New Yorker Patientin: Dritte HIV-Heilung nach Stammzelltransplantation?
Die Meldung von der Retroviruskonferenz im Februar 2022 klingt hoffnungsvoll: Möglicherweise gibt es eine dritte Heilung von HIV durch eine Stammzelltransplantation. Die „New Yorker Patientin“ wäre die erste Frau, bei der das Verfahren erfolgreich wäre – und die erste Person, bei der Stammzellen aus Nabelschnurblut erfolgreich zum Einsatz kamen.
Von Armin Schafberger, Medizinreferent der Deutschen Aidshilfe, und Holger Sweers (Redaktion und Hintergründe)
Die „New Yorker Patientin“, eine Frau mittleren Alters, erhielt 2013 eine HIV-Diagnose.
2017 wurde bei ihr eine akute myeloische Leukämie (AML) diagnostiziert, eine Blutkrebs-Form. Noch im selben Jahr erhielt sie als letzte Möglichkeit der Krebstherapie Nabelschnur-Stammblutzellen, die aufgrund einer Mutation (CCR5-delta-32) zusätzlich praktisch immun gegen HIV sind: Der sogenannte CCR5-Rezeptor, den HIV zum Eintritt in menschliche Zellen nutzt, wird nur verkürzt ausgebildet und erscheint nicht an der Zelloberfläche.
Nach der Transplantation von CCR5-delta-32-Stammzellen aus Nabelschnurblut bekam die Patientin auch noch eine Spende von Blutstammzellen einer nahe verwandten Person, ein sogenanntes erwachsenes Transplantat.
Die potenzielle HIV-Heilung der New Yorker Patientin ist kein Durchbruch, aber er macht Hoffnung
Viereinhalb Jahre nach der Stammzell-Transplantation setzte die Frau dann die Medikamente gegen HIV ab, in den 14 Monaten bis zum Februar 2022 konnten keine HI-Viren mehr bei ihr nachgewiesen werden.
Diese 14 Monate sind im Vergleich zu den 13 Jahren Virusfreiheit des berühmten „Berliner Patienten“ Timothy Ray Brown, der als erster von HIV geheilter Mensch gilt, und den fünf Jahren, die der „Londoner Patient“ bis zum Februar 2022 virusfrei blieb, natürlich kurz. Die Autor*innen des Fallberichts sprechen deshalb vorerst eher von einer „Remission“ oder nur ganz vorsichtig von einer möglichen Heilung.
Trotzdem macht der Fall Hoffnung und die Wissenschaft lernt daraus. Erstmals wurden nämlich erfolgreich Stammzellen aus Nabelschnur-Blut verwendet (bei einem ersten Versuch starb der Patient kurz nach der Behandlung im Jahr 2013 an Krebs). Das öffnet ein Stück weit die Tür für eine Transplantation auch für jene HIV-positiven Blutkrebs-Patient*innen, für die sonst keine passenden CCR5-delta-32-Spender*innen gefunden werden könnten.
Wichtig ist auch, dass erstmals bei einer Frau von einer potenziellen Heilung die Rede ist – in den HIV-Heilungsstudien sind Frauen deutlich unterrepräsentiert.
Aufgrund der Risiken der Stammzelltransplantation und der Schwierigkeit, geeignete Spender*innen zu finden, ist dies Verfahren allerdings nicht breit einsetzbar. Van Besien, eine der Autor*innen des Fallbericht, schätzt die Zahl der HIV-positiven Patient*innen, die in den USA vom neuen Verfahren profitieren könnten, auf etwa 50 pro Jahr ein. Zum Vergleich: Allein in den USA leben mehr als eine Million Menschen mit HIV, weltweit waren es 2020 rund 38 Millionen.
Fazit: Die New Yorker Patientin stellt keinen Durchbruch in der HIV-Heilungsforschung dar, aber einen weiteren Meilenstein. Und mit jeder Person, die geheilt wurde, nimmt das Wissen um die Wirkung der Transplantation zu.
