dort wissentlich oder versehentlich in Umlauf gekommen. Eine klassische Verschwörungsthese also, die, wie man heute weiß, auch vom russischen Geheimdienst mit in den Umlauf gebracht wurde[2] und die jetzt für das SARS-CoV-2-Virus eine chinesische Parallele in Wuhan bekommen hat.
Auch die ursächliche Wirkung des Virus bei der Immunschwäche der an Aids erkrankten Menschen wurde noch viele Jahre infrage gestellt[3]. Wahlweise waren es die vielen Drogen, der viele Sex, die anfänglichen, unzureichenden Therapieversuche mit antiviralen Medikamenten, die Unterernährung der Armen in Afrika oder gar allein die Furcht vor der Infektion, die das Immunsystem der Kranken zusammenbrechen ließen. Auch damals gab es „mundtot gemachte Wissenschaftler*innen“, die die Forschungsergebnisse der Mainstream-Wissenschaft anzweifelten und unbeirrt den Verdacht verbreiteten, dass in erster Linie (Pharma)-Profitinteressen hinter den Tests und den Medikamenten stünden. Aids-Aktivist*innen protestierten zugleich dagegen, dass gerade die moralische Verurteilung von Homosexualität und Drogengebrauch die Finanzierung von Forschung an Therapien und Impfungen gegen HIV behinderte. Auch der Zugang zu den Behandlungen musste gegen den Widerstand vor allem der US-Regierung durchgesetzt werden.
Das extremste Beispiel der fatalen Wirkungen solcher obskuren und selbst von Interessen geleiteten „Aids-Mythen“ spielte sich dann Anfang der 2000er-Jahre in Südafrika ab: Der deutsche Arzt und Vitaminverkäufer Dr. Rath wurde zum faktischen Chefberater des Präsidenten Thabo Mbeki und seiner Gesundheitsministerin Manto Tshabalala-Msimang. Diese Politik verhinderte für mehrere Jahre den Start eines wirksamen Medikamentenprogramms im Land mit dem weltweit höchsten Anteil von HIV-positiven Menschen – was nach Schätzungen der lokalen Aids-Aktivist*innen der Treatment Action Campaign mehrere hunderttausend Südafrikaner*innen das Leben kostete[4].
Mit den Menschen, nicht gegen sie
Auch zur „Masken-Debatte“ und dem aktuellen Kampf gegen illegale „Corona-Partys“ gibt es eine erstaunliche Parallele in den schwulen Debatten um die Kondomisierung des Sexes und den Versuchen, Orte schwuler Promiskuität wie Saunen, Darkrooms und Sexpartys zu schließen, bei denen sich besonders die bayrische Landesregierung unter Peter Gauweiler hervortat. Dies wurde einhellig von wichtigen Aids-Aktivist*innen als Versuch des medizinisch-gesellschaftlichen Establishments zur Wieder-Einhegung der gerade gewonnenen sexuellen und moralischen Freiheit verstanden.
Eine wichtige Erkenntnis aus diesen Aspekten der Aids-Pandemie war aus emanzipatorischer Perspektive, dass es absolut notwendig ist, neben der klassischen aufklärerischen Haltung des „richtigen Wissens und Handelns“, das durchgesetzt werden soll, eine konsequent subjektorientierte und solidarische Haltung zu entwickeln. Eine Haltung, die die Menschen nicht als Objekt einer (sei es autoritär-drohenden oder auch verantwortlich-fürsorglichen) top-down Belehrung und Kontrolle versteht, sondern sie in ihren oft auch widersprüchlichen Bedürfnissen und Haltungen ernstnimmt und sie partizipativ in die Bewältigung der Krise einbezieht.
Geprägt wurde in diesem Zusammenhang auch der Begriff der „strukturellen Prävention“[5]. Das Mitbedenken von Erfahrungen und Praxen von Diskriminierung, sozialer Ausgrenzung und „Unsichtbarmachung“ ist dabei entscheidendes Ziel der „neuen Public Health Konzepte“. Denn nur dann lassen sich die entscheidenden Ressourcen des „Vertrauens“, der „Selbstermächtigung“ und der „Community-Antwort“ mobilisieren, die den Unterschied machen zwischen gelingender oder scheitender Bewältigung einer Infektionskrankheit.
