Leben mit HIV

„In meinem Leben geht‘s nicht mehr um Überleben. Es geht um Leben.“

Porträtfoto weibliche Person mit halblangen Haaren und blauem Oberteil, iim Hintergrund grüne Pflanzen
Katja Schraml © Johannes Berger

Der Münchner Welt-Aids-Konferenz 2024 vorgeschaltet war die Living2024, eine federführend vom Global Network of People Living with HIV (GNP+) organisierte Konferenz, zu der zehn internationale Organisationen von Menschen mit HIV eingeladen hatten. Eine der Rednerinnen war Katja Schraml. Sie ist seit ihrer Diagnose im Jahr 2001 HIV-Aktivistin und arbeitet seit 2010 für die Deutsche Aidshilfe im Referat Medizin, Beratung und Qualitätsentwicklung. Wir dokumentieren hier ihre Rede, die wir vom Englischen ins Deutsche übersetzt haben.

Liebe alle!

Ich habe die große Ehre, euch im Namen der deutschen Community hier zur Living2024-Vor-Konferenz zu begrüßen.

Ich freue mich sehr auf die kommenden Tage. Es ist wie Heimkommen: in einem Raum voller Menschen, die mit HIV leben, zu sein, inmitten von Community. Danke, dass ihr gekommen seid!

Tatsächlich ist das hier mein zweites Heimkommen. Wenn ich aus Berlin nach Bayern fahre, fühlt es sich immer vertraut an, sobald ich den Dialekt höre. Ich bin nicht weit von hier in einem kleinen Dorf aufgewachsen. Etwa 300 Leute leben dort. Zwei von ihnen kennen meinen HIV-Status. (Beziehungsweise: Ich weiß, dass die beiden es wissen, weil ich es ihnen gesagt habe …) Vor 23 Jahren, mein halbes Leben. Es sind meine Mutter und meine (ältere) Schwester. Die meisten der anderen Leute wissen nicht mal, was ich beruflich mache. Manche denken, ich arbeite in einem Büro. Was auch stimmt. Aber ist es die Wahrheit?

Das ist chronische Krankheit: Jahr für Jahr mit den gleichen Problemen konfrontiert werden. Offenlegen. Erklären. Aufklären. Vielleicht verteidigen.

Ich arbeite bei der Deutschen Aidshilfe, dem Dachverband der regionalen Aidshilfen und anderen communitybasierten HIV/STI-Beratungsstellen in Deutschland. Wir sind Host von AIDS Action Europe. Als Nichtregierungsorganisation kümmern wir uns um fachliche Informationen rund um HIV und andere sexuell übertragbare Infektionen und machen Lobbyarbeit für Menschen, die mit HIV leben oder am stärksten davon betroffen sind. Ich gehöre zu dieser diversen, queeren, bunten, vielfältigen Gruppe, die gemeinsam an einem Ziel arbeitet: die Lebensqualität von Menschen zu verbessern, die in den verschiedensten Lebenssituationen auf Barrieren stoßen, die mit struktureller Diskriminierung konfrontiert werden, die oft vor (Straf-)Verfolgung Angst haben müssen. Nur aufgrund ihres Status, ihrer Herkunft oder der Wahl ihrer Lebensweise.

Manchmal, wenn ich meine Familie besuche, überlege ich, ob ich nicht mehr über mich und unsere Arbeit erzählen sollte. Wir haben doch in einigen Bereichen so viel erreicht, dass es total einfach sein sollte, mich hinzustellen, zu öffnen und zu sagen: Schau her! Was wir alles geschafft haben! Meine Medikamente wirken nicht nur, sie sind verfügbar, zugänglich, erschwinglich und akzeptabel. Einige dieser Tabletten nehme ich schon seit mehr als 20 Jahren! Ich sollte das schätzen und dankbar sein. In meinem Leben geht‘s nicht mehr um Überleben. Es geht um Living: Leben.

Vielleicht muss ich ja aber auch nicht mehr darüber reden. Ich wohne zum Beispiel gar nicht mehr in dem Dorf. Ich muss mich nicht stellen, ich kann mich verstecken. Ich kann in meiner sicheren Berliner Aidshilfe-Bubble leben: ziemlich privilegiert.

Darf ich das? Darf ich müde sein vom Reden und „Outen“? Das ist chronische Krankheit: Jahr für Jahr mit den gleichen Problemen konfrontiert werden. Offenlegen. Erklären. Aufklären. Vielleicht verteidigen. Gegen Diskriminierung vorgehen. Muss ich immer wieder über die gleichen Dinge sprechen? Ich sollte es sicher nicht müssen!

Wir waren so erfolgreich, dieses Virus in unseren Körpern zu regulieren: U=U: Undetectable = untransmittable [Anm. d. Red.: Auf Deutsch auch N=N, nicht nachweisbar = nicht übertragbar]. Und trotzdem scheint dieses nicht nachweisbare Virus unser Leben zu beherrschen. Unsere Gedanken. Und unsere Entscheidungen.

„Soll ich zu diesem Arzt gehen oder nicht? Sage ich ‚es‘ dem Personal? Ist das Diskriminierung – oder ‚nur‘ Routine?“ Was wäre, wenn? Was, wenn sie was sagen oder wenn sie was tun, zum Beispiel diesen unerträglichen Stigma-Sticker auf meine Akte kleben: diesen lauten roten Punkt „Infektiös!“. Schon wieder?! Der letztes Jahr veröffentlichte europäische Stigma-Report zeigt keine Fortschritte im Vergleich zu den letzten zwanzig Jahren. Wirklich?!

