Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus können in Deutschland nicht ohne Angst zur Ärztin*zum Arzt gehen. Die Kampagne #GleichBeHandeln fordert deshalb, die „Übermittlungspflicht“ einzuschränken.

Von Helena Salamun

„Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus“: Das sind Bürger*innen eines Nicht-EU-Landes, die in Deutschland ohne den vorgeschriebenen Aufenthaltstitel, ohne Duldung und ohne aktuelle behördliche Erfassung leben. Darunter fallen zum Beispiel Menschen, deren Asylantrag abgelehnt wurde, deren Studierendenvisum ausgelaufen ist oder Personen aus sogenannten sicheren Herkunftsländern.

Personen „ohne Papiere“ können nicht ohne Angst zur Ärztin*zum Arzt gehen

Sie sind Teil der Gesellschaft, sie leben, arbeiten und wohnen hier. Aber die Betroffenen „verstecken“ sich häufig vor Behörden, um nicht abgeschoben zu werden.

Wie viele Menschen in Deutschland in dieser Situation sind, kann man deswegen nur vermuten. Schätzungen aus dem Jahr 2014 zufolge sind es zwischen 180.000 und 520.000 Personen, die „ohne Papiere“ leben – und somit nicht ohne Angst zur Ärztin*zum Arzt gehen können.

Der Name der Hürde: Paragraf 87 im Aufenthaltsgesetz

Der 20-Jährige Vinci* hat das selbst erlebt: Eine neue Brille zu bekommen, war für ihn gar nicht so einfach. Denn die Behörden sollen nicht erfahren, dass er sich nach der Ablehnung seines Asylantrags in Hamburg** aufhält.

Dabei haben Menschen ohne Papiere wie Vinci formal das Recht auf eine (wenn auch eingeschränkte) ärztliche Behandlung, wenn sie akut krank sind. Dafür müssten sie zum zuständigen Sozialamt gehen und einen Behandlungsschein beantragen. Das Sozialamt übernähme dann die Kosten.

Nun kommt das große Aber: Das Sozialamt muss in diesem Fall der Ausländerbehörde die Daten der betroffenen Person übermitteln – das schreibt der § 87 Aufenthaltsgesetz vor. Fällt beim Datenabgleich auf, dass die Person keinen Aufenthaltstitel hat, droht eine Abschiebung. Außerdem stellt das Sozialamt in der Praxis auch keinen Behandlungsschein aus, wenn es nicht für die Person zuständig ist.

Aus Angst vor Abschiebung suchen viele daher gar nicht erst die nötige medizinische Hilfe, obwohl sie ein Recht darauf haben.

„Ich kam mit einem Urlaubsvisum nach Europa“

Bevor Vincis Weg doch noch zu einem Augenarzt in Deutschland führte, hatte er schon eine lange traumatisierende Reise hinter sich.

Als 15-Jähriger entschied er, allein aus seiner Heimat Ghana mit einem Urlaubsvisum nach Griechenland zu fliegen – aber nicht als Tourist. Er habe sich in Europa eine bessere Zukunft gewünscht, um seine kleinen Geschwister zu unterstützen, berichtet er. Denn in Ghana sei es schwierig, Arbeit zu finden.

In Griechenland beschloss Vinci, es weiter nach Deutschland zu wagen, denn seine Tante Fati* wohnte dort schon seit 30 Jahren. Beim zweiten Versuch schaffte er es, mit öffentlichen Verkehrsmitteln Europa zu durchqueren, und der damals 17-Jährige durfte nach Hamburg** zu seiner Tante ziehen.

Vinci stellte einen Asylantrag: Abgelehnt. Man habe ihm nicht geglaubt, dass er noch 17 war, sagt er.

Vinci wurde aber in Hamburg geduldet. Dort konnte er zur Schule gehen, machte ein Praktikum in der IT-Branche und lernte Deutsch, lebte sich etwas ein – bis zu seinem 18. Geburtstag.