Übersicht: Drei Fälle, bei denen die Wissenschaft von einer (möglichen) HIV-Heilung spricht
- Berliner Patient: Timothy Ray Brown wurde 1995 positiv auf HIV getestet. 2006 wurde bei ihm eine akute myeloische Leukämie diagnostiziert. 2007 erhielt er eine Stammzelltransplantation zur Therapie der Leukämie von einem Spender mit Immunität gegen HIV, da der Rezeptor, den HIV zum Eintritt in die Zelle nutzt, bei ihm aufgrund der CCR5-delta-32-Mutation nicht korrekt ausgebildet wird. Nach der Transplantation wurden die HIV-Medikamente sofort abgesetzt, HIV konnte bei Brown nicht mehr nachgewiesen werden. Timothy Ray Brown starb im September 2020 an der wieder auftretenden Leukämie. Er blieb somit bis zu seinem Tod 13 Jahre lang frei von HIV.
- Londoner Patient: Adam Castillejo wurde 2003 positiv auf HIV getestet. 2012 wurde bei ihm ein malignes Lymphom festgestellt, 2016 erhielt er eine Stammzelltransplantation mit einem CCR5-delta-32-Transplantat eines Spenders, der mit dieser genetischen Ausstattung praktisch immun gegen die HIV-Infektion ist. Die Medikamente gegen HIV wurden 2017 abgesetzt. Seitdem ist HIV bei Adam Castillejo nicht mehr nachweisbar – bisher blieb er also fünf Jahre frei von HIV.
- New Yorker Patientin: Von ihr wissen wir nur, dass sie im „mittleren“ Alter ist und 2013 mit HIV und sowie 2017 mit akuter myeloischer Leukämie diagnostiziert wurde. 2017 erhielt sie auch ein Transplantat mit CCR5-delta-32-Stammzellen aus Nabelschnurblut und ein zweites, „erwachsenes“ Transplantat einer nahen Verwandten. Viereinhalb Jahre nach der Stammzell-Transplantation setzte sie die Medikamente gegen HIV ab, bis zum Februar 2022 (14 Monate nach dem Absetzen) waren keine HIV-Viren mehr bei ihr nachweisbar.
Daneben gab es im März 2020 auch einen Bericht über einen „Düsseldorfer Patienten“, bei dem 15 Monate nach Absetzen der HIV-Therapie keine HIV-Vermehrung mehr nachweisbar war.
HIntergrund: Stammzellen und Stammzellentransplantation
Blutbildende Stammzellen des Knochenmarks können sich zu roten und weißen Blutkörperchen sowie Blutplättchen ausdifferenzieren. Zu den weißen Blutkörperchen gehören unter anderem die T-Lymphozyten (die T-Helferzellen, auch CD4-Zellen genannt, sind eine Untergruppe dieser Lymphozyten) und die B-Lymphozyten. Beide Lymphozyten-Typen spielen eine wichtige Rolle für das Immunsystem.
Die potenziell lebensgefährliche HIV-Heilung ist nur Kollateral-Nutzen der Krebsbehandlung
Eine Stammzelltransplantation kommt bei einer Blutkrebserkrankung in Frage, die nicht mehr mit anderen Methoden wie Chemotherapie oder Strahlentherapie geheilt werden kann. In Deutschland werden pro Jahr etwa 3.000 solcher Transplantationen durchgeführt.
Das Verfahren ist allerdings mit großen Belastungen und Risiken für die Empfänger*innen verbunden. Bevor Stammzellen transplantiert werden, muss nämlich das Immunsystem des Empfängers*der Empfängerin entweder komplett ausgeschaltet oder zumindest stark unterdrückt werden, damit sich aus den übertragenen Stammzellen ein neues Immunsystem aufbauen kann. Ein stark unterdrücktes oder gar ausgeschaltetes Immunsystem aber kann natürlich kaum Krankheitserreger bekämpfen, und auch das neue Immunsystem fängt gewissermaßen bei Null wieder an.
Bei Blutkrebs-Patient*innen mit HIV hat man nun versucht, mit der Übertragung von Stammzellen, die dank einer Genveränderung nicht von HIV infiziert werden, nicht nur den Krebs, sondern auch die HIV-Infektion dauerhaft zu heilen. Das war bisher zweimal gelungen: zuerst bei Timothy Ray Brown, dem berühmten „Berliner Patienten“, danach auch beim „Londoner Patienten“ Adam Castillejo.
