Patentrecht kostet Menschenleben!
Gegen beide Abkommen richtet sich derzeit erheblicher Widerstand, dessen Ausgang offen ist: „Ob wir weiterleben können oder sterben müssen, sollte nicht in Handelsabkommen entschieden werden“, sagte Mundrika Gahlot vom New Delhi Network of Positive People während einer Protestveranstaltung am 10. Februar in Neu Dehli. „Wir sind hier, um an Indien und an die EU die klare Botschaft zu richten: ‚Ihr könnt unser Leben nicht einfach so wegverhandeln!´“.
Bis 2010 erhielten 6,6 Millionen Menschen lebensrettende HIV-Generika
Erst durch Generika wurden die Preismonopole der Pharmafirmen gebrochen. So konnten die Kosten für HIV-Medikamente der ersten Generation seit 2000 von 10.000 US $ pro Person und Jahr auf derzeit 150 US $ gesenkt werden. HIV-Programme konnten dadurch auch in Entwicklungsländern ausgebaut werden: Durch die Herstellung von Generika erhielten bis 2010 6,6 Millionen Menschen lebensrettende HIV-Medikamente. Diese Errungenschaften sind nun in Gefahr.
Der Preisverfall ist den Pharmas, ihren Lobbyisten und Helfershelfern in der Politik natürlich ein Dorn im Auge. Dass die europäische Kommission unter Federführung der Bundesregierung die Interessen der Pharma-Industrie über die Interessen der Menschen in Entwicklungsländern setzt, ist programmatisch konsequent und sollte auch im Kontext der Schwächung des Global Fund durch Entwicklungshilfeminister Niebel betrachtet werden.
Möglichkeiten zur Generika-Herstellung erweitern statt beschneiden!
Die beiden Abkommen müssen verhindert werden: Statt die Möglichkeiten zur Herstellung von HIV-Generika zu beschneiden, sollte man sie erweitern. Menschen in Entwicklungsländern brauchen dringend moderne, derzeit durch das Patentrecht „geschützte“ HIV-Therapien. Dort kommen immer noch Medikamente zum Einsatz, die in den reicheren Ländern schon lange nicht mehr verkäuflich sind bzw. wegen starker Nebenwirkungen nicht mehr verschrieben werden (können). Entstellende Nebenwirkungen wie beispielsweise Lipodystrophie (eine Fettverteilungsstörung) sind bei uns heute die Ausnahme, bei Menschen in Entwicklungsländern dagegen die Regel. Aus ethischer und medizinischer Sicht ist das kaum verantwortbar. Auch deshalb muss der „Schutz“, den moderne HIV-Medikamente durch das Patentrecht derzeit genießen, gebrochen werden.
Das Patentrecht schützt nicht Leben, sondern die Profitgier. Dass moderne HIV-Medikamente immer noch über 1.000 € pro Monatspackung kosten, ist das Resultat gezielter Lobbyarbeit der pharmazeutischen Industrie. Für Entwicklungsländer sind solche Preise unerschwinglich. Doch auch in unseren Regionen macht sich, nicht zuletzt seit der Finanzkrise, Unbehagen breit: In 14 europäischen Ländern hat man in den letzten Jahren Therapie-Unterbrechungen aufgrund von Versorgungsengpässen beobachtet, die zum Teil auf die gestiegenen Preise für Medikamente zurückzuführen sind. In Rumänien haben seit 2009 rund 60 % der HIV-Positiven ihre Therapie für eine Dauer von bis zu drei Monaten unterbrechen müssen. Einige europäische Nachbarländer wie etwa Lettland, die Slowakei und die Niederlande haben ihre Ausgaben für medizinische Versorgung und Prävention bereits um bis zu einem Viertel zusammengestrichen. Trotzdem gibt es auf europäischer Ebene kaum Bestrebungen, die unkontrolliert festgesetzten Preise für Medikamente zu reduzieren.
Der Handel mit Generika würde erschwert oder gar ganz zusammenbrechen
Das Handelsabkommen zwischen EU und Indien betrifft die Produktion, die Registrierung und die Verbreitung von Generika. Darin finden sich Bestimmungen, die dazu führen könnten, dass Generika die darauf angewiesenen Patienten nicht erreichen. So würde allein schon die Behauptung, dass das Patentrecht verletzt wird, die Ausfuhr des betreffenden Medikaments erschweren oder seine Beschlagnahmung an Grenzen und Häfen bewirken. In die daraus folgenden Rechtsstreitigkeiten könnten auch medizinische Hilfsorganisationen verwickelt werden, die Generika für ihre Patienten bestellen. Dass die Pharma-Industrie kostenintensive Prozesse nicht scheut, zeigen zum Beispiel die Rechtsverfahren, die Bayer und Novartis gegen Indiens Bestimmungen angestrengt haben. Würden solche Verfahren gegen medizinische Hilfsorganisationen eingeleitet, könnten sie damit an den Rand des finanziellen Ruins gebracht werden.
