Menschenrechte

Die Menschenrechte von Sexarbeiter*innen schützen

Von Gastbeitrag
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©The Gender Spectrum Collection; CC BY-NC-ND 4.0 DEED

Von Dunja Mijatović, Menschenrechtskommissarin des Europarats von 2018–2024

Diskriminierung, Strafverfolgung, Gewalt sind nur einige der Probleme von Sexarbeiter*innen. Die Menschenrechtskommissarin des Europarats sagt: Ein menschenrechtsbasierter Ansatz ist die Zukunft!

Das englische Original dieses Beitrags („Protecting the human rights of sex workers“) erschien am 15.2.2024 auf der Website des Europarats. Wir danken herzlich für die Erlaubnis, eine deutsche Fassung (Übersetzung: Macfarlane International) zu veröffentlichen. Hinweis: Es handelt sich nicht um eine offizielle Übersetzung.

Die Lebenswirklichkeiten von Sexarbeiter*innen in Europa werfen ernste Menschenrechtsfragen auf. Entscheidend für den Umgang mit diesem wichtigen und komplexen Thema ist ein umfassendes Verständnis der menschenrechtlichen Folgen, welche die hohe Gewaltbereitschaft und der unzureichende Schutz durch Strafverfolgung und Justiz, die Stigmatisierung und die vielschichtige Diskriminierung haben, die zu Isolation führen und den Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen wie z. B. Wohnraum- und Gesundheitsversorgung einschränken. All diese Faktoren tragen dazu bei, eine Kultur der Straflosigkeit für Verbrechen gegen Sexarbeiter*innen aufrechtzuerhalten, die wiederum zu noch mehr Gewalt führt.

Nach Gesprächen mit Sexarbeiter*innen in ganz Europa, ihren Vertretungsorganisationen, relevanten internationalen Organisationen und Expert*innen fordere ich einen Umgang mit der Sexarbeit[1], der fest auf den Menschenrechten basiert und sich auf den wirksamen Schutz der Rechte von Sexarbeiter*innen konzentriert. Ihre Sicherheit, Handlungsfähigkeit (Original: agency; Anm. d. Red.) und ihre körperliche Autonomie müssen dabei Vorrang vor Stereotypen und falschen Vorstellungen haben.

Sexarbeiter*innen haben wie alle Individuen Anspruch auf Schutz vor Diskriminierung aufgrund ihres Berufs. Sie sollten gleichen Zugang zu grundlegenden Menschenrechten, Dienstleistungen und Rechtsschutz haben – unabhängig von ihrem gewählten Beruf.

Erfahrungen mit Gewalt und unzureichender Schutz durch Strafverfolgung und Justiz

Auf dem ganzen Kontinent sind Sexarbeiter*innen oft einem hohen Maß an Gewalt und Missbrauch ausgesetzt. Dies liegt vor allem an ihrer Marginalisierung und unsicheren Arbeitsbedingungen sowie an nach wie vor bestehenden schädlichen Einstellungen in der Gesellschaft. Diese Gewalt kann verschiedene Formen annehmen: von Beschimpfungen, Beleidigungen und Drohungen über Stalking und Belästigung (auch online) bis hin zu Raub, körperlichen Angriffen, Vergewaltigung und sexueller Gewalt, Hass- und sogar Tötungsverbrechen. Aus den gleichen Gründen ist auch das Risiko von Sexarbeiter*innen erhöht, Opfer anderer schwerer Menschenrechtsverletzungen wie Menschenhandel und Ausbeutung zu werden.

Ich fordere einen Umgang mit der Sexarbeit, der fest auf den Menschenrechten basiert.

Dunja Mijatović, Menschenrechtskommissarin des Europarats 2018–2024

In vielen Mitgliedsstaaten [des Europarats; Anm. d. Red.] fehlen offizielle, aufgeschlüsselte Daten, mit denen Gewaltverbrechen gegen Sexarbeiter*innen identifiziert und gezählt werden könnten. Die verfügbaren Daten basieren weitgehend auf Informationen von NGOs – an sie melden Sexarbeiter*innen Vorfälle vertraulich, um andere zu warnen.

