Von sexueller Erregung und vernünftiger Berechnung

Von Gastbeitrag
 

Volkmar Sigusch
Volkmar Sigusch (Foto: Frank Röth/FAZ)

Sexualforschung hat für den Arzt und Soziologen Volkmar Sigusch immer auch eine politische Dimension. Sein neues Buch „Auf der Suche nach der sexuellen Freiheit“, eine Sammlung von Interviews sowie Zeitschriften- und Zeitungsbeiträgen, schlägt den Bogen von der Missbrauchsdebatte der jüngsten Zeit über die Emanzipation von Homosexuellen bis hin zur Geschichte von HIV und Aids. Mit dem Autor sprach Axel Schock

Professor Sigusch, zu keiner Zeit war Sex so präsent, so vielfältig und leicht erlebbar wie heute. Erleben die Menschen ihre Sexualität nun glücklicher und erfüllter?

Sigusch: Ich fürchte, viele auch heute noch nicht. Denn nach allem, was wir beobachten und wissen, ist das sexuelle Elend nach wie vor gewaltig: Einsamkeit, Lustlosigkeit, Sexismus, Karnickelsex und so weiter. Besser geht es am ehesten denjenigen, die früher gar nicht durften, wie Jugendliche, oder gar nicht sollten, wie Alte – vor allem aber denen, die verachtet und verfolgt worden sind.

Sex im Sinne von Pornografie ist durch das Internet heute für jeden frei zugänglich geworden. Keine sexuelle Spielart, keine Perversion, die sich dort nicht fände. Welche Folgen wird dies für Jugendliche haben, die mit Plattformen wie Youporn oder dezidierten Sexkontaktbörsen aufwachsen?

Sigusch: Natürlich wollen Jugendliche die Schweinereien sehen und geben dann mit ihrem Wissen auch gerne an. Sie schauen aber sehr schnell wieder weg, weil es ihnen doch nicht geheuer und oft einfach zu blöd und fremd ist. Also, die beschworene Verwahrlosung Jugendlicher durchs Internet kommt unseres Wissens nur in entgleisten Familien vor, in denen Alkoholsucht und soziales Elend herrscht.

Das sexuelle Elend ist nach wie vor gewaltig

Im Vorwort Ihres jüngsten Buches erklären Sie eindrücklich, zu welchen gesellschaftspolitischen Fragen die Sexualwissenschaft helfen könnte, Antworten zu finden, etwa in der Debatte über den richtigen Umgang mit Pädosexuellen und Sexualverbrechern. Das Aus des von Ihnen geleiteten Frankfurter Instituts für Sexualwissenschaft 2006 wurde vor allem finanziell begründet. Fehlt der Sexualwissenschaft Ihrer Ansicht heute in einer neokonservativen Zeit der Rückhalt auf politischer Ebene?

Sigusch: Ja, das trifft zu. In Hessen, wo unser Institut einst gegründet wurde, herrschen seit Jahren die Christlichen und die leider gar nicht mehr Freiliberalen. Berufen hatte mich seinerzeit der sozialdemokratische Kultusminister Ludwig von Friedeburg, der danach das berühmte Horkheimer-Adorno-Institut für Sozialforschung geleitet hat. Ein solcher ebenso kritischer wie kluger Mann ist mir in der hessischen Kulturpolitik später nicht mehr begegnet. Als Partei haben sich übrigens nur die Grünen für den Erhalt des Instituts stark gemacht. Die SPD schwieg.

Sie beschreiben die Lesben- und Schwulenbewegung als Lehrstück in Sachen Emanzipation. Die vollständige Anpassung und Integration sehen viele Homosexuellenaktivisten allerdings bereits auch als einen ersten Schritt hin zum Verschwinden einer schwulen Identifikation. In der Masse wird das Besondere nicht mehr erkennbar sein. Teilen Sie diesen Eindruck?

Sigusch: Ich bin da hin- und hergerissen. Einerseits ist es eine emotionale und soziale Entlastung, wenn man/frau einfach homosexuell sein kann. Andererseits geht sicher auch Besonderes verloren durch die Banalisierung und Eingemeindung. Besonderes kann man/frau aber auch ganz unabhängig von sexuellen Vorlieben entfalten.

Sie waren maßgeblich an der Liberalisierung des Anti-Homosexuellen-Paragrafen 175 beteiligt. Worüber sind Sie in der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung in Sachen Homosexualität im letzten Jahrzehnt positiv überrascht, in welchen Punkten enttäuscht worden?

Da steht im Zentrum das Lebenspartnerschaftsgesetz. Erfreulich ist der Gewinn für ansonsten sozial schlecht gestellte Partner und der Schutz für ansonsten aus dem Land gedrängte ausländische Partner. Ärgerlich ist das politische Feilschen um die Distanz zur heterosexuellen Ehe, die ja kulturell nicht mehr die tonangebende Lebensform ist.

