„Wir sind sensibler geworden“
Am Anfang war der Ärger. Dr. Annette Haberl, Leiterin des Bereichs „HIV und Frauen“ am HIV-Center des Uniklinikums in Frankfurt am Main, hatte eigentlich geglaubt, das Thema Diskriminierung von Menschen mit HIV habe sie hinter sich. Schließlich sollten Ärzt_innen schon seit Jahrzehnten um die Übertragungswege und die gut funktionierenden Therapien wissen. Doch weit gefehlt! Nicht zuletzt, weil auch ihre Patient_innen älter werden und häufiger Fachärzt_innen brauchen, die oft wenig mit dem Themenkomplex HIV vertraut sind, häuften sich in den letzten Jahren die Beschwerden ihrer Patient_innen über den Umgang mit ihnen in Praxen und Kliniken.
Die Diskriminierung beginnt oft schon am Empfang
Angst vor vermeintlichen Infektionsrisiken, Unerfahrenheit und veraltetes Wissen sind die häufigsten Gründe für Diskriminierungen. Sie äußern sich zum Beispiel in übertriebenen Hygienemaßnahmen oder der Verletzung der Schweigepflicht – und das beginnt nicht erst im Behandlungszimmer, sondern oft schon am Empfang oder im Kontakt mit Pflegepersonal. Nicht selten bekommen Menschen mit HIV nur den letzten Termin am Tag – gerade in vielen zahnärztlichen Einrichtungen. Im deutschen HIV-Stigma-Index „Positive Stimmen“ gaben sogar 19 Prozent der 1.148 Befragten an, dass ihnen in den zurückliegenden zwölf Monaten mindestens einmal der Gesundheitsdienst komplett verweigert wurde.
„In der Arztpraxis will man nicht für seine Rechte kämpfen müssen“
Alle diese Vorkommnisse verletzen Menschen, sie mindern die Versorgungsqualität und können die Gesundheit beeinträchtigen. „In der Arztpraxis trifft es einen ja meist in einer Situation, in der es einem eh schon schlecht geht, in der man ein Problem hat“, sagt Haberl. „Da ist man sowieso nicht besonders kämpferisch eingestellt und will sich nicht unbedingt wehren oder für seine Rechte kämpfen.“ Dazu kommt, dass Menschen nicht nur wegen ihrer HIV-Infektion Benachteiligung erleben, sondern auch weil sie schwul, lesbisch oder trans* sind, aus einem anderen Kulturkreis kommen oder die deutsche Sprache nicht perfekt beherrschen.
Durch häufigere Arztkontakte nehmen die Fälle von Diskriminierung zu, während gleichzeitig das Leben durch die Therapien immer einfacher wird. „Nur leider haben die Leute nicht viel davon, sondern im Gegenteil eine Menge Probleme, wenn es um so ein wichtiges Gut wie die Erhaltung von Gesundheit geht.“
Ein Modell für positive Beispiele
Darum war Annette Haberl als engagierte Ärztin von Anfang an dabei, als auf Initiative der Deutschen AIDS-Hilfe (DAH) Runde Tische organisiert wurden, um gemeinsam zu überlegen, wie man das Problem angehen könnte. Schnell entstand der Ansatz, ein Modell für positive Beispiele zu entwickeln, statt nur gegen einzelne Diskriminierungen vorzugehen, „obwohl der Reflex im Einzelfall ja eher so ist, Tacheles zu reden und klarzustellen: So geht das nicht!“
So wurde die Idee eines Gütesiegels geboren. Das Projekt „Praxis Vielfalt“ war auf dem Weg.
Die Kriterien für das Gütesiegel wurden in einem mehrjährigen Prozess von einem großen Kreis von Beteiligten entwickelt. Federführend war dabei die Deutsche AIDS-Hilfe. Mit an Bord waren auch Vertreter_innen der Deutschen Aids-Gesellschaft, der Deutschen Arbeitsgemeinschaft niedergelassener Ärzte in der Versorgung HIV-Infizierter (dagnä). Trans*- und Migrant_innenverbände, viele regionale Aidshilfen, Menschen aus der HIV-Selbsthilfe sowie niedergelassene Ärzt_innen. Der Bundesverband AOK steuerte finanzielle Mittel bei.