Dann, erinnert er sich, verlangten die Behörden, dass er aus Hamburg in eine andere Stadt ziehe. Aber das wollte er nicht, er hatte sich doch gerade erst an Hamburg gewöhnt!

Angst vor Kontrollen und Abschiebung

Vinci blieb deswegen undokumentiert bei seiner Tante und die Duldung lief ab. Seitdem hat er keinen Kontakt mehr zu den Behörden, weil er Angst vor einer Abschiebung hat.

Sein unklarer Aufenthaltsstatus stellt Vinci vor viele Probleme: Er hat Angst, auf der Straße kontrolliert zu werden. Denn wenn er abgeschoben würde, müsste er den ganzen Weg noch einmal auf sich nehmen.

Ohne Aufenthaltserlaubnis in Hamburg darf er auch nicht legal arbeiten. Er hasse es, sich so unnütz zu fühlen, erzählt er. Einmal habe er sich bei Amazon beworben, doch da sei er zurückgeschreckt, als er nach seinen Papieren gefragt wurde. Nicht einmal in den Restaurants seiner Tante Fati könne er aushelfen – aus Angst vor Kontrollen.

„Ich habe Angst, auf die Straße zu gehen“

Dabei findet er, dass seine Tante sehr unterstützend sei. Er könne bei ihr wohnen, sie finanziere ihn und unterstütze ihn auf der Suche nach einem*r guten Anwältin*Anwalt. Vincis große Hoffnung ist, legal in Hamburg leben zu können. „Ich will zurück ins System!“, sagt er.

Vinci berichtet über ständige Schmerzen in seinen Augen. Ins Krankenhaus konnte er nicht gehen, denn da würde er nach seinem Aufenthaltsstatus gefragt, sagt er. Deswegen habe er sich selbst in der Apotheke Augentropfen gekauft, bis er über Sarah* von einer anderen Möglichkeit erfuhr.

Sarah sei eine Deutsche um die 50 und helfe ihm und anderen Geflüchteten bei allen möglichen Angelegenheiten: Wohnen, Behörden und persönliche Sorgen. In der Gruppe mit ihr und den anderen könne er sich austauschen, über seine Traumata reden und bekomme Hilfe.

„Ich habe mich selbst mit Augentropfen behandelt“

Sarah ging mit Vinci zu einem kleinen Büro, dort habe er einen Umschlag und einen Arzttermin bekommen. Den Umschlag habe er beim Arzt abgegeben, dann musste er nichts für die Sprechstunde zahlen. Was darin stand, das wisse er nicht. Vinci habe ein Rezept für eine neue Brille bekommen – die alte hatte längst ausgedient. Die neue Brille musste er selbst bezahlen und nun sehe er viel besser.

Allerdings seien die Augenschmerzen nicht verschwunden. Er würde das gern abklären lassen, sagt Vinci. Doch er sei sich nicht sicher, ob er noch einmal zu dem kleinen Büro gehen könne, ob sie ihn nach Papieren fragen würden. Vielleicht probiere er es demnächst aus.

Clearingstellen, Medinetze und anonyme Krankenscheine

Angebote wie das, welches Vinci gefunden hat, gibt es mittlerweile in einigen Städten.

Dazu gehören etwa anonyme Krankenscheine: Diese funktionieren ähnlich wie ein Behandlungsschein des Sozialamtes, aber die Betroffenen können bei der Ausgabestelle anonym bleiben. Ein Fonds der Stadt oder des Bundeslandes deckt die Kosten, so etwa in Thüringen.

Die anonymen Krankenscheine sind manchmal in sogenannten Clearingstellen erhältlich. Darunter versteht man Beratungsstellen für Menschen ohne regulären Zugang zu medizinischer Versorgung. Sie helfen außerdem bei Aufenthalts-, sozial- und krankenversicherungsrechtlichen Angelegenheiten. Das Ziel ist, den Betroffenen Zugang zum Regelsystem zu verschaffen.

