Ein guter Tag für die Apotheke der Armen!
Die Preise für Medikamente werden von den Pharmaunternehmen frei festgelegt und orientieren sich dabei an dem, was in den reichen Ländern, vor allem in Europa, bezahlt wird. Auch aus dem HIV-Bereich kennen wir, dass die Preise für neue Medikamente steigen. Es ist wie bei den Autos: Ein neuer Wagen kostet einfach mehr. Die Schmerzgrenze scheint dabei hierzulande noch nicht erreicht worden zu sein. Die teilweise obszönen Preisexzesse der pharmazeutischen Industrie werden mit hohen Produktions- und Entwicklungskosten begründet. Von Einzelstimmen abgesehen stellen Politiker dem nichts entgegen und werfen Nebelkerzen: „Innovation muss sich lohnen“, lautet eines der Schlagwörter, mit dem die Interessen der Industrie im In- und Ausland von Politikern und Lobbyisten verteidigt werden. Einwände werden mit der angeblichen Bedrohung des „Wirtschaftsstandortes Deutschland“ weggebügelt.
Für Menschen in Entwicklungs- und Schwellenländern sind die bei uns festgelegten Preise unerschwinglich. Die Schmerzgrenze ist dort schon lange überschritten. Wer lebensnotwendige Medikamente nicht bezahlen kann, stirbt. Man kann dies auch an den Lebensspannen ablesen: Nach Angaben der Weltbank betrug 2010 die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland 80 Jahre, in Indien 65 Jahre und im Schlusslicht Simbabwe unter 40 Jahre. Die 12 Länder mit der niedrigsten Lebenserwartung finden sich in Afrika. Hohe Medikamentenpreise haben einen Anteil an dieser Misere.
Es ist immerhin ein Anfang
Eine Möglichkeit, die Preise der Medikamente zu drücken, besteht für Entwicklungsländer in Zwangslizenzen zur Herstellung sogenannter Nachahmerpräparate (Generika). Das ist kein krimineller Akt, sondern ein Mechanismus, der im internationalen Handelsrecht festgelegt worden ist. Staaten können ihn nutzen, um Wettbewerb zu ermöglichen und den Zugang zu lebenswichtigen Medikamenten sicherzustellen. Dadurch wird deutlich gemacht, dass das Recht auf Behandlung und Überleben über dem Schutz durch Patentrecht steht und vor Gewinnmaximierung und Profitgier geht. Ärzte ohne Grenzen begrüßte denn auch die Entscheidung des obersten indischen Patentprüfungsausschusses, da dadurch die Zwangslizenzierung als wichtiges Instrument zum Schutz der öffentlichen Gesundheit gestützt werde. Bayer wird dazu aufgefordert, die Entscheidung zu akzeptieren.
Durch die 2012 vom indischen Patentamt erteilte Zwangslizenz zur Produktion des Krebsmedikamentes Nexavar konnten die Kosten des Mittels um 95 Prozent gesenkt werden. Auch diesen Preis werden viele Bürger Indiens nicht bezahlen können – gut ein Viertel der Bevölkerung ist unterernährt, 40 Prozent der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze –, aber es ist immerhin ein Anfang.
Bei HIV-Medikamenten der ersten Generation ist Ähnliches gelungen: Nicht durch die Großzügigkeit der Pharmaindustrie, sondern durch Zwangslizenzen konnten die Medikamentenpreise in relativ kurzer Zeit gesenkt werden. Erst dadurch wurde die Behandlung von Millionen HIV-positiver Menschen in der sogenannten Dritten Welt möglich. Und da Indien der wichtigste Lieferant von HIV-Generika für Entwicklungs- und Schwellenländer ist, dürfte die Entscheidung vom 4. März auch für die zukünftige Versorgung mit HIV-Nachahmerpräparaten der zweiten und dritten Generation eine wegweisende Bedeutung haben.
Man darf vermuten, dass Bayer, dessen Aktionäre und Lobbyisten zwar jammern, das Urteil insgesamt verkraften wird –wahrscheinlich sogar, ohne den Gürtel enger schnallen zu müssen. Für Indien, die „Apotheke der Armen“, und die medizinische Versorgung von Menschen aus Entwicklungs- und Schwellenländern jedenfalls war der 4. März ein guter Tag!
Kontakt: peter-wiessner@t-online.de
Weitere Informationen
Presseerklärung von Ärzte ohne Grenzen
Ärzte ohne Grenzen: Informationen zur Kampagne „Europa – Hände weg von unseren Medikamenten“
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