Dies gilt nicht nur in der Frage, wie sich Schulen, Kitas, Altersheime, Arbeitsstätten organisieren und wie sie dabei unterstützt werden können, den bestmöglichen Infektionsschutz zu realisieren. Einheitliche Regeln aus dem Kultusministerium oder der Ministerpräsident*innenrunde erscheinen dabei weniger hilfreich als eine konsequente lokale Verankerung der Entscheidungen – und ggf. auch deren Durchsetzung durch behördliche Überprüfungen, wie bei den Ausbrüchen in Altersheimen, Schlachthöfen und bei Erntehelfer*innen zu sehen ist.
Koalition der Schmuddelkinder
Eine zweite entscheidende Haltung ist die der konsequenten Solidarität mit allen Betroffenen der Pandemie. Für die Aids-Bewegung war dies der gemeinsame Kampf der „Koalition der Schmuddelkinder“, die nicht nur prominente, selbstbewusste Schwule und Lesben in Paarbeziehungen, sondern auch die Bedürfnisse und Lebensweisen der Nutzer einer promisken Subkultur und Drogenkonsument*innen einschloss. Die Verfügbarkeit von sauberen Spritzen und Substitutionstherapie in den Knästen wurde zum wichtigen Instrument zur Reduzierung der HIV-Ansteckungsraten – und ermöglichte zugleich eine Kritik am repressiven Gefängnissystem.
Die globale Solidarität für den Zugang zur erfolgreichen Kombinationstherapie, die ab Mitte der 90er-Jahre verfügbar wurde, brachte das profitable Patentregime der Pharmaproduktion in den Fokus der Kritik. Die Erfolge bei der Durchsetzung und Verfügbarmachung kostengünstiger Medikamentenkopien (Generika) für inzwischen über 25 Millionen Menschen in aller Welt kann als großer Sieg der (bislang) erfolgreichsten globalen Gesundheitsbewegung des 21. Jahrhunderts gelten.
Diese Solidarität ist auch ein wesentlicher Punkt, an dem sich die Kritik an Corona-Maßnahmen scheidet. Eine Corona-„Schweige-Demonstration“ gegen vermeintliche Denk- und Redeverbote, die darüber schweigt, dass die Pandemie gerade die sozial Marginalisierten ohne Homeoffice und Homeschooling-Option besonders trifft, die nicht vom Skandal der fortgesetzten Massenunterbringung (und damit Massengefährdung) von Geflüchteten und Leiharbeiter*innen spricht, obwohl die Hotels leer stehen, kann kein Ort einer emanzipatorischen Politik sein – selbst wenn sie sich von ihren rechtsradikalen Mitläufer*innen und Mitorganisator*innen distanzieren würde.
An dieser solidarischen Haltung trennt sich eine progressive Kritik von einer Kritik der Profitinteressen der Pharmaindustrie, die sich einseitig nur aus der eigenen Skepsis gegen Impfstoffe oder Medikamente speist. Denn, das kapitalistisch organisierte Forschungs- und Entwicklungsmodell privatisiert das notwendige Wissen und die Produktionskapazitäten für global wichtige Güter wie die aktuellen Covid-19-Vakzinen mit geistigen Eigentumsrechten (Patenten, Lizenzen, Markenzeichen, Datenschutz usw.) und verwandelt es in eine möglichst profitable Ware. Eine Ware, die für die ausgebeuteten und armgehaltenen Länder und Menschen der Welt nur als karitative Geschenke zur Verfügung stehen wird.
Denunziantentum und Solidarität
Schließlich ist Solidarität auch erforderlich zur Verteidigung der Freiheitsrechte gegenüber dem immer tiefer in unsere privaten und gemeinschaftlichen Freiräume eindringenden Staat. Statt sich, wie Querdenker*innen es mehrheitlich tun, mit pseudo-radikaler Verweigerungsgeste gegen die vermeintliche Zumutung des Maskentragens und des Abstandsgebotes zur Wehr zu setzen, gilt es, die Zumutungen eines Denunziantentums zurückzuweisen, das die Nachbarn anzeigt, weil dort vermeintlich illegales Treiben stattfindet.
