Erinnern und Gedenken

Sichtbarkeit gegen Tabus unseres Denkens

Von Gastbeitrag
Portrait Frank Wagner
Im Juni verstarb Frank Wagner, der die erste große Ausstellung zum Thema Aids in Deutschland organisierte. Ulmann Hakert erinnert an den Kurator, der sich in seiner Arbeit gegen jede Form von Leugnung engagierte.

„Man lebt zweimal“, schrieb Honoré de Balzac: „Das erste Mal in der Wirklichkeit, das zweite Mal in der Erinnerung“. Wie also erinnern wir uns an Menschen, die in der Aids– und Selbsthilfe oder in deren Umfeld etwas bewegt haben? Was bleibt von ihnen, wie bleiben sie in unserem Gedächtnis? Mit diesen und anderen Fragen zum Gedenken beschäftigt sich unsere Reihe „Erinnern und Gedenken“ in loser Folge.

Der Höhepunkt einer jeden Geburtstagsparty bei Frank Wagner, die ich miterlebte, war das Öffnen der Geschenke. Frank stellte sich in die Mitte der kleinen und großen Gaben und enthüllte oder präsentierte ein jedes vor der versammelten Gästeschar. Neugier, Begeisterung, Erstaunen und Dank wurden wortreich vorgetragen. Frank zeigte ein großes Showtalent.

Ich weiß nicht, ob Frank in dieser Form auch einen kleinen Joint als Geburtstagsgeschenk entgegennahm. Ich weiß nur aus seiner Erzählung, dass er diese dünne selbstgedrehte Zigarette in die Brusttasche seines Hemdes steckte und vergaß. In meiner Erinnerung gibt es zwar auch das vage Bild einer Zigarette in Franks Hand, aber diese kleine weiße Röhre passte gar nicht zwischen die langen sehnigen und eher kräftigen als zarten Finger. Wie gering sein Interesse an Joints war, erzählt die Geschichte vom vergessenen Geschenk. Dieses tauchte boshafter Weise wieder auf, als er beim Immigration Office am JFK-Flughafen in New York seinen Reisepass aus der Brusttasche zog. Der Joint steckte vergessen in Franks Pass. Die Folgen für seine Arbeit waren katastrophal. Ein Schwerpunkt seiner Ausstellungstätigkeit war die Vermittlung gesellschaftlich und sozial engagierter Kunst aus den USA. Über Jahre war er regelmäßig in die USA gereist, hatte Kontakte mit Künstlern, Galerien, Ausstellungsmachern geknüpft und Freundschaften aufgebaut, die sehr fruchtbar für seine Tätigkeit waren. Nun wurde ihm die Einreise verweigert, und er kehrte mit einem der nächsten Flüge zurück nach Europa. Es folgte ein mühsamer und sich über Jahre hinziehender Prozess, um Mr. Wagner bei den US-amerikanischen Behörden zu rehabilitieren.

Die Folgen eines vergessenen Joints

Das wichtigste Berliner Standbein für Frank Wagner war die nGbK, die neue Gesellschaft für bildende Kunst in Berlin-Kreuzberg. Eigentlich ein in den späten Sechzigern gegründeter basisdemokratisch organisierter Kunstverein, bei dem nicht ein leitender Ausstellungsmacher, sondern die Mitglieder in Gruppen Ausstellungen konzipieren und organisieren. Das sah in Franks Fall praktisch so aus, dass er ein Ausstellungskonzept entwickelte und sich einen Trupp aus den Vereinsmitgliedern rekrutierte. Mit seinem Konzept und seiner Gruppe trat er wie alle Mitbewerber vor die Vollversammlung, um einen Zuschlag für sein Projekt zu bekommen. Das gelang in der Regel, denn die Ausstellungen, die Franks organisierte, gehörten zu den wichtigsten der nGbK.

Frank war verantwortlich für zahlreiche Ausstellungen zum Thema Aids. Am bekanntesten war 1988 „Vollbild AIDS“ als erste einer langen Serie. Dort wie in anderen Ausstellungen präsentierte er wichtige US-amerikanische Künstler. Unter denen, die er nach Berlin brachte, dürfte der berühmteste Felix Gonzalez-Torres gewesen sein, den er Anfang der neunziger Jahre gleich mehrfach ausstellte, um 2006 eine Retrospektive von Gonzalez-Torres’ Werk im Museum für Gegenwart im Hamburger Bahnhof (Berlin) zu zeigen.

