„Überleben um jeden Preis ist für mich kein Motto“
Kaum ein anderer hat sich in so vielen und so unterschiedlichen Institutionen für Menschen mit HIV/Aids eingesetzt und Dinge bewegt wie Rainer Ehlers. Er war als bundesweit erster HIV-Berater beim Kölner Gesundheitsamt angestellt, ist Mitbegründer der Aidshilfe Köln, Gründer der Stiftung „Positiv leben“ und bereitete schließlich noch einmal ganz neue Wege: Zehn Jahre lang kümmerte sich Rainer Ehlers – damals hieß er noch Jarchow – in der bundesweit ersten Pfarrstelle für Menschen mit HIV und Aids um deren Seelsorge und unterstützte Erkrankte und deren Angehörige. Nach dem Tod seines Ehemanns ist Rainer Ehlers nach Helgoland gezogen.
Im Gespräch mit magazin.hiv spricht das Ehrenmitglied der Deutschen Aidshilfe über Infektionsrisiken, Eigenverantwortung und die Lebensnotwendigkeit menschlicher Nähe.
Die Corona-Krise haben wir alle als Phase einer ungewohnten Isolation erfahren. Wie hast du das auf einer Insel, fast 50 Kilometer vom Festland, erlebt?
Rainer Ehlers: Ich fühlte mich dort sehr geschützt. Die Isolation ist ja das Grundgefühl auf dieser Insel. Wir leben dort mit dem Wissen, dass es Zeiten gibt, in denen man nicht wegkommt, weil die Flug- und Schiffsverbindungen extrem wetterabhängig sind.
Diese Isolation war genau das, was ich nach dem Tod meines Ehemanns gesucht habe und was ich auf Helgoland genieße. Die rund 1300 Menschen, die auf der Insel leben, sind in dieser Zeit natürlich noch enger aneinandergerückt. Aber eingesperrt ist dort niemand, sondern wir haben den Luxus, viel Platz inmitten der Natur zu haben.
Wann hast du zum ersten Mal bewusst registriert, dass dieser COVID-19-Ausbruch in Wuhan auch mit dir ganz persönlich etwas zu tun hat?
Eigentlich sehr früh, weil mich die Auswirkungen sehr direkt trafen. Ich bin noch am 6. März zu einer Freundin nach Houston/Texas geflogen, am 13. März sollte die Rückreise sein. Das war zugleich der letzte Tag, an dem Flüge nach Deutschland möglich waren. Die Entwicklung hatte ein Tempo, wie ich es nicht für möglich gehalten hätte.
Warst du zu diesem Zeitpunkt bereits beunruhigt und besorgt, zum Beispiel um deine Gesundheit?
Obwohl sich ja auch in den USA so schnell alles verändert hat – in Houston wurden beispielsweise die dort sehr bedeutsamen Rodeo-Wettkämpfe abgebrochen – nahm ich das eher gelassen zur Kenntnis. Überrascht war ich allerdings bei der Ankunft am Frankfurter Flughafen, wie wenig Menschen hier zu diesem Zeitpunkt Schutzmasken trugen. Ich hatte da nur noch das Bedürfnis, schnell auf meine Insel zu kommen.
Du bist in einem Alter, in dem man zur Risikogruppe zählt …
Ich gehöre sogar zur Hochrisikogruppe, aufgrund meines Alters und der Lungenschädigungen durch das lange Rauchen.
Hast du das beängstigend empfunden?
Ich gehörte bereits in den 80er Jahren zu einer Risikogruppe; damals, weil ich schwul bin. Das ist also nichts Neues für mich. Ich fand diese Kategorisierung immer etwas scheinheilig, denn es wird eine Sicherheit vorgegaukelt, die keiner will. Dass jetzt in manchen Ländern Leuten über 65 Jahren verboten wird, das Haus zu verlassen, bedeutet für diese Menschen eine ungeheure Qual.
Ich fand auch diese Besuchsverbote in den Altersheimen und Krankenhäusern bei uns sehr schrecklich und habe mich daher auch so aufgeregt, dass die Kirchen nicht gegen diese Unmenschlichkeit protestiert haben. Ich sterbe doch lieber unbehandelt in den Armen meines Sohnes, als dass ich in dieser Isolationshaft überlebe.
„Ich will mein Leben so selbstbestimmt leben wie möglich. Und dazu gehört auch, ein Ansteckungsrisiko einzugehen“
In den 80ern gehörtest du zu einer Risikogruppe, weil du ein sexuell aktiver schwuler Mann warst. Das Risiko ergab sich also aus dem eigenen Verhalten. Bei COVID-19 ist die Situation eine andere. Ich kann mich bereits durch das Atmen mit dem Virus infizieren. Ist das nicht ein sehr entscheidender Unterschied zu HIV?
