Interview

Sister Fa: „Ich nutze meine Musik, um Tabus zu brechen“

Von Inga Dreyer
Foto: privat
Fatou Mandiang Diatta alias Sister Fa ist eine in Berlin lebende Musikerin und Rapperin. 1982 wurde sie im Senegal geboren. Mit ihrer Musik setzt sie sich gegen die weibliche Genitalbeschneidung ein, die bis heute nicht nur in ihrer Heimat weit verbreitet ist. Regelmäßig organisiert sie Projekte in afrikanischen Communities, um über die Folgen dieser Praxis aufzuklären.

Sie setzen sich gegen Female Genital Mutilation/Cutting (FGM/C) ein. Auf Deutsch wird von weiblicher Genitalbeschneidung oder auch von Genitalverstümmelung gesprochen. Welchen Begriff verwenden Sie?

Ich denke, Beschneidung ist das bessere Wort. Verstümmelung hat eine so negative Bedeutung. Man verstümmelt Menschen, die zum Beispiel in Gefangenschaft sind – Leute, die man nicht liebt. Aber nicht die eigene Tochter. Deshalb passt für mich Beschneidung besser.

Was passiert dabei genau?

Bei mir war es Typ II (Anm. der Red.: Von Typ II spricht man, wenn die äußeren Teile der Klitoris ganz oder teilweise entfernt werden. Auch die inneren und äußeren Schamlippen werden in einigen Fällen abgeschnitten). Wo ich herkomme, ist dieser Typ sehr verbreitet. In Kolda im Süden Senegals ist der Typ III verbreiteter (Anm. der Red.: Entfernung von Klitoris, kleinen und großen Schamlippen und Verengung der Vaginalöffnung durch Zusammennähen).

„Die Beschneidung von Frauen ist eine gesellschaftliche Norm – das hat nichts mit Religion zu tun“

Wir Mädchen damals waren sehr klein, da waren auch unsere Genitalien noch entsprechend klein. Wenn wir erwachsen werden, werden auch unsere Klitoris und die anderen Organe größer. Als Erwachsene können wird deswegen besser erkennen, was damals passiert ist.

Wie alt waren Sie, als Sie beschnitten wurden?

Ich muss zwischen vier und sechs Jahren alt gewesen sein. Meine Mutter hat das auch mit meiner großen und kleinen Schwester machen lassen. Bei uns ist das ganz normal: Jedes Mädchen muss beschnitten sein. Mir ist es heute nicht mehr peinlich zu sagen, dass ich eine Überlebende bin. Ich sage bewusst nicht, dass ich ein Opfer bin. Wenn ich das sagen würde, würde ich mich klein fühlen. Ich bin eine starke Frau und versuche, mich aus meiner Situation heraus zu engagieren und in meinem Heimatland eine Veränderung herbeizuführen.

„Niemand redet darüber – es ist ein Tabu“

Ich konnte damals nicht wissen, was meine Mutter genau mit meinem Körper hat machen lassen. Erst als ich im Collège war, habe ich gelernt, wie das eigentlich aussehen müsste. Erst da habe ich verstanden, was die Frauen mit meinem Körper gemacht haben. Niemand redet darüber. Es ist ein Tabu.

Es wird oft gesagt, dass Frauen nach einer Genitalbeschneidung keine sexuelle Lust mehr empfinden können. Ist das wirklich so?

Das kommt auf die Art der Beschneidung an. Bei Typ I ist etwas ganz anderes als bei einer Frau, die nach Typ III beschnitten wurde. Aber Sex genießen zu können und Lust zu empfinden ist ja auch etwas, das im Kopf passiert. Das ist mehr etwas Psychisches als etwas rein Körperliches. Ich war vor der Beschneidung noch ein Kind. Ich weiß deswegen nicht, wie sich Sex eigentlich anfühlen müsste.

Welche Folgen hat die Genitalbeschneidung für Frauen?

