Schmerz und Vorurteil
Im sonnigen Gemeinschaftsraum der Diamorphin-Ambulanz in Berlin-Reinickendorf ruhen sich einige Patient*innen aus, andere unterhalten sich im kleinen Raucherraum nebenan. Einer von ihnen ist Stephan Raabe, fünffacher Vater und ehemaliger Bauunternehmer. Als Patient in diamorphingestützter Behandlung sprach er mit Philine Edbauer (#MyBrainMyChoice) über Vorurteile, Leistungsdruck und Eigenverantwortung. Das Gespräch gehört zu einer dreiteiligen Interviewreihe.
Die diamorphingestützte Behandlung zeichnet sich durch die „Echtstoffvergabe“ von pharmazeutischem Heroin aus, die in eine enge medizinische und psychosoziale Therapie eingebunden ist. Seit 2009 ist diese Behandlungsform für opioidabhängige Menschen in Deutschland zugelassen und wird von den Krankenkassen erstattet. Die „Patrida“-Praxis ist eine von deutschlandweit 14 Diamorphin-Ambulanzen.
Herr Raabe, es gibt unterschiedliche Meinungen dazu, ob man sich als „süchtig“ bezeichnen sollte. Wie sehen Sie das?
Ich muss für mich sagen, ja, bin ich definitiv, sonst wäre ich nicht hier [in der Diamorphin-gestützten Behandlung]. Aber auf der anderen Seite braucht meine Umwelt nicht unbedingt wissen, was ich bin. Wenn ich sage, ich bin heroinabhängig, sieht mich die Gesellschaft als „Junkie“. Man wird ja sofort mit einem Stempel versehen. Ich bin aber voll funktionierend.
Wie lange sind Sie jetzt hier in Behandlung mit Diamorphin?
Sechs, sieben Jahre. Davor war ich ein halbes Jahr in der Substitution, aber habe das so schnell wie es ging, abgehakt. Es ist ja vorgeschrieben.
[Die Zugangsschwellen für die diamorphingestützte Behandlung sind weit höher festgesetzt als die Behandlungen mit „Ersatzstoffen“. Unter anderem muss erst mit einem anderen für die Substitution zugelassenen Opioid, z. B. Methadon, mindestens sechs Monate ein erfolgloser Therapieversuch absolviert worden sein.]
Heißt das, Sie wussten schon von vornherein, dass die diamorphingestützte jene Behandlung ist, die Sie brauchen würden?
Nur deswegen bin ich überhaupt in die Substitution gegangen. Ich habe sofort gesagt, dass ich kein Methadon will – damit wäre ich im Arsch gewesen.
Was haben Sie dann bekommen?
Ich habe mit Subutex [Buprenorphin] angefangen. Dadurch wurden die Schmerzen schlimmer. Ein Monat später Substitol [Morphinsulfat].
Und ging das? Oder haben Sie die Phase mit Beikonsum gelöst?
Zu den Zeiten, ja. Da habe ich noch getrunken, was ich jetzt kaum noch mache. Es hat immer der Kick gefehlt, das war das Problem. Hier ist es nun okay, das Diamorphin ist ja reines Heroin. Aber man sollte jetzt nicht meinen, wir würden jedes Mal high in der Ecke liegen. Die körperliche Verfassung macht einiges davon aus, ob ich damit high in der Ecke liege oder nicht. Ich habe für mich nun einen Weg gefunden, mit dem ich zufrieden bin, womit ich leben kann.
Ich habe für mich nun einen Weg gefunden, mit dem ich zufrieden bin, womit ich leben kann.
Sie haben von Schmerzen erzählt. Stehen die bei Ihnen sonst im Vordergrund?
Ja. Das kommt durch den Leistungssport. Meine Knochen sind im Arsch. Auch durch die Arbeit. Ich habe eine Firma geleitet. Und dann bekommen Sie von Ärzten immer ein [nicht-opioidhaltiges] Schmerzmittel nach dem anderen. Das Verschriebene tat mir aber nicht gut, deswegen habe ich Heroin ausprobiert und das hat super funktioniert. Nur gesellschaftlich habe ich mich damit ins Abseits geschossen.