Sigusch: Wir haben inzwischen offen Homosexuelle in politischen Führungspositionen und offen schwule und lesbische Prominente. Homosexuelle scheinen in der Mitte der Gesellschaft angekommen und akzeptiert. Für wie stabil halten Sie diese Situation? Könnte die Stimmung der Mehrheitsgesellschaft auch schnell wieder ins Gegenteil kippen?

Bei einer Krise könnte die Emanzipation der Lesben und Schwulen hinweggefegt werden

Sigusch: Ja, das fürchte ich. Bei einer großen Krise, wirtschaftlich oder politisch, brauchte nur ein die Massen faszinierender Rechtsradikaler zu kommen, um die bisher erreichte Emanzipation der Lesben und Schwulen hinwegzufegen, Lynchmorde inklusive. Die Massenreaktion auf Sarrazins rassistisch-nationalistische Behauptungen spricht für mich Bände. Und der nennt sich nach wie vor auch noch Sozialdemokrat.

Für wie verlässlich halten Sie Erhebungen, wonach die Zahl homophober Gewaltakte und die Ressentiments gegenüber Homosexuellen, insbesondere unter Jugendlichen und Einwandererkindern, wachsen?

Sigusch: Ich bin kein Kenner der Erhebungsumstände, fürchte aber, dass das Ausmaß der Homophobie tatsächlich enorm ist.

Die Debatte um sexuellen Missbrauch in jüngster Zeit hat selbst in renommierten Medien zur Vermengung von Homosexualität und Pädosexualität geführt. Das müsste Sie als Sexualwissenschaftler nach Jahrzehnten sexueller Aufklärung doch frustrieren.

Sigusch: Ja, das frustriert mich. Ich habe oft gedacht: „Mein Gott, die haben ja keine Ahnung, was Homosexuelle wollen und machen!“ Auch aus diesem Grund habe ich kanadische Forschungen öffentlich erwähnt, nach denen heterosexuelle Männer körperlich durch Experimente nachweislich auf vorpubertäre kleine Mädchen sexuell reagieren, und zwar mehrheitlich.

Die HIV-Infektionszahlen sind in den vergangenen Jahren, gerade unter Schwulen, wieder angestiegen. Wie ist Ihr Eindruck: Kann das Sexualverhalten von sexuell aktiven Menschen, in diesem Falle schwule Männer, eben doch nicht über lange Zeit hin „erzogen“ werden?

Sigusch: Sexuelle Erregung und vernünftige Kalkulation stehen grundsätzlich im Widerstreit. Zur sexuellen Hingabe gehört, dass man/frau den Verstand, die Fassung, ja das Bewusstsein verliert. Insofern ist nicht zu erwarten, dass alle Kalkulationen und Anstrengungen erfolgreich sein werden.

Sexuelle Erregung und vernünftige Kalkulation stehen grundsätzlich im Widerstreit

Im Zusammenhang mit den Infektionen unter Schwulen taucht in den Medien immer wieder auch das Bild des selbstzerstörerischen Bareback-Schwulen auf. Findet dieses Bild deshalb soviel Verbreitung, weil es bestimmte, vielleicht auch faszinierende Mythen schwulen Sexualverhaltens transportiert, oder glauben Sie an eine wachsende bewusste „Unvernunft“ unter Schwulen?

Sigusch: Nein, an eine bewusste Unvernunft glaube ich nicht. Ich kann mir aber vorstellen, dass man eines Tages die Schnauze voll hat von dem ständigen Abwägen und Verzichten. Verbote haben ja auch die Eigenschaft, Reize zu setzen und zum Übertreten anzuregen.

Was ist Ihrer Ansicht nach schief gelaufen, wenn die Stigmatisierung der HIV- und Aids-Betroffenen bis heute nicht überwunden ist?

Sigusch: Ich denke, hier ballen sich verschiedene Ängste, Vorurteile und Projektionen zusammen. Das jedem Menschen eigene Stück Homosexualität muss abgewehrt werden. Die alte Homophobie wird also wieder aktiviert. Und hinzu tritt die Todesangst vor einer angeblich unbehandelbaren Krankheit, die sicher nach wie vor von vielen als mindestens so verheerend angesehen wird wie Krebs.

 

Prof. Dr. med. Volkmar Sigusch, Jahrgang 1940, war von 1973 bis 2006 Direktor des Instituts für Sexualwissenschaft im Klinikum der Universität Frankfurt/M. Der Arzt und Soziologe gilt als Begründer der deutschen Sexualmedizin und ist weltweit einer der renommiertesten Sexualforscher. Zuletzt veröffentlichte Sigusch die Bücher „Sexuelle Störungen und ihre Behandlung“ (Thieme, 2007), „Geschichte der Sexualwissenschaft“ (Campus, 2008) und zusammen mit Günter Grau „Personenlexikon der Sexualforschung“ (Campus, 2009).

Im März ist sein Buch „Auf der Suche nach der sexuellen Freiheit“ erschienen (Campus 2011, 294 Seiten, 24,90 Euro).

 

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