Die vermeintliche Gewissheit eines positiven Testergebnisses

Gonzalez-Torres verstarb 1996 an den Folgen von Aids. Franks Arbeit als Kurator galt nicht immer dem Thema Aids; es ergab sich aber von selbst, wenn man als schwuler Mann im Berlin der achtziger und neunziger Jahre lebte und viele Freunde und Bekannte infiziert waren. Nicht zuletzt wegen seines schon früh einsetzenden Engagements gehörte er der „alten Schule“ an, die den seit 1984 verfügbaren Test auf eine HIV-Infektion ablehnte. Ein Grund war das Anfang der achtziger Jahre virulente politische Programm der CSU: HIV-Infektionen müssten erfasst und registriert werden, die Betroffenen bestmöglich interniert. Ein zweites, eher psychologisches Argument war die Tatsache, dass ein positives Testergebnis Mitte der Achtziger keine andere Konsequenz hatte als bloß die – vermeintliche – Gewissheit, eine schnell zum Tode führenden Infektion zu haben. Ein Wissen, das nur belastend und für den Allgemeinzustand kaum förderlich sein konnte.

Frank selbst entwickelte Ende der neunziger Jahre zahlreiche Symptome schwer erklärlicher Erkrankungen, ignorierte jedoch die Möglichkeit einer HIV-Infektion. Erst als er fast durch eine typische sogenannte opportunistische Infektion mit dem Cytomegalievirus erblindete, sah auch er ein, dass nur ein Test Klarheit bringen kann. Die Gefahr zu erblinden wäre für den Organisator von Kunstausstellungen eine Katastrophe gewesen. Sie konnte dank der damals bereits verfügbaren medikamentösen Möglichkeiten abgewendet werden. Frank sollte weder erblinden noch an den Folgen von Aids versterben.

Die Gefahr zu erblinden

Diese Behauptung mag medizinisch nicht ganz korrekt sein. Es besteht die Möglichkeit, dass Franks Krebserkrankung und der Rückfall nach einer ersten Hoffnung gebenden Behandlung auch mit einer Schwächung des Immunsystems in Zusammenhang stehen. Aber umgekehrt gibt es keine Gewissheit, ob er nicht auch ohne die Infektion mit dem das Immunsystem angreifenden Virus an Krebs erkrankt wäre.

Frank engagierte sich gegen jede Form von Leugnung, die schon in der ersten Ausstellung der NGBK, an der er 1987 maßgeblich beteiligt war, Leitmotiv war. Unter dem Titel „Inszenierung der Macht“ wurde die ästhetische Faszination durch den Faschismus zum Thema gemacht – eine Antwort auf Diskussionen der damaligen Zeit, den ‚Historikerstreit’, wo es um eine Relativierung der Greuel des Dritten Reichs ging.

Gegen jede Form der Leugnung

Zur gleichen Zeit hatte längst auch in Europa das große Sterben durch die HIV-Infektion begonnen und damit das Vertuschen und Verleugnen. Nicht einmal ein Michel Foucault, dessen Denken sich auf Gewalt, Macht und die Bedingungen der Wahrheit konzentrierte, durfte offiziell an Aids erkrankt und schließlich daran gestorben sein.

Auch in der kleinen Publikation „AIDS hat viele Gesichter“, 1995 von der BZgA publiziert und nochmals 2000 in vollständig überarbeiten Fassung, ging es Frank Wagner um Sichtbarkeit – Sichtbarkeit gegen die Tabus unseres Denkens. Wobei Frank keinen Gegensatz von sinnlicher Erfahrung und Denken konstruierte, sondern Felix Gonzalez-Torres folgte, der Gefühltes und Gedachtes in Bilder und Inszenierungen von ebenso überwältigender wie zärtlicher Sinnlichkeit zu fassen vermochte.

Frank Wagner starb im Juni 2016 im Alter von 58 Jahren. Am heutigen Samstag treffen sich Künstler_innen in New York, der Stadt, die ihm so lange verwehrt blieb, um mit Musik, Blumen, Bildern, Videos und Wortbeiträgen an ihn zu erinnern. Die nGbK folgt mit einer Gedenkveranstaltung am 9. Dezember.

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