„Offenheit ist extrem wichtig“
Dieser Beitrag erschien zuerst im HIV-Magazin hello gorgeous. Herzlichen Dank an Herausgeber Leo Schenk, Autorin Marleen Swenne und Fotograf Michael Segalov für die Erlaubnis zur Veröffentlichung. Übersetzung: Alexandra Kleijn
In den Achtzigern bin ich nach London gezogen, weil ich aus meinem Heimatland Italien weg wollte. Ich war damals 28 und meine Mutter war gerade gestorben. Ich verliebte mich in die Stadt, und sie wurde mein neues Zuhause.
Ich studierte afrikanische Kunst und Sprachen und reiste nach Nigeria, um dort einen Film über Fela Kuti zu machen (nigerianischer Musiker und politischer Aktivist, der 1997 an Aids verstarb; Anm. d. Red.) Als bei mir einige Jahre später HIV diagnostiziert wurde, ging ich davon aus, dass ich nicht mehr lange leben würde. Deshalb wollte ich in der mir noch bleibenden Zeit etwas tun, mit dem ich noch mehr bewirken konnte. Zuerst überlegte ich, ob ich wieder nach Afrika gehe, aber schon bald erkannte ich, dass ich auch hier Wichtiges leisten kann.
Seit 2001 arbeite ich für Positively UK, früher „Positively Women“. Wir unterstützen Menschen mit HIV und bilden ehrenamtliche Helfer_innen aus, die unsere Organisation vertreten. Ich koordiniere ein Projekt für HIV-positive Frauen, die selbst Trainerinnen werden möchten, um so anderen Frauen zu helfen. Außerdem begleite ich Menschen persönlich, vor allem Frauen. Ich liebe meine Arbeit. Ich stecke viel Energie rein, aber bekomme auch viel zurück.
„Ich stecke viel Energie rein, aber bekomme auch viel zurück“
2011 hielt ich einen Vortrag vor den Vereinten Nationen – kaum vorstellbar, denn früher war ich sehr schüchtern. Meine Koordinatorin hatte jedoch volles Vertrauen in mich. Sie schickte mich zu mehreren Konferenzen und sagte, geh einfach hin und hör gut zu. Mein Gott, dachte ich, diese Frauen sprechen hier bloß über ihr Leben mit HIV! Langsam kam aber auch bei mir der Punkt, wo ich mich traute. Ohne die Hilfe meiner Freunde und Kollegen wäre mir das nie gelungen.
Heute gehe ich offen mit meinem HIV-Status um – immer, ohne zu zögern. Ich kann jedoch Menschen gut verstehen, die sich das noch nicht trauen. Ich freue mich immer sehr, wenn ich jemandem dabei helfen kann, offener zu werden, gerade weil es für HIV-Positive so wichtig ist, mit anderen darüber zu sprechen. Und nur so ist es möglich, etwas gegen Stigmatisierung zu tun. Deshalb finde ich Offenheit so extrem wichtig.
In England sind Frauen mit HIV eine besonders vulnerable Gruppe. Die meisten kommen aus Afrika, aus Regionen südlich der Sahara. Viele sind Mütter, und wie jede Mutter möchten auch sie ihre Kinder schützen. Das ist für sie ein wichtiger Grund, ihren Status geheim zu halten. Ich kann das nachvollziehen. Aber wenn die Kinder schon größer sind, frage ich mich manchmal, ob die Mütter sie nicht als Ausrede benutzen. Kinder sind ja oft sehr weise und tapfer.
„Frauen mit HIV sind besonders vulnerabel“
Die Problemlage dieser Migrantinnen ist komplex. Neben Armut und Leid durch Krieg spielt auch ihre Hautfarbe eine Rolle, wegen der sie oft diskriminiert werden. Ich bin zwar nicht schwarz, aber weiß aus eigener Erfahrung, wie es ist, in einem anderen Land ein neues Leben aufzubauen. Als ich damals hierher zog, war man gegenüber Neuankömmlingen allerdings noch offener als heute.
Viele dieser Frauen sind oder waren Beziehungsgewalt ausgesetzt – verbal, körperlich, finanziell oder sexuell. Immer wieder passiert es, dass Männer zu ihnen sagen: „Dich will niemand mehr. HIV ist eine Schande.“ Ich kenne das aus eigener Erfahrung. Er erpresst dich, und du sollst dankbar sein, dass er dich nicht verlässt. So wird HIV sogar als Mittel genutzt, um Druck auf die Partnerin auszuüben.
Das englische Gesundheitssystem zielt auf eine gute medizinische Versorgung für alle. Die meisten Frauen mit HIV brauchen jedoch auch in anderen Bereichen Unterstützung, weil sie oft in einem Geflecht aus Migration, Armut, Gewalt und Missbrauch gefangen sind. HIV spielt darin nur eine untergeordnete Rolle.
„Ohne seelische Unterstützung hätte ich es nicht geschafft“
Ich kann verstehen, dass man nicht an Medikamente denkt, wenn man nicht weiß, wie man etwas zu essen bekommen soll. Ich verdanke diesen Pillen mein Leben, aber ohne seelische Unterstützung hätte ich es einfach nicht geschafft. Wie sollen sie es dann schaffen? Sie verdienen bessere Hilfe, das ist nur menschlich. Vor einiger Zeit hat eine Frau mit HIV sich das Leben genommen. Sie wusste einfach nicht mehr weiter, hatte keine Papiere und sah keinen Ausweg mehr. So etwas macht mich wütend.
