Verfolgung von LGBT in Russland: Auch die deutsche Politik muss Fragen stellen
Im Interview spricht Tatiana Vinnichenko gemeinsam mit ihrer Kollegin Valentina Likhoshva über ihr Hilfsprojekt für verfolgte LGBT in Russland, schildert, wie die Community auf die Bedrohung durch Staat und Radikale reagiert – und sagt, welche Unterstützung wir hier in Deutschland leisten können.
Das Moscow Community Center ist mehr als nur eine Plattform für LGBT-Projekte und -gruppen in der russischen Hauptstadt. Hier erhalten LGBT aus dem ganzen Land psychologische Beratung: sieben Tage die Woche und rund um die Uhr – das Internet macht es möglich.
Vor allem aber finden hier Schwule, Lesben und Trans* aus dem Nordkaukasus, die dort als „schädliche Elemente“ gelten und Repressionen bis hin zu Folter und Ermordung ausgesetzt sind, Schutz und Hilfe. In der Notunterkunft des Moscow Community Center ist Platz für 15 Personen. In Krisenzeiten wie etwa 2017, als in Tschetschenien massenhaft LGBT verfolgt wurden, fanden zeitweilig bis zu 40 Menschen Zuflucht.
Was euer Center an Beratung und Unterstützung bietet, ist für Russland in jeder Hinsicht einzigartig. Wie finanziert ihr eure umfangreichen und personalintensiven Aktivitäten?
Tatiana: Wir bekommen selbstverständlich vom Staat keinen einzigen Rubel. Finanzielle Unterstützung gibt es allein von Stiftungen aus dem Ausland, maßgeblich von der schwedischen LGBT-Organisation „Regnbågsfonden“.
Das Gesetz gegen „Homo-Propaganda“ führt zwangsläufig zu harter Aggression gegenüber LGBT
Die russische Regierung betrachtet alle Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die finanzielle Unterstützung aus dem Ausland erhalten, automatisch als „staatsfeindlich“. Seit 2012 müssen sich solche NGOs deshalb als „ausländische Agenten“ registrieren lassen, ansonsten drohen hohe Strafen. Die meisten Bürgerrechtsorganisationen mussten deshalb ihre Arbeit einstellen. Wie ist eure Situation?
„Es ist besser, wenn wir vom Staat so wenig wie möglich gesehen werden“
Tatiana: Wir verstehen uns zwar als NGO, haben uns aber nicht als solche registrieren lassen. Wir existieren somit für den Saat offiziell nicht als Organisation, sondern werden nur als individuelle Personen wahrgenommen. Wir haben also nicht die Rechte einer NGO, können beispielsweise nicht als solche an Politiker herantreten. Für unsere Arbeit ist es allerdings besser, wenn wir vom Staat so wenig wie möglich gesehen werden. Ohnehin können wir aufgrund des „Homosexuellen-Propaganda-Gesetzes“ nur Beratung und direkte Hilfe anbieten, aber eben nicht breit in die Öffentlichkeit hineinwirken, etwa durch Aufklärungsarbeit.
Das Gesetz gegen „Homosexuellen-Propaganda“ wurde 2013 mit großer Mehrheit im Parlament beschlossen. Positive Äußerungen über Homosexualität in Anwesenheit von Minderjährigen oder über Medien wie das Internet sind seither unter Strafe gestellt. Die Folge: Es ist faktisch keine Aufklärung möglich, keine Beratung zu Coming-out, keine öffentliche HIV-Prävention für Schwule – und in Kinofilmen wie dem Elton-John-Biopic „Rocketman“ werden schwule Liebesszenen zensiert.
Tatiana: Die gesellschaftliche Stimmung gegenüber LGBT hat sich durch das Gesetz in den vergangenen Jahren in Russland definitiv verschlechtert. Das Gesetz teilt die Gesellschaft in Menschen erster und zweiter Klasse – und zu dieser gehören wir. Über diese Menschen zweiter Klasse soll man nicht reden und schon gar nicht den Kindern und Jugendlichen zeigen, dass sie normal und gleichwertig sind. Das führt zwangsläufig zu der harten Aggression gegenüber LGBT.
