Sexarbeit

Sie wollen keine Opfer sein

Von Gastbeitrag
Zwei Beraterinnen sitzen vor dem blauen Bus des Projektes
Madlen (l.) und Sonja vom Parati-Team beraten in Hamburg seit vielen Jahren Straßenprostituierte. Die lang gewachsenen Beziehungen ermöglichen eine Vertrauensbasis.
Illegal, verarmt, auf die Sexarbeit angewiesen – für Straßenprostituierte können sich die Lebensbedingungen bald weiter verschlechtern. Kersten Artus über die Auswirkungen des „Prostituiertenschutzgesetzes“

Der Beitrag erschien zuerst unter dem Titel „Der Ort, wo niemand fragt“ auf dem Blog der Autorin. Wir danken ihr herzlich für das Recht zur Zweitveröffentlichung!

„Lass nicht mit dir handeln: Deine Arbeit hat ihren Preis – und den ist sie auch wert. Zu billige Angebote machen die Preise für alle kaputt.“ Ratschläge wie diese geben Sonja und Madlen oft an die Frauen weiter, die an ihren Bus kommen. Sie geben ihnen Gleitgel und Kondome, manchmal tauschen sie benutztes Spritzbesteck. „Wir kommen immer zum Schichtwechsel“, sagt Madlen, „wenn die Tagsüberfrauen und die Nachtarbeiterinnen die Plätze wechseln.“ 20 bis 40 Frauen erreichen Sonja und Madlen montags zwischen 18 und 21 Uhr. Sie sind Sozialarbeiterinnen, ihre Klientinnen Straßenprostituierte.

Seit sechs Jahren steht der blaue Transporter mit den getönten Scheiben immer zur selben Zeit und am selben Tag am Steindamm im Hamburger Stadtteil St. Georg, direkt am Hauptbahnhof. „Parati“ (spanisch: für dich) heißt das Straßensozialprojekt von ragazza mit insgesamt sieben multiprofessionellen und -kulturellen Mitarbeiterinnen: fünf Muttersprachlerinnen, acht Sprachen. Krankenschwestern, Sozialpädagoginnen. „Manche Frauen wollen nur einen Kaffee trinken. Andere haben Schmerzen oder benötigen eine Impfung“, sagt Madlen. „Wir führen auch Ausstiegsgespräche“, sagt Sonja. Fragen dazu kämen vornehmlich von älteren Prostituierten. Sonja und Madlen stellen immer wieder fest, wie schlecht die Frauen informiert sind, wie wenig sie selbst über Schwangerschaft und Verhütung wissen. Finanziert wird das mobile Angebot vom „M A C AIDS Fund“. Er gehört zum US-amerikanischen Kosmetikkonzern Estée Lauder. 67.500 Euro fließen pro Jahr nach Hamburg.

Ablehnung und Feindseligkeiten sind an der Tagesordnung

Straßenprostituierte erfahren selten eine derartige Fürsorge und Aufmerksamkeit. Die Ordnungshüter verfolgen sie, die Stadtplanung möchte sie verdrängen. Die meisten sind hoch verschuldet, haben keine Melde- und Postadresse. Osteuropäerinnen und Afrikanerinnen sind in der Regel bewusst für diese Arbeit nach Deutschland gekommen. Sie fühlen sich nicht als Opfer, sondern als Familienernährerinnen. „Viele sind stolz darauf, dass sie mit ihrem Einkommen ihre Kinder in Bulgarien, Rumänien, Spanien oder Ghana weiter zur Schule schicken können. Deswegen wollen die meisten auch weiter in der Sexarbeit tätig sein“, sagt Sonja. Verbote und Verordnungen nutzen daher nicht viel – Bußgeldern und ständiger Angst vor der Polizei zum Trotz. Was an Strafen gezahlt werden muss, erfordert eine noch höhere Präsenz an der Straße. Nicht selten werden Doppelschichten gefahren, die nicht ohne Drogenkonsum ausgehalten werden können. Sie haben ständig Angst vor Feindseligkeiten und Ablehnung.

Katarzyna (Name geändert) ist heute das erste Mal in den Bus gestiegen. Bislang habe sie sich geschämt, mit den Parati-Frauen zu sprechen, offenbart die mollige, blonde Frau mit polnischem Akzent, die etwa Mitte Dreißig ist. Aber jetzt benötige sie dringend Hilfe. Sie erzählt, sie habe sich mit Hepatitis C infiziert, sei oft müde, erschöpft. Das Arbeiten falle ihr schwer. „Jeden Tag bin ich am Steindamm, immer an derselben Stelle“, sagt sie und zeigt auf einen Poller, der den Fußgängerbereich von einem Parkplatz abgrenzt. „Dreizehn Jahre lang hatte ich keinen Kontakt zu meiner Familie. Erst wieder seit Kurzem, seit mich ein Freund meines Bruders hier gefunden hat.“ Es sei nicht leicht, die Eltern, die auch in Hamburg leben, nach so langer Zeit wiederzutreffen. Sie wirkt erleichtert, ihre Geschichte erzählen zu können.

Ab Mitte 2017 gelten neuen Regeln für Prostituierte

Mitte nächsten Jahres soll das jüngst von der Großen Koalition beschlossene Prostituiertenschutzgesetz in Kraft treten. Ministerin Manuela Schwesig will damit menschenwürdige Arbeitsbedingungen für Sexarbeiterinnen schaffen: Registrierung und Gesundheitsberatungen werden Pflicht. Das erste Mal, so heißt es aus dem Bundesfamilienministerium, würden rechtliche Rahmenbedingungen für die legale Prostitution geschaffen. Gefährliche Erscheinungsformen der Prostitution würden verdrängt, mit dem Gesetz die Grundrechte von Prostituierten auf sexuelle Selbstbestimmung, persönliche Freiheit, körperliche Unversehrtheit und auf Gleichbehandlung gestärkt.

