KALENDERBLATT

Aufstand der Huren

Von Axel Schock

Der Internationale Hurentag erinnert an eine legendäre Protestaktion: 1975 sorgten Sexarbeiterinnen durch die Besetzung der Kirche Saint-Nizier in Lyon und einen Streik weltweit für Schlagzeilen.

Die Wut der Sexabeiterinnen auf den Staat, die Polizei und die Behörden hatte sich über viele Jahre angestaut. Bordelle hatte man in Frankreich schon vor langer Zeit abgeschafft, auch die Prostitution war offiziell verboten, aber keineswegs verschwunden – trotz drohender Geld- und Gefängnisstrafen.

Die Folge: Sexarbeit fand gänzlich im Untergrund statt, und die Sexarbeitenden waren schutzlos Gewalttaten ausgeliefert. Zwei Morde an Sexarbeiterinnen zum Jahreswechsel 1974/75 versetzten die Kolleginnen ein weiteres Mal in Angst und Schrecken – und wurden zu einer Initialzündung.

Die Sexarbeiterinnen begannen sich zu organisieren, einen Forderungskatalog zu erstellen und auf die unerträglich gewordenen Arbeitsbedingungen aufmerksam zu machen. Während über viele Jahre das Prostitutionsverbot in den meisten Städten recht lax gehandhabt worden war, hatte sich die Lage seit Anfang der 1970er-Jahre verändert, besonders drastisch in Lyon.

Polizeiliche Verfolgungsjagden

Die Polizei unternahm regelrechte Verfolgungsjagden auf Sexarbeiterinnen, die man mit Bußgeldern wegen „zur Unzucht aufforderndem Verhalten“ belegte. Bei mehrfacher Verurteilung drohte eine Haftstrafe. Zum anderen wurden rückwirkend Steuerbescheide auf ein exorbitant hoch geschätztes Einkommen erteilt. Das alles wollten sich die Sexarbeiterinnen nicht länger gefallen lassen.

Medienaktion zum Internationalen Hurentag in Wien

Als im Februar 1975 vor dem Polizeipräsidium in Marseille Sexarbeiterinnen für ihre Rechte, den Zugang zur Sozialversicherung und gegen Polizeischikane demonstrierten, war das zwar neu und außergewöhnlich, doch der Protest blieb folgenlos. Die Frauen aber gaben nicht auf.

Es bedurfte offensichtlich einer spektakuläreren Aktion, um öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen. Am Morgen des 2. Juni 1975 schmückten zwei Transparente die Fassade der Kirche Saint-Nizier in Lyon: „Hierher haben sich die Prostituierten von Lyon geflüchtet“ und „Unsere Kinder wollen nicht, dass ihre Mütter ins Gefängnis kommen“.

Sechzig Frauen hatten in einer Nacht- und Nebelaktion das gotische Bauwerk in der Altstadt kurzerhand für besetzt erklärt. Genau genommen suchten viele von ihnen Asyl, denn sie hatten wegen Verstoßes gegen das Prostitutionsverbot bereits Haftbefehle erhalten. Unter dem Slogan „Der Staat ist der größte Zuhälter“ forderten die Frauen deshalb die sofortige Aufhebung der Bußgeldbescheide wie auch der Haftstrafen.

Der Staat ist der größte Zuhälter

Die Frauen in Saint-Nizier gingen aber noch weiter: Sie riefen zum Streik aller Sexarbeiterinnen auf. „Die Prostituierten sind die am stärksten unterdrückten, am meisten gehassten und verfolgten aller Frauen. Heutzutage sind sie auch die Bewusstesten und die am stärksten Kämpfenden“, erklärte Kate, eine der Besetzerinnen.

Der Streik sei eine klare und direkte Antwort auf die Lebensbedingungen von Prostituierten: auf die Quälereien seitens der Polizei, auf die Heuchelei der Gesellschaft, die sexuelle Unterdrückung, die Ausbeutung der Frau und die Erpressung. „Der Kampf aller Frauen hat seinen Anfang genommen, und er beginnt hier. Das Beste wird noch kommen!“, verkündete Kate. Und sie sollte recht behalten.

Denn nicht nur, dass die Frauen unerwartet Unterstützung durch die Kirche erfuhren. Ihre Aktion schlug hohe mediale Wellen, selbst international, und sie erlebten Solidaritätsbekundungen aus weiten Teilen der Bevölkerung. Vor allem aber schlossen sich immer mehr Kolleginnen an. Aus den zunächst 60 Frauen wurden 100 und schließlich über 170; und der Streik dehnte sich von Lyon auch auf andere Städte wie Paris, Grenoble und Marseille aus.

Der Kampf aller Frauen hat seinen Anfang genommen, und er beginnt hier

Acht Tage lang beherrschten die Prostituierten von Lyon die Schlagzeilen und wurden durch die Aktion von vielen zum ersten Mal jenseits der üblichen Klischees und Vorurteile als Berufstätige, als Frauen und Mütter – schlicht als Menschen wahrgenommen. Als Sexarbeiterinnen, die nicht mehr forderten als ihre Menschenwürde und die ihnen zustehenden staatsbürgerlichen Rechte.

„Wenn die Gesellschaft weiterhin sagt ‚Prostituierte müssen sein’, dann ist es ungerecht, dass sie die Frauen, die sie dafür braucht, wie Verbrecherinnen behandelt, zusammenschlagen und einsperren lässt“, schreiben die Besetzerinnen in einem offenen Brief an den französischen Staatspräsidenten Giscard d’Estaing. „Sie sind, wie Sie selbst erklärt haben, ‚Präsident aller Franzosen’. Also sind Sie auch Präsident der Prostituierten!“

In der Politik und den Polizeibehörden allerdings fanden die Frauen weder Gehör noch Verständnis. Am frühen Morgen des 10. Juni 1975 wurde die Kirche Saint-Nizier von der Polizei gewaltsam geräumt.

Die Ordnung war wiederhergestellt, der Aufstand beendet, die Frauen in ihre Schranken gewiesen. Auf den ersten Blick hatten die Demonstrantinnen verloren und keine ihrer Forderungen durchsetzen können. Und dennoch war die Aktion ein Erfolg. Erstmals hatten sich Sexarbeiterinnen zusammengetan, sich Gehör verschafft und sich gemeinsam für ihre Rechte stark gemacht.

Der rote Regenschirm als Zeichen der internationalen Hurenbewegung

Der Prostituiertenstreik von Lyon ist daher für die Sexarbeiterinnen, was für die LGBT-Community weltweit die Stonewall-Unruhen in New York sind: der Gründungsmoment einer politischen Bewegung. In der Homosexuellenbar Stonewall Inn hatten sich im Juni 1969 Schwule, Lesben und Transgender erstmals gegen eine der willkürlichen Razzien gewehrt und sich eine Straßenschlacht mit der Polizei geliefert. Der Aufstand in der Christopher Street wird seither rund um den Globus mit CSD-Paraden gefeiert. Zur Erinnerung an die Ereignisse in Lyon wiederum haben 1976 Sexarbeiterinnen und ihre Organisationen den 2. Juni zum International Sexworkers’ Day erklärt.

Weltweit demonstrieren seither an diesem Tag Sexarbeiter*innen aller geschlechtlichen Identitäten gegen Unterdrückung und die Diskriminierung ihres Gewerbes. Seit 2001 ist der rote Regenschirm Symbol dieser Bewegung. In Deutschland wurde der Internationale Hurentag erstmals 1989 ausgerufen.

Axel Schock

Audio-Dokumentation zur Revolte in Lyon (France Culture, in französischer Sprache)

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