Nach den verfügbaren Informationen ist das Spektrum der Täter*innen sehr breit. In vielen Ländern berichten Sexarbeiter*innen, dass die Polizei und die Strafverfolgungsbehörden manchmal selbst Gewalt gegen sie ausüben oder fortsetzen. Fälle von polizeilicher Schikane und grober Behandlung sind Berichten zufolge so zahlreich, dass Sexarbeiter*innen die Polizei eher als Bedrohung denn als Hüterin ihrer Sicherheit ansehen und die meisten wenig Vertrauen in die Fähigkeit oder Bereitschaft der Polizei haben, sie zu schützen. Aus Angst vor Stigmatisierung, strafrechtlicher Verfolgung, Sanktionen oder Abschiebung zögern Sexarbeiter*innen häufig, Gewalt und andere Menschenrechtsverletzungen, die sie selbst erlebt oder mitbekommen haben, zu melden – auch in Ländern, in denen der Verkauf sexueller Dienstleistungen an sich nicht illegal ist. Daher sollten die Behörden dem Schutz von Sexarbeiter*innen Priorität einräumen und sicherstellen, dass sie Straftaten ohne Angst vor rechtlichen Konsequenzen anzeigen können, sowie dass diejenigen, die Gewalt gegen sie ausüben, zur Rechenschaft gezogen werden.

Laut GREVIO, dem Fachgremium des Europarats zur Überwachung seines Übereinkommens zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention), bestehen auch bei den Strafverfolgungsbehörden und der Justiz nach wie vor schädliche stereotype Einstellungen, die auf der Vorstellung beruhen, dass „nur unschuldige Frauen und Mädchen Opfer einer Vergewaltigung sein können“, was sich negativ auf die Entscheidungen des Justizsystems in Bezug auf Sexarbeiter*innen auswirken kann.

Stigmatisierung und vielfältige und sich überschneidende Formen der Diskriminierung

Sexarbeiter*innen leiden unter der anhaltenden Stigmatisierung von Sexarbeit als „schändlich“ und „unehrenhaft“. Das daraus resultierende hohe Maß an gesellschaftlich akzeptierter Respektlosigkeit, Einschüchterung und Diskriminierung aufgrund der vermeintlichen Nichteinhaltung gesellschaftlicher und geschlechtsspezifischer Normen des Sexualverhaltens behindert ihre Bemühungen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Stigmatisierung führt oft dazu, dass Sexarbeiter*innen ihre Tätigkeit verheimlichen und in ständiger Angst vor einem Outing und öffentlicher Bloßstellung leben – für sie selbst und ihre Familien. Außerdem verhindert die Stigmatisierung auch eine angemessene Gesundheitsversorgung für sie und kann ihren Zugang zu Wohnraum, Bildung oder Kinderbetreuung beeinträchtigen.

Sexarbeiter*innen haben wie alle Individuen Anspruch auf Schutz vor Diskriminierung aufgrund ihres Berufs.

Dunja Mijatović, Menschenrechtskommissarin des Europarats 2018–2024

Besonders besorgniserregend ist die Menschenrechtslage von Sexarbeiter*innen aus Gruppen, die vielfältigen und sich überschneidenden Formen der Diskriminierung ausgesetzt sind, z. B. Migrant*innen, rassifizierte Personen, trans Personen oder Menschen mit Behinderungen oder Langzeiterkrankungend. Die Art und Weise, wie ihre Identität oder ihr Status wahrgenommen werden, bringt sie in eine Lage nochmals verschärfter Isolation und Hilflosigkeit, denn Menschen aus diesen Gruppen werden oft eh schon gesellschaftlich marginalisiert und haben Schwierigkeiten beim Zugang zum regulären Arbeitsmarkt.

Kriminalisierung der Sexarbeit

In vielen Ländern stehen die Sexarbeit selbst oder die Beteiligung Dritter – also der Kauf von Sex oder die sogenannten Vermittlungsdienste wie „Zuhälterei“, das Betreiben eines Bordells, die Vermietung von Wohnungen an Sexarbeiter*innen und Werbung – unter Strafe oder eine solche Kriminalisierung wird erwogen. Die verfügbaren Daten, vorgelegt von internationalen Menschenrechtsorganisationen und den zuständigen UN-Gremien, sowie Berichte von Sexarbeiter*innen selbst deuten jedoch darauf hin, dass der Schutz von Sexarbeiter*innen und ihren Rechten sich nicht durch Kriminalisierung der Sexarbeit gewährleisten lässt.

