Aidsgeschichte

„KAHLSCHLAG AIDS“: Zeit, die zerrinnt, Zeit, die bleibt

Von Axel Schock
Bild zum Beitrag Kahlschlag Aids

Die Textsammlung „KAHLSCHLAG AIDS“ von Christian Noak und Ernst M. Häussinger ist ein literarisches Dokument aus mehreren Jahrzehnten Leben mit HIV und Aids.

Ernst M. Häussinger ist am 14. Oktober 2022 verstorben. Wir erinnern mit einer Besprechung des Anfang 2022 erschienenen Werks „KAHLSCHLAG AIDS“ an den Schauspieler, Autor und HIV-Aktivisten.

Dass der Arzt eines Autors das Vorwort zu einem literarischen Werk verfasst, dürfte recht selten vorkommen. Doch Prof. Dr. med. Bogner erklärt sehr anschaulich, wie es dazu kam: Als er Ernst M. Häussinger als Patienten kennenlernte, sei er sehr jung gewesen, und haben ihn dann sein ganzes bisheriges Berufsleben lang durch seine gesundheitlichen Höhen und Tiefen begleitet. „Die Infektion hat uns im wahrsten Sinne zusammengebracht“, schreibt Bogner, einer der führenden HIV-Experten in Bayern und seit vielen Jahren unter anderem Leiter der Sektion Klinische Infektiologie der Uniklinik München.

KAHLSCHLAG AIDS: ein poetischer Spiegel der Aidskrise

Für Bogner ist „KAHLSCHLAG“ ein „poetischer Spiegel“ dessen, wie HIV und Aids über die Jahrzehnte das Leben geprägt haben. Tatsächlich ist dieser über 200 Seiten starke, großformatige und liebevoll gestaltete Band eine Reise zurück zu den Anfängen der Aidskrise, als das Sterben an der Tagesordnung und auf wirksame Behandlungsmöglichkeiten allenfalls zu hoffen war.

Mit „Macht und Ohnmacht einer Bewährungsprobe“ hat der Theater- und Filmschauspieler Ernst M. Häussinger das Buch untertitelt und versteht es in erster Linie als Dokument einer zum Glück überwundenen Zeit. Für Nachgeborene bieten eine Zeittafel, autobiografische Erinnerungen und ein ausführliches Glossar, in dem auftauchende Namen, Institutionen und medizinische Begriffe erklärt werden, Hilfestellung zum Verständnis.

Vor allem aber ist „KAHLSCHLAG AIDS“ die Erfüllung eines Versprechens, denn hier versammelt Häussinger eine umfangreiche Auswahl aus den Gedichten seines bereits 2000 an Parkinson verstorbenen Lebenspartners Christian Noak, Hörspiel- und Bühnenautor.

„Unser gemeinsamer Wunsch war es, dass seine Gedichte und Werke Betroffenen Mut machen“, schreibt Häussinger in seinem Vorwort. Noak hat nämlich nicht nur seine eigene Krankheitserfahrungen in seinen Texten thematisiert, sondern auch die seines Partners literarisch verarbeitet.

Engagement aus dem Mut der Verzweiflung heraus

Ernst Häussinger hatte man 1985 im Rahmen eines Krankenhausaufenthaltes ganz lapidar die Diagnose HIV-positiv mitgeteilt, nachdem er ohne seine Zustimmung getestet worden war.

Zu Beginn der HIV-Epidemie kam dieser Befund der Ankündigung eines frühen Todes gleich. Doch „der Mut der Verzweiflung“ ließ ihn kämpferisch werden, schreibt Häussinger. Er engagierte sich in der Münchner Aidshilfe, in der Positivenselbsthilfe und arbeitete in der Aidsberatung, war Mitbegründer des Café Regenbogen München und 1988 Mitorganisator des 2. Europäischen Positiventreffens.

