Russlands verlorene Kinder
Frau Löcker, was war die Initialzündung zu dieser Dokumentation?
Der Sohn einer russischen Freundin ist seit 1996 drogenabhängig. Seine Geschichte hat mich lange begleitet, und irgendwann habe ich verstanden, dass sie kein Einzelfall ist. Es gibt in Russland viele solcher Menschen, die in den Jahren der Perestroika Teenager waren und Anfang, Mitte der 1990er-Jahre heroinsüchtig wurden. Der Zerfall der Sowjetunion und der Wandel in der Gesellschaft hat eine Generation der verlorenen Kinder hervorgebracht.
Anfangs wollte ich diesen historischen Hintergrund noch etwas deutlicher erzählen, weil er im Westen eher wenig bekannt ist. Im fertigen Film wird er aber nur noch im Prolog thematisiert. Die ursprüngliche Idee war, mehrere Personen, auch Paare und Familien mit ähnlichen Geschichten, zu porträtieren.
Die Folgen der Perestroika
Ihr Film handelt nun aber nur von dem Paar Ljoscha und Schanna.
Wir hatten mit mehreren Leuten gedreht, mit solchen, die noch abhängig, und welchen, die schon clean sind. Bereits während des Drehs hat sich herauskristallisiert, dass Ljoscha und Schanna ins Zentrum rücken werden. Aber erst im Schnitt hat es sich dann endgültig entschieden, dass wir uns ganz auf dieses Paar beziehungsweise auf diese Dreierbeziehung mit der Mutter konzentrieren wollen.
Wie schwierig war es, für dieses Projekt Drogenabhängige beziehungsweise Ex-Junkies zu finden?
Ich habe in den 1990er-Jahren in Sankt Petersburg Russisch studiert und kenne die Stadt daher sehr gut. Es war aber keineswegs einfach, denn das Thema ist stark tabuisiert und die Menschen fühlen sich durch die Drogensucht stigmatisiert. Ich habe schließlich über verschiedene Wege versucht, Leute kennenzulernen. Sehr hilfreich war hier der Verein „Mütter gegen Drogen“.
Interessant war, dass mir sehr viel mehr Mütter als Väter begegnet sind, die sich für ihre abhängigen Kinder engagieren und auch bereit waren, dazu Interviews vor der Kamera zu geben. Vätern fällt es offenbar weitaus schwerer, damit öffentlich umzugehen. Aber auch vielen Müttern war es unverständlich, warum ich so etwas überhaupt zeigen will. Sie möchten das Problem lieber versteckt wissen, wahrscheinlich auch, weil sie sich als Elternteil schuldig fühlen.
Die Scham der Eltern
Welche Rolle spielen HIV und Hepatitis bei den Drogenabhängigen, denen Sie bei ihren Recherchen begegnet sind?
Alle, die ich kennengelernt und mit denen ich gedreht habe, sind mit Hepatitis C und bis auf einen auch mit HIV infiziert. Für viele ist nicht mehr die Sucht das drängende Problem, sondern die HIV-Behandlung, die Folgeschäden der längjährigen Infektion und die schwierige Gesundheitsversorgung.
Wie stellt sich die Situation für Drogengebraucher dar?
Der Zugang zu einer HIV-Therapie wird ihnen sehr schwer gemacht. Ljoscha hat das Glück, dass er durch die NGO, für die er arbeitet, viele Ärzte kennt und so einen privilegierten Zugang zu den Krankenhäusern hat. Allerdings bekommen Drogenabhängige nur dann die benötigten Medikamente, wenn sie clean sind. Deshalb verschweigt Ljoscha auch, dass er und seine Freundin Methadon nehmen.
Es wird also kein Unterschied gemacht, ob jemand Drogen nimmt oder ein Substitut wie Methadon?
Der russische Staat steht auf dem Standpunkt, dass mit der Substitution nur eine Droge durch eine andere ersetzt wird. Dabei kann man gerade am Beispiel von Ljoscha sehr deutlich sehen, was eine Substitution bewirken kann: Er ist in einer guten gesundheitlichen Verfassung, ist arbeitsfähig und eben nicht auf der Straße gelandet.
Methadon vom Schwarzmarkt
Ljoschas Ärzte können ihm auch Methadon verschreiben?
Nein, Schanna und Ljoscha haben sich, wenn man so will, ihre Substitution selbst verordnet, denn die Substitutionstherapie ist in Russland illegal. Die Ersatzstoffe sind nur auf dem Schwarzmarkt erhältlich, und auch dort nur mit guten Kontakten. Eine Aktivistin des Vereins „Mütter gegen Drogen“, die sich auch für die Substitution engagiert, wurde schon als Kriminelle bezeichnet, denn faktisch fordert sie etwas Illegales ein.