Im Jahr 2016 stellte etwa die UN-Arbeitsgruppe zur Diskriminierung von Frauen und Mädchen fest, dass die Kriminalisierung Frauen in der Sexarbeit „in eine Situation der Ungerechtigkeit, Verletzlichkeit und Stigmatisierung bringt und gegen internationale Menschenrechtsübereinkommen verstößt“. Sie betonte, dass die Durchsetzung von Strafbestimmungen zur Regulierung der Kontrolle von Frauen über ihren eigenen Körper – wie etwa der Bestimmungen zur Sexarbeit – eine schwere und ungerechtfertigte Form staatlicher Kontrolle sei und die Würde und körperliche Integrität von Frauen verletze, indem sie ihre Autonomie einschränke, Entscheidungen über ihr eigenes Leben und ihre eigene Gesundheit zu treffen.

Kriminalisierung bringt Frauen in der Sexarbeit „in eine Situation der Ungerechtigkeit, Verletzlichkeit und Stigmatisierung … und [verstößt] gegen internationale Menschenrechtsübereinkommen“.

UN-Arbeitsgruppe zur Diskriminierung von Frauen und Mädchen, 2016

Nach Ansicht von Sexarbeiter*innenorganisationen und Verteidiger*innen ihrer Rechte betrifft die Kriminalisierung Dritter – auch ohne Kriminalisierung der Sexarbeit selbst – automatisch und direkt immer auch Sexarbeiter*innen, da ihr Arbeitsfeld insgesamt kriminalisiert wird, was die Stigmatisierung verstärkt und größere Gewaltrisiken mit sich bringt.

Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in seiner Entscheidung zur Zulässigkeit der Klage von M. A. und anderen gegen Frankreich festgestellt, dass die Kläger*innen (261 Personen verschiedener Nationalitäten, die in Frankreich rechtmäßig Sexarbeit verrichten) zu Recht Anspruch auf den Opferstatus nach der Europäischen Menschenrechtskonvention erheben haben. Im vorliegenden Fall machen die Kläger*innen geltend, dass das französische Gesetz von 2016 (es stellt den Kauf sexueller Dienstleistungen unter einvernehmlich handelnden Erwachsenen unter Strafe) sie zum Arbeiten im Verborgenen und in der Isolation zwinge und sie dadurch größeren Risiken für ihre körperliche Unversehrtheit und ihr Leben aussetze. Außerdem schränke es ihre Freiheit ein, selbst über ihr Privatleben zu entscheiden, was einen Verstoß gegen die Artikel 2 (Recht auf Leben), 3 (Verbot der Folter) und 8 (Recht auf Privat- und Familienleben) der Konvention darstelle. Über die Frage, ob das französische Gesetz tatsächlich gegen diese Artikel verstößt, wird der Gerichtshof noch entscheiden.

Die Ergebnisse einer 2019 und 2020 unter 185 Sexarbeiter*innen in England durchgeführten Umfrage zeigen, dass sich die Kriminalisierung Dritter ebenso auf Familienangehörige, Freund*innen und Kolleg*innen auswirkt, die Sexarbeiter*innen unterstützen möchten. Auch die Front Line Defenders stellen fest, dass solche Gesetze die Arbeit von Menschenrechtsverteidiger*innen (einschließlich derer, die sich mit der Bekämpfung des Menschenhandels beschäftigen) weiter gefährden und untergraben: Sie machten es für Aktivist*innen gefährlich oder illegal, Gesundheits- und Menschenrechtsarbeit in Bordellen zu organisieren oder mit Opfern Kontakt aufzunehmen, weil sie Angst haben müssten, verhaftet und angeklagt zu werden.

Im Jahr 2023 stellte die UN-Arbeitsgruppe zur Diskriminierung von Frauen und Mädchen fest, es gebe mittlerweile ausreichend Belege für die Schäden, die jede Form der Kriminalisierung von Sexarbeit (einschließlich der Kriminalisierung von Kund*innen und verbundener Aktivitäten „Dritter“) mit sich bringe.

