Filmkritik Girl

Verpasste Chance? Über, aber nicht für trans* Menschen

Von Axel Schock
Beitrag Filmkritik Girl
„Girl“ ist ein ungemein intensives Porträt der (fiktiven) 15-jährigen Lara und einer der wenigen Coming-of-Age-Filme über eine trans* Jugendliche. Das unter anderem beim Filmfestival in Cannes ausgezeichnete Drama ist allerdings umstritten.

Die Kamera lässt keinen Zweifel daran, wer hier im Fokus steht: Ob zu Hause, bei ihrem Vater (Arieh Worthalter) und ihrem kleinen Bruder, bei der Familienfeier oder den harten Exerzitien in der Ballettschule – die Kamera lässt Lara nicht aus dem Blick.

Immer wieder zeigt sie uns Laras Gesicht im Großformat: ihr Strahlen und Lachen, ihren strengen und für eine Jugendliche ihres Alters sehr ernsten Blick.

Lara steht unter enormem Druck

Wir sehen sie aber auch in Situationen, in denen sie mit dem Schmerz kämpft, bei den körperlichen Torturen im Ballettunterricht wie den seelischen. Denn Lara steht unter dem enormen Druck, die Probezeit am staatlichen Konservatorium zu bestehen. Und sie wünscht sich nichts sehnlicher, als ihre Transition zu beschleunigen. Dass sie Medikamente einnimmt, die die männliche Entwicklung unterdrücken, ist ein Etappenerfolg.

Erst mit 16 darf Laura weibliche Hormone bekommen, die ihren Körper wunschgemäß zu verändern beginnen. Doch ihr geht das alles viel zu langsam. Mit derselben Entschlossenheit wie für ihre Ausbildung zur Ballerina kämpft sie für ihr nächstes Ziel: die geschlechtsangleichende Operation.

Der Schein des einfühlsamen und unterstützenden Umfelds trügt

Drehbuchautor und Regisseur Lukas Dhont

„Girl“, das Debüt des belgischen Drehbuchautors und Regisseurs Lukas Dhont, ist gleichermaßen Ballettfilm, Transgender-Geschichte und Coming-of-Age-Drama.

Die Kamera ist dabei stets auf Lara fokussiert. Das verleiht dem Film nicht nur eine subtile Dynamik und einen fast dokumentarischen Touch. Es macht es den Zuschauer_innen leichter, die hier potenzierte emotionale Achterbahnfahrt der Pubertät empathisch mit zu durchleben.

Über eine weite Strecke erzählt „Girl“ eine geradezu vorbild- und lehrbuchhafte Geschichte einer trans* Jugendlichen. Laras Familie, ihr Arzt, selbst die Lehrkräfte und Mitschüler_innen am Konservatorium verhalten sich so einfühlsam und unterstützend, wie man es Jugendlichen in einer solche Lebenssituation nur wünschen möchte.

Doch der Schein trügt, selbst in einem solch offenbar toleranten Umfeld: Ihr kleiner Bruder nennt Lara im Streit bei ihrem alten, männlichen Vornamen. Ihr überaus verständnisvoller, alleinerziehender Vater schreckt zusammen, als Laras Facharzt erläutert, was die geschlechtsangleichende OP konkret bedeuten wird. Gegen den ärztlichen Rat klebt Lara für die Trainingsstunden ihren verhassten Penis ab.

Aus der Trans*-Community kommt heftige Kritik

Bei einer Pyjamaparty drängt die Ballett-Mädchenclique Lara dazu, sich zwischen die Beine schauen zu lassen. Es ist eine entwürdigende und die wohl auch für die Kinobesucher_innen beklemmendste Szene – und zugleich jene, die in der Trans*-Community besonders heftig diskutiert und kritisiert wird.

Ist es zulässig, die Filmfigur Lara (gespielt von dem tanzerfahrenen, durchweg beeindruckend agierenden Victor Polster) immer wieder halbnackt zu zeigen –  und bei dem besagten Gruppenmobbing auch ihre Genitalien? Werden trans* Zuschauer_innen durch diese Zurschaustellung nicht zusätzlich gedemütigt und desillusioniert?

Sendet der Film eine „schädliche und falsche Nachricht“?

Als „Girl“ (nach diversen Auszeichnungen beim Filmfest in Cannes, unter anderem als bester queerer Film) auch den Hauptpreis beim Zurich Film Festival gewann, zeigt sich das Transgender Network Switzerland bestürzt.

„Wir sind entsetzt darüber, dass sich niemand dafür verantwortlich fühlt, was für eine schädliche und falsche Nachricht so ein Film an junge trans Menschen sendet“, heißt es in einer Facebook-Notiz des Netzwerks. Und: „Wie so oft gilt, dass diese Filme zwar über, aber nicht für trans Menschen gemacht werden.“

Es gibt bisher kaum Filme über trans* Jugendliche

Das Hauptdilemma liegt wahrscheinlich darin, dass es bislang kaum Filme über heranwachsende trans* Personen, ihre ganz besonderen Probleme und die seelischen wie gesellschaftlichen Herausforderungen gibt – anders als etwa über das schwule Coming-out.

Die unterschiedlichen Erwartungen der facettenreichen Trans*-Community (die eben auch Menschen einschließt, für die das Frauen- und Körperbild der Ballerina ein Ideal darstellt) und der ebenso diversen „nichtbetroffenen“ Zuschauer_innen lassen sich wahrscheinlich niemals zur Zufriedenheit aller in einem Film zusammenbringen. Zumindest noch nicht.

Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass Lukas Dhont sich vielleicht zu sehr auf Laras Überwindung des eigenen Körpers konzentriert. Die ersehnte geschlechtsangleichende Operation und die Perfektionsmaschinerie des Ballettdrills erscheinen hier wie die beiden Seiten einer Medaille.

Dhont gelingt es allerdings auch, den gesellschaftlichen wie psychischen Druck spürbar werden zu lassen, dem sich trans* Menschen ausgesetzt fühlen. Insbesondere dann, wenn ihr Selbstbild und ihre Souveränität nicht nur an das gefühlte, sondern auch das äußerlich sichtbare Geschlecht gekoppelt sind.

Menschen wie Lara, die nicht nur ihre Identität finden und aufbauen, sondern auch noch mit ihren ersten sexuellen Empfindungen umzugehen lernen muss.

In „Girl“ führt dies zu einer verstörenden und ebenfalls heftig kritisierten Schlusswendung – wenn auch dramaturgisch völlig schlüssig.

„Girl“. Belgien 2018. Regie: Lukas Dhont. Victor Polster, Arieh Worthalter, Oliver Bodart, Tijmen Govaerts. 106 Minuten, Kinostart: 18. Oktober 2018

Trailer (deutsche Fassung)

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