Manchmal würde ich mich gerne wieder verstecken. Auch das ein Privileg.

Es gibt so viel, woran wir noch arbeiten müssen. Meine Befürchtungen, in welche ärztliche Praxis ich gehen könnte, sind privilegiert im Vergleich zu denen derjenigen Menschen, die gar keinen Zugang zur Gesundheitsversorgung haben, weil sie nicht versichert sind. In diesem Land hier müssen sich Menschen immer noch Sorgen machen, was passiert, wenn sie auf medizinisches Personal stoßen, das nicht informiert ist oder Menschen mit anderen Lebensstilen oder verschiedenen Herkünften nicht aufgeschlossen gegenübertritt. Das wirkt sich direkt auf die Gesundheit aus, vor allem, wenn Menschen für Behandlungen oder Tests wie auf Hepatitis-B auf medizinisches Personal angewiesen sind, weil sie nicht bei uns niedrigschwellig und communitybasiert durchgeführt werden können.

Also, wie ihr natürlich wisst: keine Chance, müde zu sein! Ich hatte so viele verschiedene Phasen in meinem Leben. Verstecken. Offenlegen. An die Öffentlichkeit gehen. Manchmal würde ich mich gerne wieder verstecken. Auch das ein Privileg. Ich kann oft entscheiden, ob ich über HIV reden will oder nicht. Manchmal setze ich einfach aus, ich setze mich hin und ruhe aus. Wir müssen auch unsere Ressourcen wieder aufladen. Bis es Zeit ist, wieder aufzustehen.

Es gibt noch so viel zu tun: Wie können wir die Ziele der UNAIDS – 95 % aller Menschen mit HIV sollen bis 2030 von ihrem Status wissen, 95 % davon Medikamente erhalten, 95 % davon unter der Nachweisgrenze sein – erreichen, wenn wir zu viel Angst haben, in eine Klinik zu gehen und unser – so genanntes – Menschenrecht einzufordern? Also müssen wir reden. Über Diskriminierung und Kriminalisierung. Über Strafgesetze und damit über: politischen Willen. Es gibt zu viele Länder, insbesondere in Osteuropa und Zentralasien, in denen die Epidemie wächst. Wir müssen über Zugang zu Therapie sprechen. Und darüber hinaus: über Therapieoptionen! Leben mit HIV ist nicht das Problem. Sterben an Aids ist es.

Keine medizinische Heilung wird die Barrieren abbauen, die diese Infektion mit sich bringt.

Wenn es jemals eine Heilung geben sollte, haben wir noch viel mehr zu reden. Denn keine medizinische Heilung wird die Barrieren abbauen, die diese Infektion mit sich bringt. Oder die Ungleichheit, die wir aufgrund unserer unterschiedlichen Hintergründe erfahren.

Was wäre, wenn … Solche „Wenns“ sollten nicht unsere Welt regieren. Sie sollten nicht definieren, wer wir sind. Wer ich bin und was ich von mir zeigen möchte.

Also: Lasst uns reden. Lasst uns teilen. Und: Lasst uns Spaß haben! Lasst uns zusammenkommen und uns gegenseitig inspirieren, beeindrucken von all dieser posithiven Kraft hier in diesen Tagen, die vor uns liegen. Lasst uns all unsere Resilienz und Kraft sammeln, um weiter an einem akzeptierenden und willkommen heißenden Umfeld zu arbeiten. Damit diejenigen, die nach uns kommen, nicht die gleichen Probleme und Traumata, die gleiche Scham und das gleiche Stigma überwinden müssen, sondern ihr Leben mit all seinen Verantwortlichkeiten so leben können, als wären es nur Herausforderungen wie viele andere.

Nach dieser Konferenz werde ich meine Familie besuchen – tatsächlich haben wir ein Klassentreffen. Kein Scherz! Ich weiß immer noch nicht, ob ich hinfahre oder – wenn (!) – was ich ihnen erzähle. Manchmal werde ich von meiner eigenen Geschichte müde. Aber wenn ich jetzt darauf schaue, mit über zwei Jahrzehnten Distanz und einer riesigen internationalen Konferenz in meiner Heimstadt eine ganze Woche lang vor mir, klingt meine Geschichte ziemlich einfach:

„I once had contact with a virus. And it turned out to be a permanent one. That’s it. So what? Move on. Go on living!“

„Ich hatte mal Kontakt mit einem Virus. Und der stellte sich als permanent heraus. Das war’s. Und nun? Mach weiter. Lebe!“

Vielen Dank! Ich wünsche euch eine gute Zeit und viele anregende Erlebnisse!

Und besonderen Dank an meine Kolleg*innen von der Deutschen Aidshilfe: Ich wäre heute nicht hier ohne euch! Danke!

Nachtrag: Ja, ich war beim 30-jährigen Klassentreffen der Abschlussklasse 10a 1993/1994 der Mädchenrealschule in Neumarkt in der Oberpfalz. Und ich habe mich (an diesem Abend) entschieden, „nur“ von meiner Aidshilfe-Arbeit zu erzählen. Aber die eine oder andere hat meinen privaten Blog mit meiner „living-positive“-Seite schon gefunden. Mal sehen, ob sich daran das nächste Mal anknüpfen lässt …

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