Sexarbeit im Zusammenhang mit sexueller Ausbeutung und Menschenhandel

Wie 2023 von der UN-Arbeitsgruppe hervorgehoben wurde, hat die starke Polarisierung der Ansichten zum Zusammenhang von Sexarbeit, Menschenhandel und sexueller Ausbeutung, Feminismus und Menschenrechten jeden wirklichen Fortschritt beim Schutz der Menschenrechte von Sexarbeiter*innen behindert.

Die Gleichsetzung von Sexarbeit (unter einvernehmlich handelnden Erwachsenen) mit Gewalt gegen Frauen – häufig als Argument für die Kriminalisierung und Verfolgung der Sexarbeit oder einiger ihrer Aspekte vorgebracht – lässt die Unterscheidung zwischen Sexarbeit an sich und Gewalt in der Sexarbeit außer Acht. Ebenso ignoriert sie, dass geschlechtsspezifische Gewalt bereits unter Strafe steht und die Mitgliedsstaaten die menschenrechtliche Verpflichtung haben, diese Form der Gewalt zu verhindern und zu bekämpfen, unabhängig davon, ob die Opfer Sexarbeit betreiben oder nicht. Und nicht zuletzt lässt diese Gleichsetzung die Diversität der Menschen in der Sexarbeit sowie ihrer gelebten Realitäten und Kontexte außer Acht und missachtet ihre Autonomie und Fähigkeit, über ihren Körper und ihr Leben selbst zu entscheiden.

Die Gleichsetzung von Sexarbeit mit Gewalt gegen Frauen lässt die Diversität der Menschen in der Sexarbeit sowie ihrer gelebten Realitäten und Kontexte außer Acht und missachtet ihre Autonomie und Fähigkeit, über ihren Körper und ihr Leben selbst zu entscheiden.

Dunja Mijatović, Menschenrechtskommissarin des Europarats 2018–2024

GREVIO hat festgestellt, dass die Istanbul-Konvention Sexarbeit an sich nicht als eine Form der Gewalt gegen Frauen definiert. Stattdessen konzentriert sie sich auf die Unterstützung und den Schutz von Frauen in der Sexarbeit bei allen Fällen von erlebter geschlechtsspezifischer Gewalt. In diesem Zusammenhang hat GREVIO die Staaten aufgefordert, bei ihren Strategien und Maßnahmen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen das für Sexarbeiterinnen spezifische Risiko von (intersektionaler) Mehrfachdiskriminierung sowie ihre Schwierigkeiten beim Zugang zu allgemeinen und spezialisierten Unterstützungsdiensten zu berücksichtigen, einschließlich des Zugangs zu Notunterkünften.

In gleicher Weise haben Amnesty International und Human Rights Watch betont, die Vermischung von Menschenhandel und Sexarbeit könne zu übersteigerten Initiativen führen, die Sexarbeiter*innen und Opfer von Menschenhandel in Wirklichkeit anfälliger für Gewalt und Schäden machen können. Darüber hinaus fehlten Belege dafür, dass solche Ansätze hinsichtlich der Prävention, der Identifizierung von Opfern und ihres Schutzes sowie der Unterstützung der strafrechtlichen Verfolgung der Täter erfolgreich sind.

Die Kriminalisierung von Dritten, so argumentieren ihre Befürworter*innen, verringere die Nachfrage und trage so zur Eindämmung der Sexarbeit insgesamt sowie zur Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Gewalt und Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung bei. Übereinstimmende Berichte zeigen jedoch, dass in einigen Staaten kommerzielle sexuelle Dienstleistungen nach der Kriminalisierung nicht nur nicht abgenommen, sondern möglicherweise sogar zugenommen haben.

Darüber hinaus argumentieren mehrere Organisationen zur Bekämpfung des Menschenhandels, darunter die Global Alliance Against Traffic in Women und La Strada International, dass Sexkaufverbote keine erwiesenen Auswirkungen auf die Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels haben und sogar die Identifizierung von Opfern des Menschenhandels unter Sexarbeiter*innen und deren Schutz untergraben könnten.