Es gilt, gemeinsam eine solidarische Praxis zu entwickeln, die gerade die besonders von der Pandemie Betroffenen nicht alleine lässt; die die Geflüchteten in den Gemeinschaftsunterkünften bei ihrem Kampf um bessere, dezentrale Unterbringung unterstützt; die für die Aufnahme derjenigen, die noch in den Lagern an den Außengrenzen Europas unter erbärmlichen Bedingungen ausharren, kämpft. Die soziale Nähe zu den alten Verwandten hält und der Vereinsamung in den Heimen aktiv etwas entgegensetzt. Die auch die Wahlverwandtschaften der Familienlosen anerkennt, für die nicht das Weihnachtsfest im Familienkreis, sondern die Party im Freund*innenkreis zur sozialen Existenzbedingung zählt.
Solidarität heißt ebenso eine konsequente Unterstützung der Arbeitskämpfe im Gesundheitswesen, die vor allem Pflegekräfte nicht erst seit der Pandemie führen. Diese stehen durch die zunehmende Privatisierungstendenzen und „Effizienzsteigerung“ eines immer stärker die Pflege-Personalkosten einsparenden Fallpauschalen-Finanzierungssystems auch in den öffentlichen Krankenhäusern schon vor Covid-19 massiv unter Druck. Sie fordern keine Einmalgeschenke, sondern gute Lohn- und Arbeitsbedingungen und eine gesetzlich festgelegte Mindestpersonalausstattung, die ihnen gute und sichere Arbeit für sich und die Patient*innen ermöglicht[6]. Dies scheint aktuell der erste entscheidende Hebel sein, mit dem sich beim Kampf um eine echte gemeinnützig basierte soziale Infrastruktur für Gesundheit[7] etwas bewegen lässt. Über einen Verdi-Tarifabschluss hinaus hören die Beschäftigten in den Krankenhäusern nicht auf, dafür zu kämpfen – aktuell z. B. im niedersächsischen Seesen gegen den Asklepios-Konzern asklepios.verdi.de.
Mit solchen schon alltäglich geschehenden Konkretionen solidarischen Handelns in der Krise können linke Antworten auf die Pandemie deutlich werden – zusätzlich zu der notwendigen Kritik an den Querdenker*innen in ihren bürgerlichen, „alternativen“ und rechten Gestalten.
Dieser Text ist ein Vorabdruck aus dem Buch „Fehlender Mindestabstand. Die Coronakrise und das Netzwerk der Demokratiefeinde“, herausgegeben von Heike Kleffner und Matthias Meisner. Es wird im April 2021 bei Herder erscheinen. Der Text ist in veränderter Form auch im Freitag online (freitag.de/autoren/der-freitag/das-linke-unbehagen-in-der-corona-krise), im medico-Blog (medico.de/blog/das-unbehagen-in-der-krise-18048) und im links-netz (wp.links-netz.de/?p=473) erschienen.
Andreas Wulf ist Arzt und arbeitet seit 22 Jahren bei medico international, aktuell als Berlin-Repräsentant und Referent für globale Gesundheit. Er ist seit 2007 im Vorstand des Vereins Demokratischer Ärztinnen und Ärzte aktiv.
Referenzen:
[1] Anne Roemer-Mahler, Collin McInnes: From security to risk: Reframing global health threats, academic.oup.com/ia/article/93/6/1313/4568585
[2] tagesspiegel.de/wissen/wie-die-stasi-aids-als-propagandawaffe-nutzte-die-geburt-einer-verschwoerungstheorie/11229912.html
[3] Monica Sillny: AIDS Denialism. How To Legitimize a Conspiracy, forbes5.pitt.edu/article/aids-denialism
[4] Nicoli Nattrass: AIDS, Science and Governance: The battle Over Antiretroviral Therapy in Post-Apartheid South Africa, aidstruth.org/nattrass.pdf
[5] Deutsche Aidshilfe: „Strukturelle Prävention“ – Was genau ist das?, aidshilfe.de/meldung/strukturelle-pravention-genau
[6] vdaeae.de/images/Corona-Resolution-KH_statt_Fabrik_28-09-2020.pdf
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