„Ich habe meiner Mutter danach nicht mehr vertrauen können“

Ich erinnere mich an den berührenden Film „Moolaadé – Bann der Hoffnung“ von Ousmane Sembène. Darin geht es um die Angst und die Traumata der Frauen. Wir dürfen nicht vergessen, dass das alles ohne Anästhesie passiert. Das heißt: Es tut sehr weh. Die Frauen, die Beschneidungen durchführen, sind keine Ärztinnen, aber was sie tun, ist Chirurgie.

Für uns ist die Erinnerung an diese Prozedur etwas, was wir in unserem Kopf und in unserem Körper tragen. Ich habe meiner Mutter danach nicht mehr vertrauen können, weil sie mich angelogen hat.

Verfolgt diese schlimme Erinnerung Frauen bis ins Erwachsenenalter?

Ja, das ist meine Erfahrung. Ich habe mit vielen Kindern und Erwachsenen geredet. Es ist immer ziemlich ähnlich. Der Schmerz bleibt in unserem Herzen, weil wir nicht darüber reden können. Es ist ein Tabu. Man versucht sich vorzustellen, wie es eigentlich sein sollte. Aber das werde ich niemals in meinem Leben wissen. Das tut weh.

Wann haben Sie angefangen, sich zu engagieren?

„Wir müssen auch gegen unsere eigenen Traditionen arbeiten“

Das war 2005, ich war noch ganz jung. Ich denke, ich bin jemand, der sich selbst nicht als Opfer begreift. Jede Frau muss lernen, aus ihrer Vergangenheit heraus für eine bessere Zukunft zu kämpfen – für uns und für unsere Kinder. Wir, die nicht mehr im Senegal wohnen, müssen etwas tun. Es geht darum, nicht nur Geld zu schicken, sondern auch Informationen über Gesundheitsthemen zu vermitteln. Wir müssen dabei auch gegen unsere eigenen Traditionen arbeiten.

Im Frühjahr 2019 waren Sie wieder im Senegal. Was haben Sie dort gemacht?

Seit 2005 organisieren wir im Senegal Projekte. Zuerst haben wir mit „World Vision“ gearbeitet, letztes Jahr mit einer Organisation aus der Schweiz. Zuerst haben wir in Dörfern Jugendclubs gegründet, bei denen jeweils 20 bis 25 Jungen und Mädchen mitmachen. Die Jugendlichen haben Patenschaften für Kinder aus ihren Dörfern übernommen. Als Patinnen und Paten sollen sie die Kinder ins Krankenhaus begleiten, dafür Sorge tragen, dass sie Impfungen bekommen und dass die Mädchen nicht beschnitten werden.

Insgesamt haben wir mehr als 100 Jugendliche gewonnen, die Patenschaften für mehr als 200 Babys übernommen haben. Außerdem haben wir einen Frauenverein gegründet und auch mit religiösen Autoritäten und Sportlern gearbeitet. Wir haben Aktivitäten an Schulen angeboten und ein Forum für Menschen verschiedener Generationen gegründet.

Was hat sich dadurch verändert?

Bei den Jugendlichen ist es leichter als bei den Älteren. Sie verstehen oft besser, worum es geht. Sie haben Internet, reden mit Leuten und gehen in die Schule, wo sie etwas über die menschlichen Organe lernen. Die älteren Leute sind oft radikaler.

„Der Schmerz bleibt in unserem Herzen“

Wir haben gemerkt, dass es mit der Zeit leichter wurde, über die Beschneidung von Frauen zu reden. Die Leute hatten keine Angst mehr und es war ihnen nicht mehr peinlich. Es war auch möglich, über Schwangerschaften von Mädchen zu sprechen, die noch zur Schule gehen. Das ist ein großes Thema in den Dörfern. Wir haben mit unterschiedlichen Communities gearbeitet und am Ende immer eine Vereinbarung getroffen. Darin haben die Communities selbst festgelegt, dass bei ihnen keine Frauen mehr beschnitten werden.

Wie ist die aktuelle Situation im Senegal? Wie viele Mädchen werden beschnitten?