Stammzellentransplantation Schritt für Schritt
- Stufe 1 – Vorbehandlung: Das eigene Immunsystem wird ausradiert
Erster Schritt vor der eigentlichen Stammzelltransplantation ist eine mehr oder weniger radikale Chemo- und Strahlentherapie, mit der die Blutkrebszellen (die dem Immunsystem entstammen) abgetötet werden. Das „alte“ Immunsystem wird – je nach Intensität dieser sogenannten Induktionstherapie – stark reduziert oder komplett ausgelöscht.
Der Berliner Patient und die New Yorker Patientin erhielten eine intensive Vorbehandlung, bei der das alte Immunsystem praktisch vollständig zerstört wurde. Beim Londoner Patienten wurde eine sanftere Variante eingesetzt.
- Stufe 2 – Stammzell-Transplantation
Wenn das alte Immunsystem durch Chemo- und Strahlentherapie zerstört wurde, ist der Mensch nicht mehr überlebensfähig. Daher wird man in diesem Zustand auf der Intensivstation in einem Zelt von allen Erregern abgeschirmt. Der Körper braucht nun ein neues Immunsystem von einem*einer Spender*in, der*die genetisch möglichst gut passt. Das ist schon schwer genug und solche Spenden sind rar.
Bei HIV-positiven Empfänger*innen sucht man nun zusätzlich nach Spender*innen mit der seltenen CCR5-delta-32-Mutation, die gegen die HIV-Infektion praktisch immun sind. Aufgrund der Mutation wird nämlich der CCR5-Rezeptor, den HIV in den allermeisten Fällen zum Eintritt menschliche Zellen nutzt, nicht korrekt ausgebildet.
Diese genetische Variante (CCR5-delta-32) existiert nur bei etwas weniger als einem Prozent der nordeuropäischen Bevölkerung (bzw. der Menschen mit nordeuropäischem Hintergrund) und ist in anderen Weltregionen noch viel seltener.
Während man beim Berliner und London-Patienten das große Glück hatte, solch einen Spender zu bekommen, war bei der New Yorker Patientin die Wahrscheinlichkeit, eine ihr genetisch nahe stehende Person mit der CCR5-delta-32-Mutation zu finden, deutlich geringer. Diese Mutation lässt sich vor allem bei Menschen mit nordeuropäischem genetischem Hintergrund finden, tritt aber auch bei ihnen im Schnitt nur bei etwa einem Prozent auf.
Die behandelnden Ärzt*innen haben daher etwas Neues ausprobiert und zweistufig transplantiert. Die Patientin erhielt zum einen ein „erwachsenes“ (adultes) Stammzell-Transplantat einer nahen Verwandten und gleichzeitig ein CCR5-delta-32-Stammzell-Transplantat aus einer Nabelschnur-Blutbank. Bei der Auswahl des Spendentransplantats kam den Ärzt*innen zugute, dass Nabelschnurblut aus Blutbanken leicht auf diese Mutation zu screenen ist – die Daten liegen ja schon vor.
Das adulte Verwandten-Transplantat half dabei nur über die erste Zeit – die Zellen haben keine lange Lebensdauer und „wachsen“ im Knochenmark nicht so gut „an“. Dauerhaft wächst dagegen das neue Transplantat aus dem Nabelschnurblut an. Diese Zellen sind unreifer und können sich leichter einpassen.
Dass sie gegen HIV praktisch immun sind, sorgt – so die Theorie – für einen dauerhaften Schutz gegen das Virus.
- Stufe 3: „Graft-versus-Host“-Reaktion
Bei der Transplantation eines Organ wie einer Niere würde das Immunsystem normalerweise das Organ abstoßen, wenn man das nicht verhindert.
In unseren Fällen wird aber kein solides Organ, sondern ein ganzes Immunsystem transplantiert. Nun geht es andersherum: Wenn Spender*in und Empfänger*in genetisch nicht nahe beieinander liegen, richtet sich das neu sich im Knochenmark niedergelassene Immunsystem gegen die Organe des Körpers. Das macht sich vor allem an den sich rasch regenerierenden Zellen bemerkbar, etwa den Zellen in den Schleimhäuten von Mund und Magen-Darm-Trakt oder den Hautzellen. Das Transplantat (englisch: graft) richtet sich gegen den Wirt (englisch: host), man nennt diese Reaktion daher „Graft-versus-Host-Reaktion“ (GvH).
