DROGENKRIEG

Brasiliens Drogenpolitik: zwei Schritte vor, einer zurück

Von Peter Wiessner
Hanfblatt in gelb-grün
In Brasilien sind schätzungsweise 720.000 Menschen und damit etwa 0,4 Prozent der Bevölkerung HIV-positiv. Bei Drogengebrauchern dagegen sind es fünf Prozent. Die Regierung will diese hohe Rate senken, doch ihre Drogenpolitik ist widersprüchlich. Von Peter Wiessner und Holger Sweers

1972 rief der damalige US-Präsident Richard Nixon den „war on drugs“ aus, 1973 wurde die Drogenbekämpfungsbehörde DEA gegründet. Die brasilianische Militärregierung unterstützte damals den amerikanischen „Krieg gegen Drogen“, auch, weil das Land wirtschaftlich hochgradig von den Vereinigten Staaten abhängig war.

Der „Krieg gegen Drogen“ ist gescheitert

Erklärtes Ziel des „war on drugs“ war und ist, den globalen Drogenanbau, -handel und -konsum in den Griff zu bekommen – durch „null Toleranz“, sprich Verbot und strafrechtliche Verfolgung. Abhängige werden in diesem „Krieg“ nicht als krank, sondern als kriminell wahrgenommen und entsprechend behandelt.

Mehr als 40 Jahre später ist klar: Der „war on drugs“ ist gescheitert. Die internationale Drogenpolitik hat Milliarden Dollar in die falschen Maßnahmen investiert, ohne nennenswerte Ergebnisse vorweisen zu können. Die politisch Verantwortlichen müssen dafür geradestehen, dass sie letztlich nur Korruption und mafiöse Strukturen gefördert, die Gefängnisse mit Hunderttausenden Häftlingen gefüllt und Abertausende Leben zerstört haben.

Drogenverbote richten mehr Schaden an als der Drogengebrauch selbst

Die Umsetzung der Drogenverbote richte mehr Schaden an als der Drogengebrauch selbst, hieß es schon 1998 in einem offenen Brief an UN-Generalsekretär Kofi Annan, der auch vom damaligen Präsidentschaftskandidaten und späteren brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva unterschrieben wurde. Und sein Vorgänger Fernando Henrique Cardoso (Präsident von 1995 bis 2002) sagte im Dokumentarfilm „Breaking the taboo“: „Eine drogenfreie Welt ist utopisch. Wir müssen die Schäden reduzieren, die Drogen Menschen und Gesellschaften zufügen.“

Und diese Schäden sind immens. In Brasilien hat sich die Zahl der Gefangenen zwischen 2002 und 2012 auf fast 548.000 beinahe verdoppelt. Ein Viertel der Gefangenen sitzt wegen Drogendelikten ein. Drogenhandel ist die zweithäufigste Ursache für Verurteilungen. Die Überbelegung in den Gefängnissen – 2012 fehlten 230.000 Plätze – führt zu unerträglichen Zuständen, die Gesundheitsrisiken wie Ansteckungen mit HIV und Hepatitis C sind hoch.

Crack als derzeitiges Hauptproblem

Neueren Studien zufolge konsumieren derzeit 1,2 Millionen Brasilianer Crack, eine Droge mit hohem psychischem Abhängigkeitspotenzial. Brasilien ist damit der weltweit größte Crack-„Markt“. Spritzdrogen dagegen sind hier weniger verbreitet, denn Heroin ist deutlich teurer als Crack. Nach Angaben eines brasilianischen Magazins kostete eine Dosis Heroin im April dieses Jahres 40 Dollar, eine Dosis Crack war hingegen bereits für zwei Dollar zu haben: eine Summe, die sich auch weniger Wohlhabende leisten können.

Nichtsdestotrotz gibt es nach Angaben der brasilianischen Vereinigung für Harm Reduction (ABORDA) seit 1989 schadensminimierende Angebote für intravenös konsumierende Drogengebraucher im Land, zuerst in Santos im Bundesstaat Sao Paulo. Die Vergabe steriler Spritzen stand damals allerdings unter Strafverfolgung, weil sie von den Behörden als Anreiz zum Konsum gewertet wurde. Die Gefahr, als Drogendealer verhaftet zu werden, war für Mitarbeiter der ersten NGOs ein ernsthaftes Problem. Erst 1998 wurden die Gesetze verändert und die Umsetzung schadensminimierender Maßnahmen rechtlich abgesichert. Aber auch damals kam es immer wieder zu Konflikten mit der Polizei, die sich an der Bundesgesetzgebung orientierte und Drogengebraucher, bei denen Spritzen gefunden wurden, verhaftete.

