„Viele Schwule haben schlicht Angst“
Denis, beschreib doch bitte, was Pulsar macht.
Neben Vor-Ort-Arbeit in der Schwulenszene und einem HIV-Testangebot sind Einzelberatungen Schwerpunkt unserer Arbeit. Über 800 solcher Gespräche fanden allein 2013 statt. Ob es bei dieser Zahl bleiben wird, ist angesichts des Gesetzes gegen „homosexuelle Propaganda“ fraglich.
Wie wirkt sich denn dieses Gesetz auf euer Projekt aus?
Genau genommen verlangt es von uns, dass wir Informationen über Pulsar, aber auch unsere Materialien nur so verbreiten, dass sie auf keinen Fall an Jugendliche gelangen. Wir haften also beispielsweise dafür, wenn ein Jugendlicher einen Flyer von uns in die Hand bekommt. Das hat unter anderem zur Folge, dass Jugendliche unter 18 von jeder Beratung und Aufklärung ausgeschlossen sind. Fakt ist, dass wir unser Projekt nur noch unter stark erschwerten Bedingungen bewerben können. Mittlerweile beklagen sich immer mehr Leute, dass man von unserer Arbeit und unseren Angeboten nur über Umwege erfährt.
„Das Gesetz ist zum größten Präventionshindernis geworden“
Wie ist die Stimmung in der Schwulenszene?
Viele Schwule haben schlicht Angst. Sie trauen sich nicht mehr in Beratungsstellen und nehmen auch nicht mehr an Solidaritätsaktionen teil. Sie sind vorsichtiger und zurückhaltender geworden. Aus Umfragen wissen wir, dass inzwischen jeder dritte Homosexuelle seine sexuelle Orientierung absolut geheim hält.
Und was heißt das für eure Präventionsarbeit?
Das Gesetz gegen Homosexuelle ist zum größten Hindernis in der Prävention geworden. Das heißt konkret, dass wir Schwule, die uns und unsere Arbeit noch nicht kennen, kaum oder gar nicht mehr erreichen. Auf unabsehbare Zeit werden wir meist nur mit Leuten arbeiten können, die bereits Kontakt zu uns haben. Zum Glück haben wir über die Jahre enge Netzwerke in den einzelnen Schwulenszenen der Stadt aufbauen können, sodass wir viele durch persönliche Kontakte erreichen können.
Wer finanziert eure Arbeit?
Wir bekommen nur selten Geld von der Stadtregierung, und dann nur in bescheidenem Umfang. Das heißt, wir werden fast zu hundert Prozent aus dem Ausland finanziert, unter anderem durch die American Foundation for AIDS Research (amFAr) und seit bereits sieben Jahren durch das deutsche Hilfswerk „Brot für die Welt“.
„Es gibt keine nationale Strategie zur Bekämpfung von HIV“
Weshalb fördert der Staat diese Präventionsarbeit nicht?
In Russland gibt es keine nationale Strategie zur Bekämpfung von HIV – und damit auch kein offizielles Dokument, auf dessen Grundlage man eine entsprechende Finanzierung fordern könnte. Das zweite Problem ist struktureller Art. Der Bereich Infektionskrankheiten ist in unserem Gesundheitssystem sehr rückständig organisiert. Die medizinischen Mitarbeiter wissen zwar genau, wie sie mit Schwangeren oder Neugeborenen umzugehen haben, denn das sind für die Stadt wie den Staat wichtige Bevölkerungsgruppen, die dementsprechend unterstützt werden. Doch die Gruppen, um die wir uns kümmern – Sexarbeiter, Schwule, Drogenabhängige –, sind für den Staat nicht wirklich wichtig. Deshalb werden die Beschäftigen im Gesundheitswesen auch kaum zu den besonderen Belangen dieser Gruppen geschult.
Wie entwickeln sich die Infektionszahlen in Russland?
Die Daten sind leider alles andere als erfreulich. Das Virus breitet sich immer schneller aus, sowohl in unserer Region als auch im ganzen Land. In Omsk sind aktuell rund 7.000 HIV-Infektionen bekannt, vor drei Jahren waren es lediglich 200. Der erste Fall wurde offiziell 1996 registriert. Besonderst stark ist der Anstieg unter Drogengebrauchern.
Wie sieht es derzeit mit den Testmöglichkeiten aus?
HIV-Tests werden eigentlich in allen staatlichen und privaten Krankenhäusern durchgeführt. Der Staat ist inzwischen bemüht, all jene Menschen zum Test zu bewegen, die sich einem Infektionsrisiko ausgesetzt haben oder zu einer besonders bedrohten Gruppe gehören. Anders als für die Allgemeinbevölkerung ist der Schnelltest für sie deshalb kostenlos. Allerdings muss man sich mit seinem Namen registrieren lassen. Ein anonymer Test ist in Omsk derzeit nur in drei Einrichtungen möglich, und dort wird dann auch eine Gebühr fällig.
Inwieweit betrifft das Drogenproblem auch die Schwulenszene?
Etwa fünf Prozent der Männer, die Sex mit Männern haben, sind nach unseren Erhebungen von harten Drogen abhängig. Diese Daten betreffen größtenteils Männer, die wegen Drogen im Gefängnis einsitzen. Alkoholmissbrauch ist unter Schwulen weit mehr verbreitet, doch in jüngster Zeit nimmt der Konsum synthetischer Party- und Sexdrogen stark zu.
„Wir befürchten sogar noch schlimmere Verhältnisse“
Wird die antihomosexuelle Stimmung in Gesellschaft und Politik in absehbarer Zeit wieder zurückgehen?
Wenn sich die Dinge so weiterentwickeln, wie derzeit abzusehen, müssen wir sogar noch schlimmere Verhältnisse befürchten. Zum Beispiel gab es bereits Petitionen für die Wiedereinführung der generellen Kriminalisierung von Homosexuellen. Und sollten wir in Zukunft immer weniger Kontakte zu ausländischen Nichtregierungsorganisationen haben, wird sich der russische Staat auch immer weniger kontrolliert fühlen, was die Einhaltung der Menschenrechte angeht.
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