„Praxis Vielfalt“ ist auch ein abwechslungsreiches Lernprogramm
Vier Arztpraxen beteiligten sich an der Pilotphase. Am 21. September 2018 fällt nun in Berlin der offizielle Startschuss für das bundesweite Projekt. Schon jetzt gibt es einen großen Andrang von Praxen und klinischen Einrichtungen, die mit dabei sein wollen.
Um das Gütesiegels „Praxis Vielfalt“ zu erwerben, durchlaufen die Praxen ein abwechslungsreiches Lernprogramm, das circa zehn bis zwölf Stunden umfasst und wofür die Teilnehmenden mehrere Monate Zeit haben. Dazu gehören ein E-Learning, Webinare, Gruppendiskussionen und ganz praktische Anleitungen zum Beispiel zur Verbesserung der Kommunikation mit den Patient_innen oder zur Sicherstellung von Diskretion und Datenschutz. Aber auch Informationen zum Leben mit HIV heute und wichtige Gesundheitsthemen von LGBTIQ* sind Teil des Programms.
Eingebunden sind dabei nicht nur Ärzt_innen, sondern auch Assistent_innen, Pflegekräfte und der Empfang – die ganze Praxis! Denn Diskriminierung findet nicht nur im Behandlungsraum statt. Es gehören also alle mit an Bord: „Das ist aber im Prinzip ganz einfach, denn die Beteiligten werden an die Hand genommen und durch den Qualifizierungsprozess geführt. Wichtig ist nur, dass die Initiative von den Praxen oder Kliniken selbst kommen muss“, sagt Haberl, „man muss es schon wollen, denn man muss auch in der Folgezeit dokumentieren, was man gemacht hat“.
„‚Praxis Vielfalt‘ ist gleichzeitig auch ein teambildender Prozess“
Nicht so sehr der Gesamtaufwand sei die Herausforderung, berichtet Annette Haberl von ihren Erfahrungen in der Pilotphase: „Wichtig ist vor allem, dass es eine Person gibt, die in der Einrichtung den Hut dafür auf hat, die immer wieder nachschaut, wie weit die Kolleg_innen sind und die das Projekt „Praxis Vielfalt“ im Klinik- oder Praxisalltag immer wieder auf die Tagesordnung setzt. Das Schöne ist aber, dass das gleichzeitig auch ein teambildender Prozess ist.“
Oft machen die schlichten Dinge den Unterschied
Dr. Haberl und das HIV-Center in Frankfurt haben sich im Rahmen des Pilotprojekts besonders das Thema Trans* auf die Tagesordnung gesetzt, weil es in diesem Bereich in ihrer Klinik noch Wissenslücken gab: „Dann läuft man zum Beispiel mal mit dem Blick von Patient_innen durch die Räume, und da fiel uns auf: Wo gehen hier eigentlich Transgender aufs Klo?“ Im Ergebnis haben die Frankfurter_innen unter anderem eine Unisex-Toilette eingerichtet.
