Premiere am Gedenktag: Fixpunkt macht’s mobil

Von Holger Wicht
Am Ende sagt eine Zahl plötzlich alles: 48.

48 mal haben sich im vergangenen Jahr in Berliner Druckräumen Drogenabhängige eine lebensbedrohliche Überdosis gesetzt. Keiner von ihnen ist gestorben, denn in Druckräumen kann bei Notfällen sofort geholfen werden. Mit anderen Worten: Drogenhilfe rettet Leben.

Es ist die Ärztin Kerstin Dettmer vom Drogenhilfeprojekt Fixpunkt, die diese Zahl ins Spiel bringt. Sie nennt die Zahl kurz vor dem Finale der Feier zum 11. bundesweiten Gedenktag für verstorbene Drogenabhängige am Dienstagmittag. Kurz bevor 152 rote Grablichter angezündet werden für 152 Berliner Drogentote, denen im Jahr 2008 nicht mehr geholfen werden konnte. 152, das sind etwas weniger als im Jahr zuvor, aber bundesweit ist die Zahl der Drogentoten gestiegen. 1449 waren es insgesamt.

Gedenken an die Verstorbenen, ein Zeichen setzen für die Lebenden

Dettmer erwähnt die Zahl 48 nicht ohne Grund. Sie fürchtet, dass ihr Projekt in diesem Jahr nicht so vielen Leuten helfen kann, denn Fixpunkt hat im Juni in Kreuzberg seinen Druckraum schließen müssen. Dem Kontaktladen SKA des Projekts war der Mietvertrag gekündigt worden. 19 von den erwähnten 48 Menschen haben sich dort ihre Überdosis gesetzt. Bis zu 35 Leute haben im SKA täglich den Drogenkonsumraum genutzt, bis zu 130 Leute besuchten das Café der Einrichtung.

Wo werden sich die Süchtigen in Zukunft ihr Heroin spritzen? Und wie wird es ihnen dabei ergehen? Die Schließung des SKA und die schwierige Situation der Drogenhilfe in Kreuzberg sind das dominante Thema bei der Gedenkveranstaltung.

Gut 100 Menschen sind in den Oranienpark gekommen, die Miniaturausgabe eines Stadtparks am Oranienplatz. Es sind überwiegend Drogengebraucher, Angehörige sowie Aids- und Drogenhilfe-Mitarbeiter, die hier der Verstorbenen gedenken – mit Reden, Kerzen und Musik. Am Ende werden Luftballons in den Himmel steigen. Die Menschen sind gekommen, um ein weit sichtbares Zeichen zu setzen, auch für diejenigen Drogenabhängigen, die noch leben. Doch nur wenige Passanten halten an und fragen, worum es hier geht.

Es gehe darum, die Einzelschicksale hinter den Zahlen sichtbar zu machen, erklärt Ingo Michels, Leiter der Geschäftsstelle der Bundesdrogenbeauftragten, in seiner Rede. Dann verweist er zunächst auf die gute Nachricht des Tages: Gestern ist das neue Gesetz zur Vergabe von synthetischem Heroin auf Rezept im Bundesgesetzblatt veröffentlicht worden, und damit ist es ab heute endlich in Kraft. Ein schönes Signal zum Gedenktag. Es werde aber noch Monate dauern, bis Diamorphin – so die offizielle Bezeichnung – wirklich verschrieben werden kann, meinen die Mitarbeiter von Fixpunkt. Erstmal müssten jetzt geeignete Strukturen zur Vergabe geschaffen werden.

Ein schönes Signal: Gesetz zu Heroin auf Rezept ab heute in Kraft

Wie mühsam es sein kann, Strukturen aufzubauen und zu verteidigen, das haben sie in den vergangenen Monaten immer wieder erfahren müssen. Hinter ihnen und dem Bezirk liegt eine beschwerliche Suche nach neuen Räumen für ihren Kontaktladen. Keiner wollte das Projekt haben. Ganz im Gegenteil, in Kreuzberg macht eine Bürgerinitiative mobil gegen die Drogenszene am Kottbusser Tor – und gegen die Hilfsangebote gleich mit. Am vergangenen Donnerstag haben Anwohner sogar eine Sitzblockade gegen die Präventionsbusse von Fixpunkt in Stellung gebracht, als man zum Tag der offenen Tür eingeladen hatte.

Wo auch immer Fixpunkt auftaucht: Die Anwohner fürchten, dass die Drogenhilfe dazu beitragen könnte, die Szene vor ihre Haustür zu verlagern.