Statistisch gesehen sind im Senegal 27 Prozent der Mädchen betroffen, aber diese Zahl vermittelt ein falsches Bild. Denn in jeder Region ist es anders. In Kolda zum Beispiel werden 94 Prozent der Mädchen beschnitten. In Dakar stellen die Wolof die größte ethnische Gruppe dar, die keine Beschneidungen durchführen. Das heißt: Wenn wir in eine Statistik Gruppen einbeziehen, bei denen es keine Beschneidungen gibt, drückt das den Schnitt.

Ich muss aber sagen, dass es Schritt für Schritt vorangeht. Mehr als tausend Communities haben inzwischen so eine Vereinbarung getroffen. Das heißt: Die Kommunikation funktioniert gut. Es ist kein so großes Tabu mehr. Inzwischen ist es möglich, in der Schule oder in religiösen Gebäuden über die Beschneidung von Frauen zu reden.

Wie sieht die Situation in anderen Ländern aus?

„Die Opfer leben auch hier in Deutschland“

Im Sudan, in Guinea oder in Indonesien ist es ein großes Problem. Auch in Deutschland werden Mädchen beschnitten. Geflüchtete, die nach Europa kommen, stammen nicht nur aus Syrien, sondern auch aus Ländern wie Eritrea und dem Sudan. Im Sudan sind 99 Prozent der Frauen beschnitten. Das ist ein Gepäckstück, das direkt aus den Herkunftsländern mit nach Deutschland kommt. Es gibt auch Mädchen, die in Deutschland geboren wurden, aber trotzdem beschnitten sind.

Was kann man dagegen tun?

Es ist gut, Organisationen wie „Terre des Femmes“ zu unterstützen. Wir brauchen mehr Support! Wichtig ist, mit den Communities ins Gespräch zu kommen. Viele lesen keine Nachrichten und gucken kein Fernsehen, weil ihre Sprachkenntnisse nicht ausreichen.

In Deutschland bräuchten wir mehr Kapazitäten, um Flyer mit Informationen an Orten auszulegen, wo sich Afrikanerinnen und Afrikaner treffen – zum Beispiel beim Kinderarzt oder im Afro-Shop. Ich denke, das hilft mehr als die Änderung von Gesetzen. Denn die meisten haben sowieso keine Ahnung, was in den Gesetzen steht. Wir organisieren Projekte im Senegal und in Guinea, aber wir müssen auch hier etwas tun. Die Opfer leben auch hier.

Aus welchen Gründen werden Frauen beschnitten?

Viele der Frauen auf den Dörfern denken, ohne Klitoris hätten die Mädchen kein Interesse an Männern. Auf manchen Dörfern glaubt man auch, eine Frau mit Klitoris sei nicht sauber. Es heißt, dass sie zum Beispiel nicht beten könne. In anderen Communities wiederum geht es um die Kontrolle von Frauen. Man näht sie zu, damit sie vor der Heirat keinen Sex haben können. Jede Community hat ihre eigenen Gründe.

Und wie argumentieren Sie dagegen?

In jeder Community muss ich andere Argumente bringen. Wenn die Menschen denken, dass die Beschneidung von Frauen etwas mit Religion zu tun hat, ist es am einfachsten. Dann erklären wir, dass der Prophet Mohammed seine Töchter nicht beschnitten hat. In Saudi-Arabien beispielsweise ist der Anteil der beschnittenen Frauen ganz niedrig – nicht wie Indonesien oder in Guinea.

„Als Erwachsene können wird besser erkennen, was damals passiert ist“

Wir müssen ganz klar feststellen: Die Beschneidung von Frauen ist eine gesellschaftliche Norm. Das hat überhaupt nichts mit Religion zu tun. Wir versuchen, das deutlich zu erklären. Manchmal laden wir dafür eine Frauenärztin ein – oder einen Imam, der erklären kann, was die Religion dazu sagt.

Wie hängt Ihr Engagement mit Ihrer Musik zusammen?

Ich nutze meine Musik, um Tabus zu brechen. Die Leute haben immer Angst, über die Beschneidung von Frauen zu reden. Ich nehme Informationen und verpacke sie in eine schöne Melodie. Jeder kann sich das anhören und muss sich dabei nicht peinlich berührt fühlen.

 

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