Wie alt waren Sie jeweils, als Sie die ersten Schmerzmittel verschrieben bekamen und Heroin das erste Mal ausprobierten?
Ich habe mit 25 Jahren mit den Schmerzmitteln angefangen, mit Heroin fing ich mit 40 an.
Wie lange haben Sie Leistungssport gemacht?
Seit meinem vierten Lebensjahr.
Bis Mitte 20 dann, bis die Schmerzen zu schlimm wurden?
Ja.
Was für Sport?
Schwimmen, Kampfsport und Handball. Aber ich gehe eher davon aus, dass meine Probleme durch Handball gekommen sind. Da bin ich häufiger mal mit gebrochenen Fingern oder Fußknochen durch die Gegend gelaufen. Meine Knochen habe ich letztens kontrollieren lassen, ob da irgendwie noch was zu machen ist – aber die sind kaputt und bleiben kaputt.
Was für eine Firma hatten Sie?
Bausanierung. Ich habe Kirchen restauriert.
Wie ging das mit den Schmerzen und den Schmerzmitteln?
Damit überhaupt etwas funktioniert hat, habe ich Schmerzmittel genommen. Man muss ja für die Gesellschaft leisten. Und das habe ich auch getan.
Es sind genug Leute hier [in der Ambulanz], die drauf sind und trotzdem arbeiten gehen und auch Lust darauf haben.
Würden Sie empfehlen, am Arbeitsplatz offen mit der Behandlung in der Diamorphin-Ambulanz umzugehen?
Vielleicht wenn man einen Chef hat, dem man das erzählen kann. Denn man muss jeden Tag zur Praxis gehen. Aber die Vorurteile in der Gesellschaft haben sich extrem verfestigt.
Welche Vorurteile wären außerdem wichtig auszuräumen?
Bei den sogenannten „Schwerstabhängigen“, was ich ja laut Definition bin, weil ich sonst nicht in diesem Programm wäre: Ich bin kein Dreck. Ich habe ein Leben gelebt. Ich lebe ein Leben und werde es weiterhin führen.
Ich habe ein Leben gelebt. Ich lebe ein Leben und werde es weiterhin führen.
Es heißt immer: „Ein Junkie kann keinen Erfolg haben, kann keine Leistung bringen“. Ich habe aber im Rückblick nicht weniger geleistet, weil ich jetzt abhängig bin.
Hatten Sie Polizeikontakt und Probleme mit der Justiz?
Nein, ich bin absolut unbefleckt. Ich habe nur beruflich Palaver gehabt, aber bin ohne Vorstrafen. Ich habe ein blütenweißes polizeiliches Führungszeugnis. Auch so ein Vorurteil: Ein „Junkie“ muss vorbestraft sein. Ich bin nicht vorbestraft.
Im Rückblick auf die letzten Jahrzehnte: Wie sehen Sie die gesellschaftliche Entwicklung im Umgang mit Drogen? Zum Beispiel bei der Aufklärung?
Heute wird mehr über Work-Life-Balance geredet. Vor 30 Jahren war das nicht möglich. Dafür ist das Problem jetzt aktuell. Alles in gesundem Maß – das lernen die Leute teilweise nicht. Dieser Turbo-Kapitalismus: Alles haben, alles wollen und alles können. Der führt auch dazu, dass man Hilfsmittel braucht, damit man überhaupt den Tag durchsteht. Da würde ich der Gesellschaft den Rat geben: Guckt erstmal auf euch selber und lernt wieder miteinander zu kommunizieren. Das Reden untereinander, das ist wichtig.
Ich hoffe für die Zukunft, dass meine Kinder und Enkelkinder das Glück haben zu lernen, wie man das Leben genießt, und dass dabei jeder für sich verantwortlich ist, dass man keinem anderen die Verantwortung für das eigene Leben geben kann. Es war auch kein anderer, der mich dazu gebracht hat, Drogen zu nehmen. Aber die Erziehung zur Eigenverantwortung ist eine komplizierte Sache. Seit Platon wird schon drüber diskutiert.
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