Tatiana Vinnichenko: Der Hass auf LGBT wird auf höchster politischer Ebene geschürt
In St. Petersburg wurde am 22. Juli 2019 die LGBT-Aktivistin Jelena Grigorjewa erstochen aufgefunden. Habt ihr eine solche Eskalation der Gewalt je für möglich gehalten?
Tatiana: Es ist für uns alle ein so unglaublicher Schock, aber so etwas war in der Tat zu erwarten. Der Druck auf LGBT in Russland wächst und ist überall zu spüren. Es kommt immer wieder zu Übergriffen; Menschen werden verprügelt und erleben Verfolgungen jeglicher Art. Der Hass wird dabei auf höchster politischer Ebene geschürt. Die Idee der Homophobie ist dadurch mittlerweile zur nationalen Ideologie geworden und dient, wie das Anti-Propaganda-Gesetz, radikalen Gruppen dazu, ihre homophoben Überfälle zu legitimieren. In ihrem Verständnis setzen sie nur um, was die Regierung sich wünscht, und glauben, durch ihre Untaten das russische Volk zu „schützen“.
Jelena hatte sich unter anderem beim LGBT Network und der „Hetero- und LGBT-Allianz für Gleichberechtigung“ engagiert. Im Juli war ihr Name auf einer Webseite aufgetaucht, auf der zur Ermordung von LGBT aufgerufen und dafür eine Belohnung versprochen wurde. Dutzende bekannte Schwule und Lesben sind dort mit Foto und Wohnadresse gelistet.
Tatiana: Jelena wurde mehrfach auf unterschiedlich Weise bedroht und hatte sich deshalb an die Polizei gewendet – jedoch ohne Erfolg. Die Webseite gibt es schon seit Frühjahr 2018, wurde einige Male abgeschaltet, taucht aber immer wieder auf. Jelena hatte in einem Facebook-Post beklagt, dass die Justizbehörden nichts gegen die Betreiber der Internetseite unternehmen. Drei Tage später war Jelena tot.
„Homophobie ist mittlerweile zur nationalen Ideologie geworden“
Wie reagiert die politische Öffentlichkeit nun auf den Mordfall Jelena?
Valentina: Es werden, wenig überraschend, Lügen in die Welt gesetzt. Jelena sei betrunken gewesen und die Ermordung eine Beziehungstat. Die Absicht hinter diesen absurden Theorien ist offensichtlich: Es soll vom eigentlichen Grund der Ermordung abgelenkt und dadurch der öffentliche Druck auf den Fall herausgenommen werden. Ich glaube deshalb nicht, dass es zu einer transparenten und korrekten polizeilichen Ermittlung kommen wird. Viele Freund_innen aus Jelenas Umfeld und Aktivist_innen versuchen deshalb selbst Informationen zu sammeln.
Das bedeutet aber, dass die russische Öffentlichkeit immerhin die Ermordung Jelenas diskutiert, auch in den Medien?
Tatiana: Die staatlichen Medien berichten darüber natürlich nicht in der Form, die angebracht wäre. Aber die Zivilgesellschaft ruht nicht und sorgt für Aufmerksamkeit. In St. Petersburg etwa gab es eine Mahnwache, das war fast schon eine Demonstration. Für den 3. August ist in St. Petersburg eine Pride-Demonstration geplant. Sollte sie tatsächlich stattfinden können, wird dort selbstverständlich Jelena ein großes Thema sein. Auch übrigens beim Pride in Amsterdam, wie die dortigen Organisator_innen angekündigt haben. Darüber sind wir sehr dankbar. Russland ist in den vergangenen Jahren durch die LGBT-feindlichen Aktivitäten immer wieder in den internationalen Fokus geraten. Die Regierung wird deshalb zu verhindern suchen, dass in den westeuropäischen Ländern darüber diskutiert wird – und im Mordfall jegliche Verbindung mit Homophobie leugnen.