Sonja und Madlen schütteln den Kopf: „Jeder Zwang führt die Frauen, die auf der Straße arbeiten, in die Illegalität. Wer in Hamburg nicht gemeldet ist, geht nicht zum Amt, um sich untersuchen zu lassen. Das bedeutet, dass die Gefahr, eine Infektion nicht behandeln zu lassen, erheblich steigt. Das sieht der Bochumer Präsident der Deutschen STI-Gesellschaft, Norbert Brockmeyer, ähnlich. Er warnt ausdrücklich vor Restriktionen für Sexarbeiterinnen. Er befürchtet, dass Zwangsmaßnahmen dramatische Zuwächse an Infektionen bedeuten können.

„Nimm immer ein Kondom, am besten auch beim Blasen. Kommt Sperma in den Mund, spuck es aus. Spül den Mund aus, auf keinen Fall Zähne putzen. Ob jemand HIV hat, kannst du nicht sehen. Jeder deiner Sexpartner oder Kunden könnte es haben. Wegen HIV musst du nicht aus Deutschland ausreisen.“ Eine Studie des Robert-Koch-Institutes hat zwar ergeben, dass Prostituierte keine höhere Gefahr laufen, sich mit dem HI-Virus zu infizieren. Das Risiko steigt jedoch, wenn sie erst seit Kurzem der Prostitution nachgehen, Drogen nehmen oder Sex ohne Kondom praktizieren.

Nur Anonymität schafft Vertrauen – Basis für die Annahme von Gesundheitshilfen

„Wir sind sehr darauf bedacht, den Frauen einen Ort zu bieten, wo eben niemand nach Namen, Geschichten oder sonstigen Informationen fragt. Wir treten an mit dem Versprechen, anonym zu arbeiten und keine Informationen weiterzugeben“, sagt Sonja. Sie fragen Katarzyna deswegen auch nicht weiter aus und hoffen, dass sie wiederkommt.

Die Bundesländer müssen die Bestimmungen aus dem neuen Gesetz umsetzen. Doch mehr als erste Überlegungen gibt es bislang nicht. Auf eine Anfrage der CDU-Fraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft antwortete die Sozialbehörde: „Mit Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens beginnt … der fachliche Diskurs über die Umsetzung des Gesetzes sowie die Etablierung der dazu notwendigen Strukturen. … Dieser komplexe Abstimmungs- und Beteiligungsprozess wird noch einige Zeit in Anspruch nehmen. Die Planungen hierzu sind noch nicht abgeschlossen.“ Aus der Gesundheitsbehörde heißt es, dass ein Gesamtkonzept in Arbeit sei. Es „sollen sowohl Prostituierte mit guter sozialer Integration also auch solche in besonders prekären Lebenssituationen erreicht werden. Das Beratungsangebot sollte vertraulich und weitestgehend anonym sein …“ Bis heute wurden die Sozialarbeiterinnen von „Parati“ nicht in die Überlegungen der Behörden einbezogen.

Bereits bevor das Prostituiertenschutzgesetz verabschiedet wurde, war es heftig umstritten. Expert_innen warnten eindringlich, dass es die Absicht, Menschenhandel zu bekämpfen und prekäre Arbeits- und Lebensbedingungen zu beseitigen, nicht erfüllen wird. Eine Hauptursache für die Lebensbedingungen der Straßenprostituierten stand zum Beispiel überhaupt nicht zur Diskussion. „Würde sich die politische Position bezüglich einer Legalisierung von Drogen ändern und zu einer staatlich kontrollierten Abgabe und Preisgestaltung führen, könnte der Kauf von Drogen über andere Wege finanziert werden, da die immensen Profitspannen des illegalen Drogenhandels nicht mehr durch die Endverbraucher_innen verdient werden müssten“, sagt Kathrin Schrader, Professorin für soziale Arbeit an der Frankfurt University of Applied Sciences, die zu Drogenprostitution promovierte. „Drogenkonsument_innen bräuchten sich dann nicht mehr aus einer wirtschaftlichen Notlage heraus auch noch zu den schlechtesten Bedingungen prostituieren.“ Ein Aspekt, den sich die nächste Bundesregierung auf die Agenda schreiben könnte.

 

Prostitution in Deutschland

Nach Domenica Niehoff wird in Hamburg bald eine Straße benannt. Das Grab der 2009 Verstorbenen liegt in der Gedenkstätte „Garten der Frauen“. Im Wachsfigurenkabinett „Panoptikum“ gibt es eine Nachbildung von ihr.

Ehren wie diese werden Prostituierten sonst nicht zuteil. Meistens arbeiten sie unter einem anderen Namen und leben prekär. Wie viele es sind, weiß niemand. Die Spannbreite bei den Schätzungen reicht von 150.000 bis zu einer halben Million Menschen, 90 bis 95 Prozent sind Frauen, 60 bis 75 Prozent migrantisch.

Als Hauptursachen für die Spirale aus Gewalt, Krankheit, Sucht, Armut und Straßenprostitution gelten die Stigmatisierung der Betroffenen sowie das Betäubungsmittelgesetz.

Das neue Prostituiertenschutzgesetz, das am 1. Juli 2017 in Kraft treten wird, verpflichtet alle, die in der Prostitution arbeiten, zu Gesundheitsberatungen und zur Registrierung. Dies könnte dazu führen, dass Straßenprostitutierte ohne Meldeadresse weiter in die Illegalität abrutschen. Die Bundesregierung, aber auch die Länderregierungen haben bislang keine Konzepte vorgelegt, wie dieser Effekt verhindert werden kann.

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