Ich bin ein Mensch, der Nähe sucht und Nähe will. Mich nun von Menschen entfernen zu müssen, sie nicht umarmen oder ihnen die Hand geben zu dürfen, ist für mich einfach furchtbar. Ich habe für mich deshalb entschieden: Menschen, die ich liebe, frage ich, ob wir uns umarmen wollen. Wenn ich mich dann infiziere, ist das eben so.
Meine Angst vor dem Tod ist gering. Ich bin nun 78, das Ende naht ohnehin. Der Tod hat für mich nicht den großen Schrecken. Das habe ich damals schon bei HIV und Aids gedacht, als wir noch wenig über die Übertragungswege wussten. Sollte ich mich zum Beispiel beim gemeinsamen Abendmahl infizieren, weil ich aus dem gleichen Kelch trinke, dann bin ich bereit, die Infektion entgegenzunehmen, anstatt auf den Kelch zu verzichten.
Ich verstehe jeden, der Angst hat, der sich distanzieren und seine Wohnung nicht verlassen möchte. Für mich aber gilt das nicht. Ich will mein Leben so selbstbestimmt leben wie möglich. Und zu dieser Selbstbestimmung gehört dann auch, ein Ansteckungsrisiko einzugehen. Ich war daher auch sehr angetan, dass und wie sich Wolfgang Schäuble dazu geäußert hat. Dass nicht das Leben an erster Stelle steht, sondern die Würde des Menschen. Die Haltung entspricht letztlich auch dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Suizidhilfe. Überleben um jeden Preis ist für mich kein Motto und ist es auch nie gewesen.
„Während dieser ganzen Corona-Krise war Sexualität überhaupt kein Thema“
Mittlerweile haben wir mehr als 30 Jahre Erfahrungen gesammelt, wie wir am besten HIV-Infektionen verhindert können. Wurden diese Erfahrungen deiner Ansicht nach im Umgang mit COVID-19 genutzt?
Was offensichtlich nicht gelernt wurde, ist Prävention zu machen. Wenn es beispielsweise Masken gegeben hätte, hätten wir ganz sicher bereits im März auch eine Maskenpflicht gehabt. Es ist also ein Versagen der Politik, dass nicht ausreichend Schutzmasken verfügbar waren.
Was mich aber vielmehr enttäuscht, wenn nicht sogar verärgert hat: Dass während dieser ganzen Corona-Krise Sexualität überhaupt kein Thema war. In der Aidskrise war es uns gelungen, Sexualität aus der Schmuddelecke herauszuholen, sodass in der Gesellschaft viel offener und freier darüber gesprochen werden konnte.
Nun hat man die Bordelle zwar geschlossen, obwohl da am wenigsten geküsst wird. Doch welche Übertragungsrisiken es beim Geschlechtsverkehr tatsächlich gibt, weiß ich nicht. Ich habe zumindest nirgends darüber lesen können.
Nun ist es allerdings naheliegend, dass – wenn sich zwei Menschen beim Sex körperlich sehr nahekommen, allein schon durchs Atmen und Sprechen hohe Übertragungsrisiken bestehen. Es sei denn, es ist ein sehr kurzer Quickie oder sie tragen dabei einen Mund- und Nasenschutz.
Das ist natürlich richtig, aber dass diese Themen einfach nicht angesprochen werden, finde ich fatal. Das war auch schon in der Flüchtlingsfrage so. Wo und mit wem sollen diese Menschen in den Heimen Sex haben? Und wo hatten die Menschen während der Quarantäne Sex? Das alles kommt kaum zur Sprache, und das enttäuscht mich.
Das heißt, du hättest dir – gerade in Anbetracht der in der HIV-Prävention geleisteten Vorarbeit – gewünscht, dass bei den Corona-Maßnahmen auch breit über Infektionsrisiken und Schutzmöglichkeiten beim Sex informiert wird?
Man hätte zur Sprache bringen müssen, dass Sexualität ein menschliches Bedürfnis ist und in diesem Zusammenhang durch Corona auch menschliches Leid verursacht wird. Durch die Aidskrise hatte sich vieles verändert, und ich glaubte, dieses Verschweigen von Sexualität, das die Verbreitung des Virus ja auch befeuerte, sei überwunden.
Männer, die ihre schwule Sexualität offen ausleben, sind in der Prävention besser zu erreichen und besser informiert, wie sie sich beim Sex verhalten können, um sich vor einer Infektion zu schützen. HIV-Prävention basiert also in erster Linie auf einer Verhaltensänderung.
