Zeiten der Panik
Ein Spötter nannte es mal liebevoll das „kleinste Großraumbüro Berlins“. Fünf Aidshilfe-Mitstreiter der ersten Stunde teilen sich 1985 zehn Quadratmeter Hinterhofzimmer sowie zwei Telefone und drei Schreibmaschinen. Gearbeitet wurde von den Ehrenamtlern vor allem nachts, nach Feierabend.
Gründung des bundesweiten Dachverbandes
Das hatte zudem den Vorteil, dass die akustische Dauerberieselung durch die nahegelegenen Stadtautobahn ein paar Dezibel geringer ausfiel. Trotz der widrigen Umstände aber meisterte der damalige Vorstand der Deutschen AIDS-Hilfe, bestehend aus dem Juristen Jürgen Roland, dem Arzt Ian Schäfer und dem Bibliothekar Gerd Paul, die einmalige Herausforderung: aus einem lokal agierenden Verein sollte ein bundesweiter Dachverband erstehen.
Nur so konnte die Förderung durch Bundesmittel erreicht und die vielen anstehenden Aufgaben in Angriff genommen werden – von der politischen Lobbyarbeit in den Ministerien über die Entwicklung von Präventionsmaterialien bis hin zur Vernetzung, Koordination und Unterstützung der regionalen Aidshilfen.
Am 1. Januar 1986 war es schließlich soweit. Die Deutsche AIDS-Hilfe bezog in der Berliner Straße 37 im Stadtteil Wilmersdorf die ersten eigenen Büroräume. Die Freude über die vergleichsweise geräumige neue Heimat erhielt sehr schnell einen Dämpfer, denn in dem Ärztehaus formierte sich Widerstand gegen die neuen Mitmieter.
Die Inhaber sämtlicher in dem Gebäude niedergelassenen Ärzte schlossen sich zusammen, um den Eigentümer und Vermieter unter Druck zu setzen. Sie fürchteten sich nicht nur um ihren Umsatz, sondern auch um die Gesundheit ihrer Patienten.
Panik und Ausgrenzung
„Die Panik unter der Bevölkerung und die damit einhergehende Ausgrenzung insbesondere von Schwulen war zu dieser Zeit sehr groß“, erinnert sich Gerd Paul. Doch dass sich hier Ärzte wider besseren medizinischen Wissens dazu herabließen, gegen die Aidshilfe zu mobben, war umso erschreckender.
Denn die ersten medizinischen Erfahrungen und Erkenntnisse zu HIV und Aids aus dem internationalen Bereich waren längst auch in Deutschland publiziert und diskutiert worden. „Jeder Arzt, der sich dem Thema nicht völlig verweigerte, hat davon auch erfahren“, weiß Paul.
Dass die DAH dennoch ihre Arbeit in den neuen Räumen unbesorgt aufnehmen konnte, hatte man dem beherzten Vermieter zu verdanken. „Der war ein richtiges Berliner Original mit dem Herzen auf dem rechten Fleck“, erinnert sich Gerd Paul. Er stand zu seinem Wort und ließ sich von den Beschwerden der Ärzte einfach nicht beeindrucken. Ebenso wenig das DAH-Team.
Erschütternde Erfahrungen im Gesundheitswesen
„Angesichts der vielen Probleme und der vielen Arbeit, die wir damals in der Aufbauphase tagtäglich leisten mussten, waren diese Anfeindungen nicht mehr als eine Randerscheinung.“ Frustierende, bisweilen erschütternde Erfahrungen mit Ärzten und anderen Beschäftigten im Gesundheitswesen waren zu dieser Zeit trauriger Alltag.
„Die ersten Ärzte, die sich mit Aids befassten, waren nicht zwangsläufig Sympathieträger“. Paul erzählt von „unsympathischen Herrenreitertypen“ und erklärten Schwulenhassern unter den Klinikärzten und von empörenden Bedingungen in der Behandlung und Pflege. Ein Radiobericht über einen solchen Misstand hatte ihn 1983 schließlich auch zur Aids-Hilfe gebracht.
Ein Krankenhauspfarrer hatte den Sender Freies Berlin darauf aufmerksam gemacht, dass ein aidskranker schwuler Mann im Klinikum Steglitz fern jeglicher pflegerischer Standards versorgt wurde. Aus Angst vor einer Infektion stellten die Pflegekräfte dem Schwerstkranken das Essen nur noch vor die Tür und überließen ihn weitgehend seinem Schicksal.
Pflegeskandale auf Aids-Stationen
„Wenn wir nicht einmal korrekt versorgt werden, wenn also aufgrund mangelnder Aufklärung eine solche Panik herrscht, dann müssen wir etwas tun“, sagte sich Gerd Paul damals und wurde zu einem der Gründungsväter zunächst der Berliner und später der Deutschen AIDS-Hilfe.
Deren Aufgaben und damit auch die Zahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wuchs Mitte der Achtziger rasant. Die wenigen Büroräume in der Berliner Straße reichen für die bald über 30 DAH-Beschäftigten längst nicht mehr aus. Deshalb zog die Geschäftsstelle bereits nach zwei Jahren um ins neue Domizil in der Berliner Nestorstraße.
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1 Kommentare
patrick hamm 4. Januar 2013 14:32
danke für das bewahren der gemeinsamen geschichte.
wichtig wäre mir zu betonen, dass keiner wusste, wie sich politisch die lage für positive und auch für schwule entwickeln würde. es war von politikerseite offen von ‚ausdünnung‘ der schwulen und von internierung der positiven u.ä. die rede.
unklar war sowieso, wie sich die zahl der positiven, der kranken und der verstorbenen entwickeln würde und ob / wann es wirksame behandlungsmöglichkeiten geben würde…
nicht zuletzt machte die tatsache, dass es noch fast keine (nichtkommerzielle) schwule infrastruktur gab, das leben schwierig.
ein versuch, mit dem gefühl der unkontrollierbarkeit um zu gehen, war für einige das engagement in der lokalen AIDS-Hilfe. So auch für mich.