Alle Drogenabhängigen, die ich in Russland gesprochen habe, wünschen sich die Substitution. Im Film hat Ljoscha den Traum, für ein Jahr in die Ukraine zu gehen. Und zwar nicht nur, um ans Schwarze Meer zu kommen, sondern weil dort eine legale Substitution möglich ist. Während der Dreharbeiten 2013 wäre das noch gegangen. Mit der Annektierung der Krim ist dieser Traum mittlerweile geplatzt. Und ich fürchte, dass sich die Haltung Russlands zur Substitution leider so schnell nicht ändern wird.
Als Zuschauer hat man bisweilen das Gefühl, ungewollt einer Paartherapie beizuwohnen. Wie haben sie es geschafft, dass Schanna und Ljoscha sich vor der Kamera derart öffnen und sich auch gegenseitig nicht schonen?
Entscheidend war, dass wir eine sehr intensive Nähe und großes Vertrauen zueinander aufgebaut hatten. Die wechselseitige Sympathie spielt für einen Film dieser Art eine bedeutende Rolle. Von meinem ersten Kennenlernen bis zum Drehbeginn waren zwei Jahre vergangen. In dieser Zeit haben wir uns einige Male getroffen. Dieser Vorlauf war wichtig, um die Protagonisten spüren zu lassen, dass man es tatsächlich ernst meint. Dass einem ihre Geschichte, was sie sagen und wie sie leben, wirklich wichtig ist.
Ich hatte den Eindruck, dass Schanna es zunehmend genossen hat, vor der Kamera zu sein, und die Dreharbeiten auch als Bühne für sich genutzt hat. Ich glaube, es hat ihr schon lange keiner oder vielleicht sogar noch nie jemand so intensiv zugehört. Und sie war sich sicherlich auch sehr bewusst, dass dies eine ihrer letzten Möglichkeiten sein würde, sich noch einmal als Person auszudrücken und als würdevollen Menschen darzustellen.
Wie geht es den beiden heute?
Ljoscha geht es nach wie vor gut. Schannas Gesundheitszustand hingegen hat sich sehr verschlechtert. Ich habe die beiden im Mai letzten Jahres besucht, um ihnen den fertigen Film zu zeigen. Schanna lag im Krankenhaus, war völlig abgemagert und hat mich aufgrund einer HIV-bedingten Demenz gar nicht mehr erkannt. Auch an die Dreharbeiten konnte sie sich nicht mehr erinnern. Sie wurde nach einigen Wochen entlassen und ist seither ein schwerer Pflegefall und kaum mehr mobil. Eine Zeit lang hatte sie zudem ihr Gehör verloren, und sie kann kaum mehr zusammenhängend sprechen.
Wird der Film auch in Russland zu sehen sein?
Ich möchte ihn natürlich gerne in Russland zeigen, Ljoscha hat mich allerdings gebeten, es zunächst nicht zu machen. Falls der Film hohe Wellen schlagen sollte, fürchtet er negative Konsequenzen für sich und auch für die NGO, für die er arbeitet. Denn die Organisation bekommt für einige ihrer Programme auch staatliche Gelder.
Welcher Vorwurf könnte der NGO aufgrund des Films denn gemacht werden?
Dass sie einen Mann beschäftigt, der immer noch Drogen nimmt, in Ljoschas Fall eben Methadon.
Vielen Dank für das Gespräch!
Weitere Infos:
„Hausbesuch in Sankt Petersburg“ – Besprechung zu „Wenn es blendet, öffne die Augen“ auf magazin.hiv
„Wenn es blendet, öffne die Augen“. Österreich 2014. Buch und Regie Ivette Löcker, Kamera Frank Amann. 75 Minuten, Russisch mit deutschen Untertiteln.
Berlin-Premiere am Dienstag, 10. März, 20 Uhr im Kino Arsenal. Im Anschluss wird Birgit Kohler vom Arsenal ein Gespräch mit der Filmemacherin Ivette Löcker und dem Kameramann Frank Amann führen.
Vom 12. bis 18. März ist der Film im Kino Krokodil (Greifenhagener Str. 32) zu sehen. Im Anschluss an die 19-Uhr-Vorstellung am Donnerstag, dem 12. März, wird es ein Publikumsgespräch mit der Regisseurin geben.
Weitere Vorführungen sind im Rahmen der Dokumentarfilmwoche Hamburg (8.–12. April) und bei GoEast in Wiesbaden (22.–28. April) geplant
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