Die kontroversen Debatten und falschen Vorstellungen sind auch auf die mangelnde Einbeziehung der wichtigsten Interessengruppen zurückzuführen. Die Sexarbeiter*innen und ihre Vertreter*innen, mit denen ich gesprochen habe, erklärten mir, dass sie entweder überhaupt nicht gefragt werden, bevor Entscheidungen über ihre Arbeit und ihr Leben getroffen werden, oder dass ihre Ansichten, wenn sie denn gefragt werden, nicht ernsthaft berücksichtigt werden.

Vielfältige Hindernisse beim Zugang zu Rechten

Ein menschenrechtsbasierter Ansatz in Bezug auf Sexarbeit bedeutet auch, dass der Zugang von Sexarbeiter*innen zu ihren Rechten proaktiv erleichtert werden sollte, unabhängig davon, ob es um den Zugang zu Unterkünften für Opfer von Gewalt oder Menschenhandel im Einklang mit den einschlägigen Standards des Europarats geht oder um den Zugang zu sozialen Rechten (einschließlich des Rechts auf Gesundheit, Wohnraum, Bildung und Arbeitnehmer*innenrechten).

Wie bereits in den Themenpapieren zum Recht auf Gesundheit und zur sexuellen und reproduktiven Gesundheit von Frauen und ihren Rechten in Europa festgestellt wurde, stehen Sexarbeiterinnen trotz ihres größeren Bedarfs an medizinischer Versorgung vor großen Hürden bei der Umsetzung ihres Rechts auf Gesundheit. Dies führt zu deutlich schlechteren Gesundheitszuständen. Alarmierend ist, dass Sexarbeiter*innen in ganz Europa auch mit einer Reihe von Zwangsmaßnahmen und Verstößen gegen die Verschwiegenheitspflicht konfrontiert sind, die ihre sexuelle und reproduktive Gesundheit und ihre Rechte untergraben. Viele Mitgliedsstaaten ergreifen noch immer keine wirksamen Maßnahmen, um den gleichberechtigten und ungehinderten Zugang von Sexarbeiter*innen zu diesen Rechten zu gewährleisten.

Sexarbeiterinnen stehen trotz ihres größeren Bedarfs an medizinischer Versorgung vor großen Hürden bei der Umsetzung ihres Rechts auf Gesundheit.

Dunja Mijatović, Menschenrechtskommissarin des Europarats 2018–2024

Selbst wenn Sexarbeit nicht unter Strafe steht, kann ihre Regulierung in einigen Ländern so restriktiv ausfallen, dass sie den Zugang von Sexarbeiter*innen zu Rechten beeinträchtigt und dazu führt, dass der Großteil der Sexarbeit außerhalb des Rechtsrahmens stattfindet. So können etwa Sexarbeiter*innen von Sanktionen oder Geldstrafen bedroht sein, ähnlich wie in Ländern, in denen Sexarbeit unter Strafe steht. In Griechenland zum Beispiel haben die Voraussetzungen für das Arbeiten in den wenigen zugelassenen Bordellen – Anforderungen wie „alleinstehend, geschieden oder verwitwet“ und verpflichtende regelmäßige Gesundheitstests – Berichten zufolge dazu geführt, dass die meiste Sexarbeit illegal ausgeübt wird.

Verteidiger*innen der Rechte von Sexarbeiter*innen berichten, dass verpflichtende Gesundheitschecks in solchen Regulierungsmodellen oft als Verletzung der Menschenrechte von Sexarbeiter*innen wahrgenommen werden. Der UN-Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau hat seine Besorgnis über den verpflichtenden Charakter von Gesundheitstests für Sexarbeiter*innen in Österreich geäußert, die von öffentlichen Gesundheitsbeamt*innen durchgeführt werden und in einigen Bundesländern kostenpflichtig sind. Aus Deutschland wird berichtet, dass die umfangreichen und komplexen Vorschriften zur Unterdrückung und zum Ausschluss vieler Sexarbeiter*innen führen, insbesondere von Migrant*innen, trans Personen und anderen besonders marginalisierten Personen.