Auch ACTA stattet Zollbehörden mit weitreichenden Kompetenzen aus, die „bei Verdacht“ zu Beschlagnahmung, Lieferverzögerung und in der Folge zu Therapie-Unterbrechungen führen könnten. Zudem sieht ACTA Schadensersatzforderungen vor, und zwar nicht nur gegen Hersteller, sondern auch gegen Lieferanten und Händler. Kommt es zu entsprechenden Prozessen, könnte der Handel mit Generika erschwert werden oder – wenn das Risiko zu hoch wird – ganz zusammenbrechen.
Das Freihandelsabkommen erweitert die Möglichkeiten der Pharma-Industrie, die indische Regierung zu verklagen, wenn sie Patentrechte verletzt oder Preise für Medikamente festsetzt. In dem daraus folgenden Rechtsverfahren wäre die Regierung gezwungen, mit dem Unternehmen geheim und außerhalb der staatlichen Gesetzgebung zu verhandeln. Solche Verfahren haben in der Vergangenheit bereits dazu geführt, dass Regierungen ihre Gesundheitspolitik ändern mussten. Als Beispiel sei hier das von Phillip Morris angestrengte Verfahren gegen Uruguay genannt.
Dass diese Abkommen auch uns betreffen könnten, ist bisher erst wenigen gedämmert
Außerdem sieht das Abkommen vor, dass Daten aus Forschungsstudien nicht weiter verwendet werden dürfen. Diese sogenannte data exclusivity hätte zur Folge, dass Generika-Hersteller Studien, so etwa zur Wirksamkeit und Sicherheit von Medikamenten, wiederholen müssten. Damit würden nicht nur Gelder verschwendet – es wäre auch ethisch unzumutbar. Der Einsatz lebenswichtiger Generika würde um Jahre verzögert, selbst dann, wenn ein Patent gar nicht gewährt wurde oder schon lange abgelaufen ist. Zwar hat die EU diese Forderung offiziell fallengelassen, hinter verschlossenen Türen wird jedoch versucht, die indische Regierung unter Druck zu setzten, um eine entsprechende Gesetzesänderung zu erwirken.
Noch werden ACTA und das Freihandelsabkommen als Problem der Entwicklungsländer wahrgenommen. Dass sie auch uns betreffen könnten, weil die hohen Kosten für Medikamente auch hierzulande immer mehr zu einem Problem werden, ist bisher erst wenigen gedämmert.
Die Bundesregierung hat das ACTA-Abkommen erst einmal nicht unterschrieben. Das ist zu begrüßen, auch wenn nicht genau bekannt ist, aus welchen Überlegungen heraus sie sich so entschieden hat. Gegen Ende des Jahres soll das Freihandelsabkommen mit Indien zur Unterschrift vorliegen. Die weitere Entwicklung bleibt abzuwarten.
Kontakt: Peter-wiessner@t-online.de
Quellen:
Pressemeldung Ärzte ohne Grenzen (Englisch)
Pressemeldung Ärzte ohne Grenzen (Deutsch)
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2 Kommentare
Andreas Wander 21. Februar 2012 9:07
Es ist schon echt verrückt, welche Ausprägungen die Gesetze und Gesetzesideen annehmen. Ich hoffe wirklich, dass wir nicht überbürokratisiert werden. Oder sind wir das schon?
Antje Sanogo 22. Februar 2012 10:53
In der Beratungspraxis bekommen wir zunehmend Hilferufe von HIV-Positiven aus verschiedenen afrikanischen Ländern. Es sind Verwandte und Bekannte unserer Klienten, die befürchten, dass sie in den nächsten Wochen oder Monaten ihre HIV-Therapie abbrechen müssen. Z.B. hören wir aus Nigeria, dass die Vorräte an subventionierten HIV-Medikamenten fast aufgebraucht sind und die Regierung keine Mittel hat, um diese wieder aufzustocken. Die Patienten werden derzeit informiert, dass sie voraussichtlich keine subventionierten Medikamente mehr bekommen werden.
Ich glaube, dass dies unmittelbare Folgen der unsicheren finanziellen Ausstattung des Global Fund und der im Artikel beschriebenen Verhandlungen und Abkommen sind.
Es ist genau die Entwicklung, die wir befürchtet haben. Jahrelang wurde HIV-positiven Flüchtlingen von deutschen Behörden erklärt, sie könnten doch zurückkehren, da die HIV-Therapie in ihren Ländern ja nun zugänglich sei. Wir haben dies nie so gesehen, da uns klar war, wie schnell sich das ändern kann. Um so wichtiger ist jetzt natürlich öffentlicher Druck.
Antje Sanogo
Münchner Aids-Hilfe.