In Russland denken viele, LGBT könnten doch ihr Leben leben
Was bedeutet das Attentat für euch Aktivist_innen, die ihr mit Namen und Gesicht in der Öffentlichkeit agiert und euch dadurch selbst im wahrsten Sinne des Wortes zur Zielscheibe macht? Werden sich jetzt manche aus Angst zurückziehen?
Tatiana: Klar ist, dass die Ermordung von Jelena alle Menschen in der russischen LGBT-Community betrifft und berührt. Ich denke, manche wird dies darin bestärken, das Land zu verlassen. Auf der anderen Seite wird es all jene zum Nachdenken bringen, die bislang dachten, dass man nicht für LGBT-Rechte kämpften muss, weil es sich als Lesbe oder Schwuler in Russland eigentlich ganz gut leben lässt. Für sie kann das nun der Punkt sein zu sagen: Ich muss für meine Rechte auf die Straße gehen.
Vor allem in der breiten Gesellschaft herrscht die Haltung vor, dass LGBT im Russland doch ihr Leben leben können: „Denen passiert doch nichts!“. Spätestens jetzt wird aber deutlich, dass man sogar bereit ist, uns zu töten. Ich hoffe, dass das die Menschen auch außerhalb der LGBT-Community aufrütteln wird.
Wie kann die Community in Deutschland LGBT in Russland unterstützen?
Tatiana: Es hilft bereits sehr viel, dass die Community und die Medien in Westeuropa über die Situation von LGBT so breit berichten. Das wird in Russland durchaus wahrgenommen und zeigt hier und da auch Wirkung. Wir würden uns aber auch eine engere Zusammenarbeit zwischen russischen und westeuropäischen und insbesondere mit deutschen LGBT-Organisationen wünschen. Wir vom Moscow Community Center können beispielsweise unsere Expertise anbieten, was die Arbeit mit Zuflucht suchenden LGBT aus den verschiedenen ethnischen und religiösen Minderheiten angeht.
Inwieweit kann die deutsche Regierung Einfluss nehmen?
Tatiana: Zum Beispiel, indem die Politik auf diplomatischer Ebene Fragen stellt, wie es zu solch exzessiver und gewalttätiger Homosexuellenfeindlichkeit kommen kann und was die russische Regierung dagegen zu tun gedenkt.
„Wir wünschen uns eine engere Zusammenarbeit mit westeuropäischen LGBT-Organisationen“
Valentina: Am Wichtigsten aber wäre es, wenn es eine Zusammenarbeit im Bereich der humanitären Visen für verfolgte LGBT gäbe, insbesondere für jene aus dem Nordkaukasus. Ich kann das an einem Beispiel deutlich machen. Ein trans* Mann, der in Tschetschenien verfolgt wurde und um sein Leben fürchten musste, hatte in der Deutschen Botschaft in Moskau ein humanitäres Visum für sich und seine Freundin beantragt. Er ist Neurochirurg und spricht perfekt Deutsch. Sein Antrag wurde abgelehnt. Das war für uns alle schockierend und nicht nachzuvollziehen, weil wir wissen, dass in Deutschland die LGBT-Rechte respektiert werden. Wir können es uns nur so erklären, dass die Botschaftsmitarbeiter_innen die Situation für LGBT im Nordkaukasus völlig falsch einschätzen.
Link zum Moscow Community Center: https://mcclgbt.com/en/mcc/
Artikel zum Mord an Jelena auf queer.de: https://www.queer.de/detail.php?article_id=34128&fbclid=IwAR1jEPcptyl-DQ7l-7H7maNxWxuaCi5oGbMa0KBQKei6QBII5ZY_GiyTIOI
Artikel zum Mord an Jelena auf zeit.de: https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2019-07/st-petersburg-lgbt-elena-grigorjewa-menschenrechte-tot-festnahme
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