Viele Politiker sind geschlechtsblind. Auch das ist etwas, worüber ich mich ziemlich aufrege. Frauen werden auf ihre Mutterschaft reduziert, und dabei dreht sich dann alles um das Baby, und nicht um die Mutter. Gerade wird diskutiert, dass das Budget für Flaschenmilch für die Kinder HIV-positiver Müttern nicht ausreicht. Klar, das ist ein wichtiges Thema. Übersehen wird aber, dass diese Frauen vielleicht arm und unterernährt sind oder in einer gewalttätigen Beziehung leben. Ich finde das furchtbar kurzsichtig. Die wirklichen Probleme werden ignoriert.
Ich kenne in Italien viele Menschen mit HIV, die sich ehrenamtlich für andere Menschen mit HIV einsetzen. Dort gibt es keine bezahlten Helfer_innen wie hier. Das erschwert es, Leute auszubilden und anzulernen und so ein gutes Hilfesystem aufzubauen.
„In Italien bist du schnell eine Hure oder eine Madonna“
Auch die Gesellschaft ist anders: deutlich konventioneller und patriarchalischer als in England. Man lebt im Schatten der katholischen Kirche. In Italien bist du als Frau schnell eine Hure oder eine Madonna. ich stoße auch immer wieder auf Vorurteile gegenüber Homosexualität. Das hat natürlich auch Folgen für den Umgang der Menschen mit dem Thema HIV.
Letztes Jahr war ich in meinem Herkunftsland auf einer Konferenz und fand es schockierend, wie über die PrEP, die PEP und über Medikamente gegen Hepatitis C gesprochen wurde. Viele waren der Meinung, solche Behandlungen sollte nur bekommen, wer sich „richtig“ verhält. Das ist das katholische Erbe mit dem ihm innewohnenden Urteil über Gut und Böse. Besonders schlimm fand ich, dass es auch HIV-Positive gab, die das so sahen.
Mich interessiert nicht, ob jemand für sein eigenes Leben riskante Entscheidungen trifft oder nicht. Für alles gibt es Gründe. Jeder hat ein Recht auf medizinische Behandlung. Wer sind wir, dass wir über andere Menschen urteilen?
„Wir müssen das Schweigen erneut brechen und sichtbar werden“
Die meisten Dinge, über die ich spreche, habe ich auch selbst erlebt. Ich hatte Partner, die mich schlecht behandelten. Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn man noch nicht offen über die eigene HIV-Infektion sprechen kann. Es war ein schwieriger Prozess, aber als ich dann endlich offen sein konnte, war ich es ganz und gar. Meinem Freund gegenüber habe ich nie ein Geheimnis daraus gemacht. Er sprach mit seinen Freunden darüber, und es stellte sich heraus, dass fast jeder jemanden mit HIV im Bekanntenkreis hatte.
Es war immer mein Traum, Schriftstellerin zu werden. 2009 habe ich mit meinem Blog Speaking UP! angefangen, und damit wurde ich dann Aktivistin. Ich wollte die Geschichten von Menschen mit HIV erzählen und zeigen, dass jeder etwas tun kann. Es gibt noch so vieles zu erkämpfen. Wir müssen das Schweigen erneut brechen und sichtbar werden. Nur so kann das Stigma bekämpft werden. Der Slogan „Silence = Death“ von ACT UP gilt nämlich nach wie vor, auch wenn es heute ein seelischer Tod wäre.
Ich wünsche mir, die HIV-Community hier in Großbritannien wäre etwas bunter. Im Moment sind das vor allem weiße schwule Männer, aber wir können eine neue Community mit Frauen bilden, vor allem mehr afrikanischen Frauen.
„Sich zurücklehnen? Vergiss es!“
Wir werden alle älter mit HIV, und das sorgt für neue Erkenntnisse. Wer weiß, was die Medikamente mit unserm Körper machen? Wir – die erste Generation, die mit HIV alt wird – sind die neuen Pioniere. HIV ist ein wichtiges Thema, aber man kann es nicht von sozialen und politischen Themen getrennt sehen.
Ich hoffe, dass die Stigmatisierung und das HIV-Stigma eines Tages ein Ende haben und HIV wie jede andere Krankheit betrachtet wird. Dafür müssen wir kämpfen, das hat uns die Geschichte gezeigt. Seit dem Ende der Kolonialzeit sind es immer die Unterdrückten selbst gewesen, die sich gegen ihre Unterdrücker erhoben haben. Nur so geht es. Andere werden das nicht für dich tun, denn es ist nicht in ihrem Interesse. Sich zurücklehnen? Vergiss es!“
Kurzprofil
Silvia Petretti, 50. Familienstand: hat einen Freund mit einem fünfjährigen Sohn
Inspiration: „Die Frauen, die mir hier begegnen. Ihre Lebenskraft ermutigt und inspiriert mich.“
Mission: „Die Stigmatisierung von HIV endet, wenn auch Frauen mit HIV gehört und akzeptiert werden.“
Filmtipps: United in Anger, Fire in the Blood und How to Survive a Plague
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