Was den Zugang zu Beschäftigung und Arbeitsrechten anbelangt, scheint der überproportional hohe Anteil von Migrant*innen, trans Personen und Menschen mit Behinderungen oder Langzeiterkrankungen unter den Sexarbeiter*innen widerzuspiegeln, dass Personen mit besonderen Bedürfnissen oft erhebliche Schwierigkeiten haben, eine andere, zu ihren Lebensbedingungen passende Erwerbstätigkeit zu finden. Zwar gibt es in einigen Mitgliedsstaaten Unterstützungsstrukturen für Sexarbeiter*innen, die eine andere Beschäftigung finden möchten, der Zugang dazu ist aber häufig schwierig, insbesondere für die am stärksten marginalisierten Sexarbeiter*innen, denn die Unterstützung ist oft an besondere Bedingungen geknüpft und reicht auch nicht aus. Um Sexarbeiter*innen den Zugang zu Arbeitnehmer*innenrechten und Sozialschutzsystemen zu erleichtern, sollten alle Unterstützungsmaßnahmen auf die spezifischen Bedürfnisse und ihre spezifische Situation ausgerichtet sein, auch im Hinblick auf eine angemessene finanzielle Unterstützung und den Zugang zu relevanten Bildungsmöglichkeiten.

Mit einer wegweisenden, nach Anhörung von Sexarbeiter*innen erlassenen Änderung der Rechtsvorschriften hat Belgien im Jahr 2022 als erstes europäisches Land Sexarbeit entkriminalisiert. Sexarbeiter*innen können dort nun legal als Selbstständige arbeiten und haben Anspruch auf soziale Leistungen. Seit einem Gesetz vom Sommer 2023 haben auch angestellte Sexarbeiter*innen Arbeitnehmer*innenrechte. Dazu gehören Regeln zu Arbeitszeit und Bezahlung, das Recht, Kund*innen abzulehnen, und die Pflicht zum Einbau von Notschaltern in jedem Zimmer. Das neue Gesetz entkriminalisiert auch Dritte, das heißt, sie werden nicht mehr bestraft, wenn sie ein Bankkonto für Sexarbeiter*innen eröffnen oder eine Unterkunft vermieten, und auch Werbung von Sexarbeiter*innen für ihre Dienstleistungen ist nun erlaubt.

Der Weg in die Zukunft: ein menschenrechtsbasierter Ansatz

Die Mitgliedsstaaten des Europarates sollten bei der Sexarbeit einen menschenrechtsbasierten Ansatz verfolgen, der den Schutz von Sexarbeiter*innen vor Gewalt und Missbrauch, ihren gleichberechtigten Zugang zum Recht auf Gesundheit und zu anderen sozialen Rechten sowie ihr Recht auf Privatleben und auf Teilhabe am öffentlichen und politischen Leben gewährleistet.

Alle politischen Maßnahmen müssen dabei berücksichtigen, dass Sexarbeiter*innen in besonderem Maße Diskriminierung einschließlich intersektionaler und Mehrfachdiskriminierung ausgesetzt sind, etwa aufgrund von ethnischer Herkunft, Geschlecht, Gender, sexueller Orientierung, Geschlechtsidentität, Geschlechtsausdruck und Geschlechtsmerkmalen, Migrationsstatus oder Behinderung.

Die Mitgliedsstaaten sollten dafür sorgen, dass jeder Mensch Zugang zu einem angemessenen Lebensstandard, zu Gesundheit und Bildung sowie zu einem sicheren und nicht ausbeuterischen Arbeitsumfeld hat, und den gleichberechtigten Zugang zu sozialem Schutz und zu allen anderen sozialen Rechten gewährleisten.

Ein menschenrechtsbasierter Ansatz bedeutet auch, dass einvernehmliche sexuelle Beziehungen zwischen Erwachsenen gegen Bezahlung nicht unter Strafe stehen sollten.

Dunja Mijatović, Menschenrechtskommissarin des Europarats 2018–2024

Darüber hinaus sollten die Mitgliedsstaaten des Europarats Schulungsprogramme für Strafverfolgungsbeamt*innen, Justizbehörden, Angehörige der Gesundheitsberufe und Sozialdienste ausbauen, in denen es um die Notwendigkeit von Maßnahmen gegen die Stigmatisierung von Sexarbeiter*innen, zum Schutz ihrer Rechte und zur Gewährleistung eines gleichberechtigten Zugangs zu diesen Diensten geht, und zugleich die Einführung von Programmen gegen die gesellschaftliche Stigmatisierung von Sexarbeiter*innen fördern.