Abwendung von der Null-Toleranz-Ideologie

Der landesweite Durchbruch kam am 23. August 2006 mit der Verabschiedung des Gesetzes 11.343, das zwischen Drogenhändlern und Drogengebrauchern unterscheidet. Wer mit Drogen zum persönlichen Gebrauch erwischt wird, muss nicht mehr unbedingt ins Gefängnis, sondern wird stattdessen zum Beispiel über die Gefahren von Drogen aufgeklärt oder muss Sozialstunden leisten. Auch schadensminimierende Maßnahmen wurden durch das Gesetz als offizielle Politik anerkannt und sind damit rechtlich abgesichert, Harm Reduction für Drogengebraucher wird als Aufgabe der öffentlichen Gesundheitsförderung wahrgenommen. Das Gesetz drückt Respekt vor den grundlegenden Rechten, Entscheidungsfreiheit und der Autonomie des Einzelnen aus.

Die Abwendung von der Null-Toleranz-Ideologie des „war on drugs“, die sich in diesem Gesetz ausdrückt, wäre ohne den engagierten Einsatz der im Bereich der Schadensminimierung tätigen Organisationen und deren Rückhalt in der Zivilgesellschaft sicherlich unmöglich gewesen. Geholfen hat dabei sicherlich die Politisierung der gesamten Bewegung sowie ihr Fokus auf Prävention und die Wahrnehmung des Gesundheitsschutzes als Menschenrecht.

Drogenhandel gilt in Brasilien aber weiterhin als Verbrechen, das mit drei bis fünf Jahren Haft verfolgt wird, und in der Praxis ist es oft unmöglich, zwischen Konsumenten und Dealern zu unterscheiden. Diese mangelnde Trennschärfe wird zu Recht kritisiert. Und angesichts der hohen Zahl der Crack-Abhängigen gibt es Vorschläge, Crack-Konsumenten grundsätzlich zu inhaftieren – zwei Schritte vor, einer zurück.

Prekäre Balance zwischen Sicherheit und Gesundheit

Unter der Regierung von Dilma Rousseff diskutiert der Senat derzeit eine Reform des Drogengesetzes. Dabei geht es vor allem auch um Fragen der inneren Sicherheit und die Überwachung des Kokainanbaus mit hochmodernen elektronischen Mitteln durch Polizei und Militär.

„Sicherheit“ und „Gesundheit“ sind durch Drogenkonsum seit je herausgefordert. In den Staaten Latein- und Mittelamerikas ist das noch offensichtlicher als bei uns. Bei den Null-Toleranz-Aposteln schlägt das Pendel dabei eindeutig zu Gunsten der „Sicherheit“ aus. Dass dabei Menschen auf der Stecke bleiben, spielt bei den Vertretern entsprechender Ideologien eine eher untergeordnete Rolle.

Am 5. Oktober finden in Brasilien Wahlen statt. Dilma Rousseff steht erneut als Präsidentschaftskandidatinzur Verfügung. Danach wird man weitersehen. Bleibt zu hoffen, dass die derzeitige Regierung Brasiliens auf dem von Präsident Luiz Inácio Lula da Silva gebahnten Wege bleibt und zwischen den beiden Polen die angemessene Balance findet.

 

Quellen/weitere Informationen

UNAIDS/Brasilianisches Gesundheitsministerium: Fortschrittsbericht Brasilien 2014 (PDF-Datei in englischer Sprache)

Drogengesetzgebung: Länderbericht Brasilien (in englischer Sprache)

Crack cocaine is king in Brazil: What Sao Paulo is doing about it (Beitrag auf theglobeandmail.com vom 26.4.2014)

Crack cocaine users: new data from Brazil (15.10.2013)

Cracking up (Beitrag auf www.economist,com vom 6.4.2013)

Gefährliche Verbindungen: Gewalt, Drogen und Staat in Rio de Janeiro (Beitrag auf boell.de vom 13.3.2012)

„Gescheiterter Krieg“ (Beitrag auf taz.de vom 31.12.2011)

The History of Brazilian Harm Reduction (Beitrag auf narconews.com vom 9.4.2003)

Offener Brief an Kofi Annan vom 1. Juni 1998 anlässlich der Sondersitzung der Generalversammlung der Vereinten Nationen zu Drogen (in englischer Sprache)

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