„Die Suchthilfe zieht die Süchtigen nicht an“, hält nun der Bezirksstadtrat für Gesundheit, Knut Mildner-Spindler (Linke) bei der Gedenkveranstaltung dagegen, „sondern die Suchthilfe kommt dahin, wo sie gebraucht wird. Die Probleme sind keine fremdgemachten, sondern sie kommen mitten aus dem Bezirk. Die Suchthilfe ist eine Hilfe für die Nachbarschaft!“

Dass diese Botschaft bei der Nachbarschaft ankommt, ist unwahrscheinlich. Die Wortführer der Bürgerbewegung sind jedenfalls nicht in den Oranienpark gekommen.

Zum Glück waren sie auch morgens nicht vor Ort. Die befürchteten Proteste und Blockaden sind ausgeblieben, als Fixpunkt ein paar Ecken weiter, am Moritzplatz, zum ersten Mal seinen mobilen Druckraum geparkt hat. In einem weißen Kleinbus können sich die Fixer nun unter hygienischen Bedingungen ihren Schuss setzen, daneben lädt ein Wohnmobil mit roten Kunstledersitzecken zum Beratungsgespräch ein. Auch frische Spritzen gibt es und was man sonst noch so braucht zum Drogenkonsum.

„Wir hoffen, dass wir den Kontakt zur Szene mit dem mobilen Druckraum aufrechterhalten können.“

Lange genug hat es gedauert, bis die Genehmigung vom Ordnungsamt für diese Notlösung vorlag, aber jetzt kann es endlich losgehen. Von 9 bis 12 Uhr stehen die Busse hier ab sofort, vier Tage die Woche. Das ist eigentlich zu früh am Tag und sowieso viel zu kurz, aber die Kapazitäten von Fixpunkt sind begrenzt.

„Wir hoffen, dass wir hier so den Kontakt zur Szene aufrecht erhalten können“, sagt Kerstin Dettmer, „sonst müssen wir den am neuen Ort erst wieder mühsam aufbauen.“

Der erste Einsatz der Busse verläuft mehr als ruhig. Die Drogenkonsumenten wissen noch nichts von von dem neuen Angebot, der verspätete Start wegen der fehlenden Genehmigung hat sie zusätzlich verunsichert.

Kurz nach neun holt sich ein Mann eine neue Spritze ab, dann sitzen die Mitarbeiter – drei Sozialarbeiter und zwei Krankenpflegekräfte – erstmal auf Klappstühlen in der Sonne. Über ihnen rotieren in einem Werbedisplay Plakate, eins bewirbt einen Flatscreen für 888 Euro, das andere einen Mobilfunkanbieter.

„Streetwork?“, fragt schließlich einer, und eine Kollegin nickt. Die beiden ziehen los zum Kottbusser Tor, um Handzettel zu verteilen. Es wird ein paar Wochen dauern, bis sich das neue Angebot in der Szene rumgesprochen hat, schätzen sie.

Um viertel nach 11 kommt er dann doch noch, der erste Kunde. Ein alter Bekannter, er lächelt den Sozialarbeitern schon von weitem entgegen und begrüßt alle mit Handschlag, bevor er für eine Dreiviertelstunde im Bus verschwindet.

Wie viele Kerzen werden im nächsten Jahr beim Gedenken angezündet?

Bis in den Herbst oder Winter hinein wird der mobile Druckraum hier voraussichtlich stehen. Dann wird Fixpunkt, wenn alles gutgeht, den neuen Kontaktladen eröffnen. Die Räume dafür scheinen nun endlich gefunden zu sein, müssen aber noch aufwändig ausgebaut werden.

Wo der neue Laden eröffnet wird, ist noch streng geheim. Zu groß ist die Gefahr, dass wieder Aufruhr entsteht, bevor alles in trockenen Tüchern ist. Irgendwann aber wird die Öffentlichkeit davon erfahren. Vielleicht geht dann das ganze Drama von vorne los. Vielleicht aber kann Fixpunkt auch endlich wieder zum Normalbetrieb übergehen.

Längere Öffnungszeiten wären dann der nächste dringende Wunsch des Projekts, sagt Kerstin Dettmer auf der Gedenkveranstaltung im Oranienpark mit Blick auf den Bezirksstadtrat: „Vier Stunden täglich wie bisher sind nicht angemessen für so eine Einrichtung.“

Im nächsten Jahr werden sich alle wieder auf dem Oranienplatz versammeln, um der verstorbenen Drogenabhängigen zu gedenken. Wie viele Kerzen sie anzünden müssen, hängt auch davon ab, wie es in Kreuzberg weiter geht.

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