Viele Ärzt*innen behandeln Menschen „ohne Papiere“ kostenlos

Viele Ärzt*innen engagieren sich, indem sie kostenlos behandeln: Sie arbeiten etwa einmal die Woche in humanitären Sprechstunden, zum Beispiel bei den Maltesern. Oder sie empfangen Menschen ohne Aufenthaltstitel gratis in ihrer eigenen Praxis – gemeinnützige Vereine wie Medinetze stellen dafür Kontakt zwischen den Betroffenen und den engagierten Mediziner*innen her. Auf ihren Internetauftritten informieren sie über alle Angebote.

Doch Noah Peitzmann, Ehrenamtlicher beim MediNetzBonn e.V., wünscht sich, dass Betroffene noch besser informiert wären. Sein Eindruck ist, dass die Projekte vor allem durch Mund-zu-Mund-Propaganda bekannt würden – man müsse also wie Vinci gut vernetzt sein, um davon zu erfahren. Die Informationen im Internet seien schwierig zu sortieren.

Parallelstrukturen sind keine nachhaltige Lösung

So hilfreich diese Angebote sind, sie sind teils nur mit ehrenamtlichem Engagement möglich. Zudem sind sie oft befristet und finanziell gedeckelt. Sie behandeln Betroffene in Parallelstrukturen außerhalb des regulären Gesundheitssystems. Die Strukturen gibt es zudem nicht flächendeckend und sie sind untereinander nicht ausreichend koordiniert.

Aus all diesen Gründen seien sie eher „Flickenteppiche“ und keine strukturellen Lösungsansätze, meint die Bundesarbeitsgruppe Gesundheit/Illegalität, der auch die Deutsche Aidshilfe angehört. Ihrer Ansicht nach braucht Deutschland eine bundesweite Lösung, bei der rechtliche Aspekte eine entscheidende Rolle spielten.

Deutschland braucht eine bundesweite Lösung

Auch der Deutsche Ärztetag forderte bereits im Mai 2016: „Die medizinische Versorgung dieser Menschen muss ohne das Risiko einer Meldung an die Ausländerbehörde möglich gemacht werden.“

Gesundheit ist ein Menschenrecht, Personen ohne Aufenthaltserlaubnis können sich aber kaum selbst dafür einsetzen. Bei der Kampagne #GleichBeHandeln der Ärzte der Welt e.V. ist allerdings erstmals auch eine Selbstorganisation von Frauen ohne Papiere, Respect Berlin, mit dabei. #GleichBeHandeln fordert mittels einer Petition, eine Ausnahme für den Gesundheitsbereich im § 87 Aufenthaltsgesetz zu schaffen.

Nötig ist ein Zugang zum Gesundheitssystem für alle

Auch Vinci wünscht sich einen besseren Zugang zur Gesundheitsversorgung. Das deutsche Gesundheitssystem finde er wirklich gut, aber ohne Versicherung habe er keinen Zugang dazu.

Was er tun würde, wenn er einen Unfall hätte oder schwer erkranken würde? Das wisse er nicht und er habe große Angst davor. Und auch viele andere Menschen in seinem Umfeld seien krank und wüssten nicht, wohin sie gehen können. „Sie sollten die Chance haben, eine Behandlung zu bekommen“, findet er. Zumindest wolle er diese Leute mit Sarah und seiner Gruppe vernetzen.

„Ich wünsche mir eine erfolgreiche Zukunft in Deutschland“

Für seine Zukunft hat er genaue Vorstellungen: Er wolle „arbeiten können und einen Beitrag leisten, dort, wo ich herkomme“. Das IT-Praktikum habe ihm gefallen, er möchte gern ein gutes Deutschniveau erreichen und dann eine Ausbildung in dem Bereich machen. Im Fokus stünden dafür aber erst mal die Papiere.

*Namen zur Wahrung der Anonymität geändert

**Ort zur Wahrung der Anonymität geändert

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