Prävention und Pandemien

Von Superspreadern und Virenschleudern

Von Axel Schock
© DAH | Bild: Renata Chueire
Trotz der Unterschiede bei Infektionswegen und Verbreitung gibt es Parallelen zwischen Covid-19 und HIV: bei Fragen zu Schuld, Diskriminierung und Solidarität. Das zeigte ein Online-Podiumsgespräch.

HIV und SARS-CoV-2 bzw. Aids und Covid-19 haben in medizinisch-epidemiologischer Hinsicht nur wenig gemeinsam. Zu verschieden sind etwa die Übertragungswege und damit auch das Tempo der Ausbreitung sowie die Sterblichkeitsrate. Ergiebig ist dagegen ein Blick auf die soziale Dimension der beiden Pandemien und auf die jeweiligen gesellschaftlichen Reaktionen. Denn hier sind die Ähnlichkeiten frappierend, wie Franziska Hartung festgestellt hat. Die Sozialpädagogin und Sexualwissenschaftlerin hat u. a. in der HIV- und STI-Beratung gearbeitet und im vergangenen Jahr mit „HIV und Schuldgefühle: Zur Psychodynamik in der HIV-Testberatung“ eine Studie zu diesem Kontext vorgelegt.

„Die Krankheit wird zu einer Krankheit der anderen gemacht.“

Wie in den Anfangsjahren der HIV-Epidemie treffen nun auch bei Corona Verunsicherung und Angst auf die Suche nach Schuldzuweisung und Sündenböcken, sagt Franziska Hartung: „Die Krankheit wird zu einer Krankheit der anderen gemacht. Und wie in der Aidskrise spielen auch Verschwörungsmythen und soziale Ungleichheit eine nicht unwesentliche Rolle.“

Ohne die besonderen Einschränkungen durch Corona hätte die wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) ihre Gedanken im Deutschen Nationaltheater Weimar erläutert. So aber musste das Gespräch zu „Corona und HIV. Schuld, Diskriminierung und Solidarität in pandemischen Zeiten“ im Rahmen einer Veranstaltungsreihe des Forschungsverbundes „Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt“ ins Netz verlegt werden – fand dafür aber auch ein überregionales Publikum.

Schuld, Diskriminierung und Solidarität in pandemischen Zeiten

Fatal an der Aidskrise sei die „unsägliche Benennung von Risikogruppen“ gewesen, sagt Hartungs Gesprächspartner Peter Thürer. Dies habe zu einem immensen Risiko- und Stigmatisierungspotenzial geführt. Der Sozialarbeiter und Sexualpädagoge arbeitet bereits seit 26 Jahren im Bereich Beratung, Bildung und Begleitung in der Aidshilfe Leipzig. Dass die Mitglieder dieser Gruppen zu „Motoren der Seuche“ gemacht wurden, halte bis heute Menschen vom HIV-Test ab – aus Angst, sich damit zugleich outen zu müssen. Heterosexuelle Menschen fühlten sich hingegen oft zu selbstverständlich auf der „sicheren Seite“.

Dass Stigmatisierung und Diskriminierung bis heute nachwirken, kann Franziska Hartung mit aktuellem Zahlenmaterial belegen. Sie ist mitverantwortlich für das vom IDZ gemeinsam mit der DAH durchgeführte Interviewprojekt „Positive Stimmen 2.0“: Die Hälfte der Befragten fühlte sich demnach durch Vorurteile beeinträchtigt; ein ähnlich großer Anteil der Befragten hatte im zurückliegenden Jahr aufgrund der HIV-Infektion sexuelle Zurückweisungen erlebt. Zu einer weitgehenden Entstigmatisierung der HIV-Erkrankung, wie man sie durch die Behandlungsmöglichkeiten erwartet hatte, sei es noch nicht gekommen. Auch die apokalyptischen Szenarien, die in den ersten Jahren der Epidemie in den Medien ausgebreitet wurden, wirken sich bis heute aus, ergänzt Franziska Hartung.

Nun, in der Corona-Pandemie, fluten die Informationen weitaus schneller durch das Internet und die sozialen Medien. Franziska Hartung empfindet gerade dieses Überangebot an Informationen problematisch: „Die Menschen sind davon überfordert und auch mit vielen Falschinformationen konfrontiert.“ Doch inwieweit erleben wir auch bei Corona Formen von Diskriminierung und Stigmatisierung? Denn schon marginalisierte Hauptbetroffenengruppen – wie dies zu Beginn der HIV-Epidemie Drogengebraucher*innen, Schwule oder Sexarbeiter*innen waren –, gibt es bei SARS-CoV-2 nicht. Oder doch?

„Die Krankheit der anderen“

Franziska Hartung weist in diesem Zusammenhang auf eine wichtige Erkenntnis hin: Bei HIV-spezifischer Diskriminierung sei HIV lediglich das Vehikel, das erst durch andere Formen der Diskriminierung wie Homosexuellenfeindlichkeit und Rassismus die entscheidende Wirkmacht erhält. Nur so gelingt es, die Viruserkrankung zu einer „Krankheit der anderen“ zu machen – oder zur „Strafe“ für einen lustvollen, normabweichenden Lebensstil. So war Syphilis zunächst wahlweise die französische, polnische oder spanische Krankheit. HIV wurde zunächst als „Gay Related Immune Deficiency“ (GRID), also als schwulenspezifisches Syndrom beschrieben – und SARS-CoV-2 wurde zum „China-Virus“.

Dass Risikogruppen zu Gefahrengruppen und damit zu Täter*innen gemacht werden, scheint also bei Seuchen geradezu systemimmanent zu sein. Dabei hat die sexuelle Übertragbarkeit des HI-Virus der Stigmatisierung Vorschub geleistet. Bei Corona sind es insbesondere rassistische Verknüpfungen, wie Franziska Hartung erläutert.