Ein menschenrechtsbasierter Ansatz bedeutet auch, dass einvernehmliche sexuelle Beziehungen zwischen Erwachsenen gegen Bezahlung nicht unter Strafe stehen sollten. Die Kriminalisierung und die Durchsetzung von Strafbestimmungen gegen Sexarbeiter*innen, Kund*innen oder Dritte hat den Zugang von Sexarbeiter*innen zu Rechten und grundlegenden Dienstleistungen erheblich eingeschränkt und dazu geführt, dass sie aus Angst vor dem Justizsystem im Verborgenen und isoliert leben und arbeiten. Umgekehrt hat die Entkriminalisierung der einvernehmlichen Sexarbeit von Erwachsenen positive Auswirkungen auf die Sicherheit von Sexarbeiter*innen und auf ihren Zugang zu Sozialschutz und Gesundheitsdiensten, was zu besseren Gesundheitszuständen führt. Auch die UN-Arbeitsgruppe stellte fest, dass das Recht von Sexarbeiter*innen auf Teilhabe am öffentlichen und politischen Leben am besten durch Entkriminalisierung geschützt werden kann.

Einvernehmliche Sexarbeit zwischen Erwachsenen darf nicht mit Gewalt gegen Frauen oder Menschenhandel vermengt werden – Sexarbeiter*innen müssen vor Gewalt, Menschenhandel und Ausbeutung geschützt werden. Laut Amnesty International bedeutet Entkriminalisierung der Sexarbeit nicht die Abschaffung von Gesetzen gegen Ausbeutung, Menschenhandel oder Gewalt gegen Sexarbeiter*innen – im Gegenteil: Diese Gesetze müssen beibehalten und gestärkt werden. Um den Schutzbedürfnissen der Opfer von Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung und von geschlechtsspezifischer Gewalt besser gerecht zu werden – unabhängig davon, ob sie Sexarbeit leisten oder nicht –, müssen die Mitgliedsstaaten sicherstellen, dass ihre Rechtsvorschriften mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (insbesondere Artikel 2 „Recht auf Leben“, Artikel 3 „Verbot der Folter“ und Artikel 4 „Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit“) in der Auslegung durch den Gerichtshof sowie mit dem Übereinkommen des Europarats zur Bekämpfung des Menschenhandels und der Istanbul-Konvention im Einklang stehen und sie gemäß den Empfehlungen ihrer jeweiligen Überwachungsgremien wirksam umgesetzt werden.

Zum Schluss bleibt zu sagen, dass niemand besser für Sexarbeiter*innen sprechen kann als sie selbst – niemand kennt das Umfeld besser oder die Gründe, aus denen jemand Sexarbeiter*in wird. Um wirksame und wirklich empowernde, schützende, auf den Menschenrechten basierende Maßnahmen zu entwickeln und umzusetzen, müssen wir den Stimmen und Rechten von Sexarbeiter*innen mehr Aufmerksamkeit und Sichtbarkeit verschaffen. Zu diesem Zweck müssen Sexarbeiter*innen in all ihrer Vielfalt wie auch ihre Vertretungsorganisationen angemessen angehört und in den politischen Entscheidungsprozess einbezogen werden – ihre Erfahrungen und Perspektiven sind unverzichtbar für die Entwicklung wirksamer Politiken und Maßnahmen, die ihre Menschenrechte und ihre Würde fördern.

[1] Für die Zwecke dieses Kommentars zum Thema Menschenrechte wird unter Sexarbeit der einvernehmliche Austausch sexueller Dienstleistungen gegen Bezahlung unter Erwachsenen verstanden.

Dunja Mijatović war von 2018 bis 2024 Menschenrechtskommissarin des Europarats und hatte damit die Aufgabe, sich für den Schutz der Menschenrechte in den 46 Mitgliedsstaaten und die Sensibilisierung der Öffentlichkeit für dieses Thema einzusetzen.

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