Auch in der Corona-Krise haben wir gelernt, wie wir uns und andere schützen können. Mein Eindruck ist, dass die Gesellschaft hierzulande sich weitgehend sehr diszipliniert an diese Regeln gehalten hat und wir deshalb – im Vergleich zu anderen Ländern – bislang sehr gut durch die Krise gekommen sind. Haben wir also zumindest in diesem Punkt durch HIV/Aids gelernt?
Ich glaube, die Bevölkerung hält sich an diese Vorschriften in der Tat mehr aus Vernunft denn aus Angst wie damals in der Aidskrise. Ich persönlich kenne beispielsweise keinen Menschen, der tatsächlich an COVID-19 erkrankt ist. Wenn wir davon ausgehen, dass aktuell etwa 5.000 Menschen in Deutschland akut infiziert sind, ist das auch nicht sehr verwunderlich.
Bei COVID-19 ist es natürlich sehr von Vorteil, dass die Infektionsketten schnell nachverfolgt werden können. Ich möchte mir aber nicht vorstellen, dass man damals so auch nach HIV-Infizierten gesucht hätte.
Du sagst, dass du dir mehr Engagement von den Kirchen erwartet hättest. Also eine Aufweichung der Sicherheitsmaßnahmen zum Beispiel in Pflegeheimen?
Nein, man darf natürlich nicht sorglos sein, aber jetzt gibt es sehr phantasievolle Wege, wie in den Altenheimen Besuche möglich gemacht werden. Das hätte man mit etwas Kreativität auch schon im März hinbekommen. Dafür hätte nur jemand entsprechend Druck machen und sagen müssen: „So geht man nicht mit Menschen um!“.
Hast du bei dir selbst oder bei Freunden erlebt, dass diese Corona-Ausnahmesituation Traumata aus der Aidskrise getriggert und Ängste oder schmerzhafte Erinnerungen wieder hochgespült hat?
Nur ganz wenig. Es ist allerdings merkwürdig, dass ich immer derjenige war, der diese Analogie erwähnt hat, die anderen kamen von sich aus nicht darauf. Dann allerdings kam in den Gesprächen wieder viel hoch. Aber es lag nicht auf der Oberfläche und wurde daher wohl auch nicht als belastend empfunden.
„Solange wir keinen Impfstoff haben, bleibt uns nichts anderes übrig, als mit den Risiken zu leben.“
Sollten wir uns darauf einstellen, dass wir uns längerfristig mit dem neuen Virus arrangieren müssen und sich damit auch unser Leben ändert?
Wenn wir keinen Impfstoff und kein Heilmittel haben, bleibt uns nichts anderes übrig, als mit den Risiken zu leben. Das gilt für Corona wie für HIV. Man kann sich vor einer HIV-Infektion schützen, aber man ist nicht immer geschützt. Diese Risikobereitschaft müssen wir haben. Ich meine damit nicht Leichtsinnigkeit, aber ich darf mich auch nicht in völliger Sicherheit wiegen. Das ist meiner Meinung nach auch eine gute menschliche Erkenntnis. Ich als alter Mann darf das auch als Lebensweisheit weitergeben.
Aber ich kann zu meiner eigenen Sicherheit und der anderer möglichst viel beitragen.
Richtig, aber es muss nicht alles zusammenbrechen, wenn der Ernstfall eintritt.
Im Zusammenhang mit COVID-19 wurde immer wieder auch das Schlagwort „Aus Krisen lernen“ bemüht.
Ich fürchte, dass dies nicht der Fall sein wird. Ich glaube aber auch, dass dieser Pessimismus, der jetzt verbreitet wird, die Angst vor der Zukunft und einem wirtschaftlichen Kollaps, professionell gemacht ist – auch von Journalisten. Denn Optimismus wird nicht ernstgenommen, und das ist eine traurige Entwicklung. Dabei wissen wir, dass allein Optimismus die Wirtschaft antreiben kann.
Denkst du, dass die Krise auch das soziale Miteinander verändert hat?
Wenn, dann zum Guten. So habe ich es zumindest erlebt. Man ist mehr zusammengerückt und hat gemerkt, wie sehr einem die Nähe fehlt, die vorher so selbstverständlich war.
Was sollte Gesellschaft aus den Erfahrungen der zurückliegenden Monate in die Zeit danach mitnehmen?
Toll fände ich, wenn weniger gereist würde. Und dass nicht nur in Sachen Urlaub, sondern etwa auch bei Lebensmitteln das Regionale wieder mehr in den Fokus genommen und gefördert wird. Das wären schöne Nebeneffekt dieser Corona-Krise.
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