„Es braucht einen geschützten Raum, in dem die Menschen sich angenommen fühlen“
Es sind oft die schlichten Dinge: ein Schild im Eingangsbereich, auf dem steht, welche Sprachen in der Praxis gesprochen werden oder mit dem Hinweis „Wir respektieren Sie und schaffen diskriminierungsfreie Räume“. Seit ewigen Zeiten zum Beispiel fragten Patient_innen in Haberls Sprechstunde nach Zettel und Stift. Nun entstand im Rahmen der Ausbildung zu „Praxis Vielfalt“ die Anregung, beides einfach an den Tresen zu legen. Eigentlich eine Kleinigkeit, doch die Rückmeldungen der Patient_innen waren sofort positiv: „Ach wie schön, jetzt liegt ja hier ein Block!“
Eine wichtige Rolle spielt bei „Praxis Vielfalt“ auch das Thema Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen. Haberl hat in ihrer Frankfurter Klinik einen hohen Frauenanteil, und sehr viele haben einen Migrationshintergrund. „Sprache ist dabei oft noch das geringste Problem. Viele kennen sich mit dem deutschen Medizinsystem nicht aus, da braucht es Mittler_innen, die ihnen das nahebringen. Und es braucht einen geschützten Raum, in dem die Menschen sich aufgehoben und angenommen fühlen, und Personal, das Interesse an ihrer Kultur und ihrem Glauben hat, das nachfragt – und zwar wertfrei.“
„Nicht nur die Patient_innen profitieren davon“
Gerade in dieser Gruppe spürt Annette Haberl zu Anfang oft großes Misstrauen und Angst, da wird der Blick gesenkt und Kontakt vermieden. „Wer auf die Menschen offen zugeht, merkt aber auch, wie schnell sich die Haltung ändert. Davon profitieren alle, nicht nur die Patient_innen, sondern auch wir, weil wir viel schneller erfahren, wo der Schuh drückt. Wer eine Medizin will, die sich an den Bedürfnissen der einzelnen Patient_innen orientiert, muss erst mal eine vernünftige Kommunikation hinkriegen.“ Im nächsten Jahr wollen die Frankfurter_innen deshalb das Thema Rassismus in den Mittelpunkt ihrer „Praxis Vielfalt“-Arbeit stellen.
Die Pilotphase geht zu Ende, weitere Praxen können sich anmelden
Auch der Chemnitzer Arzt Dr. Thomas Heuchel, der wie die Frankfurter Uniklinik und drei weitere Praxen an der Pilotphase teilgenommen hat, weiß Gutes zu berichten. Er hat durch „Praxis Vielfalt“ mehr über die Unterstützungsstruktur für Migrant_innen vor Ort erfahren. Er erhofft sich besseren Zugang zu Dolmetscherdiensten und stellt fest: „Wir alle in unserer Praxis zeigen gesteigerte Sensibilität für individuelle Patientenbedürfnisse. Wir haben unsere Praxisgestaltung verbessert und Informationsmaterial aktualisiert und angepasst.“
Die Teams um Dr. Haberl und Dr. Heuchel sowie die drei weiteren Praxen der Pilotphase werden die ersten sein, denen am 21. September in Berlin das Gütesiegel „Praxis Vielfalt“ offiziell verliehen wird. Annette Haberl ist glücklich und stolz: „Die Pilotphase geht zu Ende, nun soll es bundesweit ausgerollt werden, die Website geht online und nun können sich auch andere Praxen zum Erwerb des Siegels anmelden. Das ist schon ein Riesending, das wir da zusammen gestemmt haben. Es ist wirklich eine Gemeinschaftsarbeit!“
„Das ist auch ein politisches Signal. Medizin ist nicht unpolitisch!“
Das Gütesiegel wird für drei Jahre verliehen. „Es ist also nichts, was man sich einfach an die Praxistür klebt und dann ist gut.“ Nach der Pilotphase werden auch die Patient_innen zur Evaluation des Projekts befragt werden. Annette Haberl ist gespannt auf die Rückmeldungen. Schon jetzt lässt sich sagen, dass Patient_innen, die ein vorurteilsfreies Klima vorfinden, selbst offener werden, schneller Vertrauen fassen und die Praxis weiterempfehlen.
Auch Deutsche AIDS-Hilfe als Initiatorin freut sich: „Das Gütesiegel Praxis Vielfalt nutzt den Praxis-Teams wie den Patient_innen. Es trägt zu einem vertrauensvollen Miteinander, besseren Behandlungsergebnissen und einem guten Ruf der beteiligten Praxen bei. Wir hoffen, dass nun viele Praxen teilnehmen. Denn unser Ziel ist eine respektvolle Versorgung für alle Menschen überall“, sagt Heike Gronski, die das Projekt bei der DAH leitet.
Das Ergebnis der Pilotphase kann sich jedenfalls sehen lassen. Alles spricht dafür, dass das Projekt für viele Arztpraxen interessant sei wird. „In Zeiten wie diesen, in denen die Vielfalt ja auch in der Gesamtgesellschaft infrage gestellt wird, muss man Haltung zeigen“, sagt Annette Haberl, „das ist auch ein politisches Signal. Medizin ist nicht unpolitisch!“
Weitere Informationen auf praxis-vielfalt.de
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