„Scheiß drauf, lass uns tanzen“
Nicht alle Berlin-Touristen interessieren sich für die Mauer, den Reichstag und das Charlottenburger Schloss. Viele, die am Wochenende in den Billigfliegern aus Barcelona, Amsterdam und Mailand sitzen, haben vor allem ein Ziel vor Augen: das Berghain.
Der Techno-Club ist längst zu einem Mythos geworden und mittlerweile sogar zum literarischen Schauplatz wie etwa Airens „Strobo“ und Helene Hegemanns „Axolotl Roadkill“, um zwei der bekanntesten Bücher zu nennen.
Auch in Oscar Coop-Phanes Roman „Bonjour Berlin“ spielt der Club eine entscheidende Rolle: In dem ehemaligen Heizkraftwerk kreuzen sich die Wege dreier Männer, die hier ihr altes Leben, verlorene Lieben und die Verantwortung für die eigene Zukunft mit Sex, Drugs & Techno fürs Erste vergessen wollen.
Sex, Drugs & Techno
Armand, sexuell ambivalent, mit einer gescheiterten Beziehung zu einer Frau, ist nach Berlin gegangen, um Maler zu werden und einen neuen Kick für sich zu bekommen. Der im Heim und bei Adoptiveltern aufgewachsene Franz – spielsüchtig, knasterfahren und in jeder Hinsicht gescheitert –, will die vielen Desaster seines Lebens hinter sich lassen.
Der Mittzwanziger Tobias, Gelegenheitskellner und Drogendealer, hat eine Weile in Paris gelebt und sich beim schnellen Sex in der Pariser Schwulenszene mit HIV infiziert. „In diesem bunten Treiben fing er sich das böse Virus ein. Er hatte es gespürt. Er wusste es sofort. Aber er sprach mit niemandem darüber, wollte dem keine Beachtung schenken.“ Der Absturz in die immerwährende Berliner Partynacht macht es ihm leichter, die Tatsache zu verdrängen.
Schneller, anonymer unsafe Sex ist keine exklusiv schwule Angelegenheit
„Er dachte gar nicht daran, was er damit den anderen antat; und lebte weiter, als hätte er tatsächlich vergessen, was er da im Blut hatte.“ Als er sich später seiner Berghain-Bekanntschaft Armand anvertraut, reagiert der gelassen. „Na komm. Scheiß drauf, lass uns tanzen.“
Schneller, anonymer unsafe Sex ist keine exklusiv schwule Angelegenheit. „Er vögelt fünf Frauen pro Woche in der Panoramabar aufm Klo“, beschreibt Coop-Phane seinen Antihelden Armand. „Die Sache ergibt sich von ganz alleine, es geht nur um schnellen, harten Sex, meistens im Stehen, im Drogenrausch, ein bisschen Lendengymnastik als kleine Abwechslung vom Tanzen. Und immer ohne Gummi, er ist wohl recht vertrauensselig.“
Sex ist für jeden der drei Protagonisten jederzeit zu haben. Sex und Drogen sind die entscheidenden Ingredienzen, um durch den Tag und durch die Nacht zu kommen. Der Cocktail aus Liquid Ecstasy, Speed, MDMA, Marihuana und Koks lässt sie benebelt durch den Alltag treiben, ihre Einsamkeit und Depressionen vergessen – und aufblühen.
Der französische Schriftsteller Oscar Coop-Phane, Jahrgang 1988, mit derzeitigem Lebensmittelpunkt in Paris, hat ein Jahr lang in Berlin verbracht. Bei seiner literarischen Aufarbeitung dieser Zeit hat Coop-Phane wenig unternommen, um die eigene Begeisterung zu verstecken. Sein skizzenhafter, offensichtlich schnell und unter direktem Eindruck des Erlebten hingeworfener Roman will alles andere als Sozialreportage oder Drogenproblem-Analyse sein.
Nacht- und Schattenexistenzen der Berliner Clubszene
Vielmehr liest sich sein Buch über Strecken wie ein Stadtführer und eine Gebrauchsanleitung für Nacht- und Schattenexistenzen der Berliner Clubszene. Seine Protagonisten wähnen sich zwar allesamt auf der Suche nach der großen Liebe, nach einem Leben von Bedeutung und Erfüllung, tatsächlich aber werden alle Entscheidungen und das Erwachsenwerden erst einmal auf später verschoben. Fürs Erste reicht es, die Tristesse und Langweile zu übertünchen und sich in den Exzess zu stürzen.
„Man glaubt, eine neue Facette der Existenz kennenzulernen. Bildet sich ein, intensiver zu leben. Und dieses Gefühl erfüllt einen mit einem abartigen Stolz, der total daneben ist.“
Statt Freundschaften oder verlässliche Beziehungen gibt es solidarische Drogen- und Zweckgemeinschafen: Wer ist gerade flüssig, wer hat Stoff, wer kann was besorgen? Ewig lässt sich dieser Lifestyle nicht durchziehen. Wer den Absprung nicht schafft, stürzt tief. Auch davon erzählt Coop-Phane beinahe beiläufig, distanziert und kühl.
Oscar Coop-Phane: „Bonjour Berlin“. Aus dem Französischen von Christian Kolb. Metrolit Verlag, gebunden, 256 Seiten, 17,99 Euro
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