Vor allem zu Beginn der Pandemie, wie aus Berichten der Antidiskriminierungsstelle des Bundes hervorgeht, erlebten asiatisch gelesene Personen rassistische Beleidigungen. Ihnen wurde beispielsweise der Zugang zu Geschäften verweigert. Nun sind tatsächliche oder vermeintliche „Superspreader“ als Treiber der Pandemie und Infektionsherde Vorwand zur Diskriminierung. Man denke an Leiharbeiter*innen in der Fleischindustrie oder an Unterkünfte für geflüchtete Menschen, in denen nach einzelnen Infektionsfällen mit Ausgangssperren alle Bewohner*innen in Gefahr gebracht wurden. Ein weiteres Beispiel sind Sinti- und Roma-Familien, deren Wohnhäuser medienwirksam aus seuchenpolizeilichen Gründen abgeriegelt wurden.

Wie in der HIV-Epidemie sind es also auch während Corona gerade die sozial benachteiligten Gruppen, die nicht nur gesundheitlich besonders gefährdet, sondern im Zuge dessen verstärkt gesellschaftlicher Ächtung und Diskriminierung ausgesetzt sind.

Mit Solidarität gegen soziale Ungleichheiten

Was können die Verantwortlichen von HIV-Präventionsstrategien lernen?

Sollte die Corona-Pandemie in einer nicht allzu fernen Zeit zwar überwunden sein, würden die sozialen Ungleichheiten aber bleiben, befürchtet Franziska Hartung. Dabei wäre jetzt einmal mehr die Gelegenheit dazu, Ungleichheit und Missstände, Benachteiligungen und schlechte soziale Strukturen abzubauen und damit Machtverhältnisse neu zu ordnen. Das hieße schlicht, Solidarität zu beweisen. Denn genau darum ginge es bei diesem derzeit viel zitierten Wort – neben Maskentragen, Abstandwahren oder Nachbarschaftshilfe – in letzter Konsequenz: nicht nur sich selbst, sondern auch andere zu schützen – insbesondere jene, denen es nicht möglich ist.

Den solidarischen Ansatz verfolgten, wie Peter Thürer anmerkt, auch die Aidshilfen zu Beginn der HIV-Epidemie, bis sich mit der Behandelbarkeit der Infektion die Prävention hin zum Risikomanagement entwickelte. Was also könnten die heute politisch Verantwortlichen von den HIV-Präventionsstrategien lernen? Damit Aufklärungskampagnen nachhaltig wirken, müssten immer wieder „Erinnerungsimpulse“ gesetzt und „Infos in die Allgemeinbevölkerung hineingetragen, aber auch für spezielle Teilzielgruppen aufbereitet werden“, erklärt Peter Thürer.

Dass heute diese Informationen vor allem im Netz abrufbar sind, obwohl die am meisten Gefährdeten – nämlich alte Menschen – häufig weder über Internetzugang noch ein Smartphone verfügen, ist für ihn nicht nachvollziehbar. Ererinnert daran, dass die Gesundheitsministerin Rita Süssmuth ihrerzeit jeden Haushalt mit der Broschüre „Was Sie über AIDS wissen sollten“ versorgte.

Strategien mit den Betroffenen entwickeln und umsetzen

Zielgruppenspezifische Strategien könnten nur partizipativ entwickelt und umgesetzt werden, betont Franziska Hartung – etwa in Zusammenarbeit mit der Alten-, Behinderten- und Wohnungslosenhilfe, der Migrant*innencommunity oder deren Interessenvertretungen. Nicht zu vergessen sind jene Menschen, die aufgrund ihrer Lebens- oder Arbeitsverhältnisse Abstandsregeln und Hygienemaßnahmen nur schwer umsetzen können. Der Erfolg der HIV-Prävention in Deutschland sei ein Beleg dafür, wie wichtig es sei, akademisches mit lebensweltlichem Wissen der Communitys zu verbinden und Risiko-Minimierungsstrategien gemeinsam mit den besonders betroffenen und vulnerablen Gruppen zu entwickeln. Als Beispiel nennt Hartung Spritzentauschprogramme für Drogengebraucher*innen.

Schuldgefühle als kollektive Erfahrung

„Wäre dieser Kontakt wirklich notwendig gewesen?“

Zu wissen, wie ich mich schützen kann, ist das eine. Sich konsequent und ohne Ausnahme daran zu halten, ist womöglich nicht jederzeit möglich. Das gilt für Safer Sex genauso wie für die AHA-Regeln. Dabei kann ein Verstoß, der womöglich zu einer – unter Umständen vermeidbaren – Infektion führt, Schuldgefühle auslösen, selbst wenn es keine Schuldzuweisungen von außen gibt. „Ich bin von mir selbst enttäuscht, weil ich mich nicht richtig verhalten habe“, erläutert Franziska Hartung diesen Mechanismus. Das gilt umso mehr, wenn die Verstöße gegen die Verhaltensnormen nicht im beruflichen, sondern im privaten Kontext geschehen.

Wäre dieser Kontakt wirklich notwendig gewesen? Warum habe ich mich hinreißen lassen, den anderen Menschen zu umarmen? Warum habe ich die Maske abgenommen, warum vergessen, den Abstand zu wahren? – Diese ständige innere Aushandlung mit sich selbst und den Mitmenschen ist eine Grunderfahrung in der Corona-Pandemie, die sich womöglich ins kollektive Gedächtnis einschreiben wird.

Link zur Videoaufzeichnung des Podiumsgesprächs: youtube.com/watch?v=0j_g97SNLys


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