„Mit der ‚Hilfe zur Selbsthilfe‘ gewann ich wieder Selbstbewusstsein und blieb nicht weiter in der anonymen Opferrolle verhaftet“, schreibt Häussinger in einem autobiografischen Text, den er den Gedichten vorangestellt hat. Die lyrische Form, das wird sehr deutlich, war für Noak und Häussinger zunächst vor allem ein Weg, um mit der ungeheuerlichen Ausnahmesituation umzugehen, die ihre unterschiedlichen Diagnosen bedeuteten. Mehr und mehr aber gelang es ihnen durch das Schreiben auch, den unmittelbaren Folgen für ihre Gesundheit und Psyche Ausdruck zu verleihen und damit sicherlich auch ein Stück weit zu verarbeiten – etwa in dem Trostgedicht „Für Ernst“, indem Noak der seinerzeit berechtigen Angst vor dem Aidstod und dem Sterben der Freunde ein Carpe Diem entgegensetzt:

„Kein Ziel wird dich trösten.
Nimm auf dich die Angst.
Ertrage die Zeit.
Die Zeit, die zerrinnt.
Die Zeit, die dir bleibt,
bis alles gelöscht.“

Zugleich aber lässt sich anhand dieser Texte auch literarisch nachverfolgen, wie sich die Ohnmacht in neues Selbstvertrauen verwandelt – sei es bei einem Positiventreffen im Tagungshaus Waldschlösschen bei einem Malworkshop für Menschen mit HIV oder auf der Bundeversammlung für Menschen mit HIV/Aids 1993 in München. Diese Veranstaltung muss viel bewegt habt – heute würde man von gelungenem Empowerment sprechen.

Das Gedicht „München leuchtet positiHIV“ ist ein trotziger, wütender, fordernder Aufruf, die Situation nicht einfach nur hinzunehmen:

„Wir brauchen mehr Mut denn je,
den Mut der Ausgestoßenen.
Wehren wir uns“.

Und einige Strophen weiter:

„Hebt eure Ärsche,
gewöhnt euch nicht an dieses Sterben vor der Zeit“.

Zeitspeicher und Erinnerung an Menschen, die an Aids verstarben

Viele der Gedichte sind wie Zeitspeicher, in denen beiläufig anmutende Beobachtungen kondensiert und exemplarische Stimmungen eingefangen wurden. Etwa, wenn Häussinger über die Demonstration anlässlich des 2. Europäisches Positiven-Treffens 1988 in München schreibt:

„Nach dem gemeinsamen Abendmahl soll der Demo-Zug sich zwanglos
unter Polizeischutz in Bewegung setzen – Richtung Marienplatz.
Alle teilnehmenden Polizisten sind mit Schutzhandschuhen ausgerüstet.“
Oder wenn es in dem Gedicht „Zum Virus-Stüberl“ lapidar heißt:

„Nachdenklicher sind diese geworden,
die Männer an der Theke.
Lücken entstehen, schließen sich nicht.“

Der Tod, das Sterben von Freund*innen und Mitstreiter*innen im ersten Jahrzehnt mit HIV/Aids ist überhaupt eines der zentralen Themen dieser Textsammlung.

„Dreh dich nicht um.
Lass dich doch fallen.
Horch auf das Echo der Äxte.
Horch auf die Stille der verstummten Schreie“

heißt es beispielsweise im titelgebenden Gedicht „Kahlschlag“.

Das Kapitel „Lieder der Toten“ umfasst rund 40 Nachrufe auf Menschen, die an Aids verstorben sind und mit denen Häussinger und Noak befreundet waren oder die sie im Kontext der Selbsthilfe und Beratungsarbeit kennengelernt haben: Männer und Frauen aller Generationen, Sexarbeiter, Drogenabhängige, Schwule und Heteros, Mütter und Söhne.

Im letzten Gedicht dieser Sammlung nimmt Noak den eigenen Tod vorweg, überschrieben mit „Was auf mich zukommt“:
„Ein Grab,
mein Name, ein Stein
(...) Fremder, der du vorüber gehst.
Lebe!“

In seinen Gedichten – Zeitzeugnisse und (auto-)biografische Notate gleichermaßen – lebt Christian Noak weiter, in der Sammlung auch sein Partner Ernst M. Häussinger.

Christian Noak/Ernst M. Häussinger: „KAHLSCHLAG AIDS. Macht und Ohnmacht einer Bewährungsprobe. Texte – Lyrik – Prosa“. BoD – Books on Demand, 220 Seiten, 24,99 Euro.

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