In gewissem Umfang ist die Graft-versus-Host-Reaktion erwünscht: Das neue Immunsystem soll Krebszellen in „entlegenen Ecken und Winkeln des Körpers“, die durch die Vorbehandlung) noch nicht erreicht wurden, „wegputzen“ – und damit auch die letzten HIV-infizierten Immunzellen, so die Hoffnung. Ist die Graft-versus-Host-Reaktion aber zu ausgeprägt, drohen Organschäden und letztendlich sogar der Tod.
Der Berliner Patient hatte eine ausgeprägte GvH-Reaktion, die New Yorker Patientin hingegen nicht. Die Frage ist nun, inwieweit man diese GvH-Reaktion für ein langfristiges Gelingen braucht oder ob vielleicht die Stammzell-Transplantation mit Nabelschnur-Blut eine sanftere und weniger gefährliche Heilung ermöglicht.
- Stufe 4: Absetzen der HIV-Therapie
Beim Berlin-Patienten hat man unmittelbar nach der Transplantation die HIV-Therapie abgesetzt.
Bei den folgenden Patient*innen setzte man die HIV-Medikamente erst ab, nachdem über Monate oder Jahre kein Virus mehr feststellbar war. So wollte man verhindern, dass die Patient*innen in der instabilen Phase nach der Transplantation möglicherweise noch eine akute HIV-Infektion erleiden.
Nach der Stammzelltransplatation und dem Absetzen der HIV-Therapie beginnt das große Warten
Wann der beste Zeitpunkt für das Absetzen ist, weiß man nicht. Wir verfügen nicht über das diagnostische Instrumentarium, um sicherzugehen, dass nicht noch irgendwo im Körper vermehrungsfähiges HIV verborgen in nicht zugänglichen Zellen „schlummert“. Man muss also irgendwann den Entschluss fassen, die HIV-Therapie abzusetzen – und dann hoffen, dass HIV nicht „aufwacht“.
- Stufe 5: Das lange Warten
Die schon erwähnten „schlummernden“ mit HIV-infizierten Zellen tragen das HIV-Erbgut im Zellkern, integriert in die eigene DNA, produzieren aber keine Viren – jedenfalls vorerst nicht. Die Zelle präsentieren dann aber auch keine Virusbruchstücke an der Zelloberfläche und werden vom Immunsystem nicht als problematisch erkannt.
Solche schlummernden Zellen können aber durch einen Impuls von außen oder innen „aufwachen“ und wieder Viren produzieren. Das ist bei einigen anderen Patient*innen so passiert, zum Teil Monate oder wenige Jahre nach Absetzen der Medikamente.
- Stufe 6: Stammzelltransplantationen über die Krebstherapie hinaus?
Bislang dient die lebensgefährliche Stammzelltransplantation dem Überleben bei Krebs. Man wendet das Verfahren nur an, wenn mildere Krebstherapien, zum Beispiel eine alleinige Chemotherapie, nicht mehr ausreichen oder wenn es zu einem Rezidiv kam.
Die Heilung der HIV-Infektion wird also nur als „Kollateral-Nutzen“ angestrebt. Niemals würde man diese Prozedur nur mit dem Ziel anwenden, die HIV-Infektion zu heilen, denn man hat mit der HIV-Therapie ja eine nebenwirkungsarme Therapie, mit der man ein gutes und langes Leben führen kann. Warum sollte man das Leben und die Gesundheit dann durch eine Transplantation gefährden?
Dennoch kann man von den Erfolgen der Stammzell-Transplantation lernen. Die wichtigste Lektion: Seit Timothy Ray Brown, dem „Berliner Patienten“, wissen wir, dass die HIV-Infektion heilbar ist – viele Jahre wurde das von vielen Wissenschaftler*innen für unmöglich gehalten. Und seit dem Londoner und auch der New York Patientin wissen wir, dass die HIV-Heilung kein Einzelfall sein muss.
Nun geht es darum, sanftere Wege zur Heilung zu finden – und weiter dafür zu streiten, dass alle Menschen weltweit Zugang zu gut erreichbaren Angeboten der HIV-Prävention, -Testung und -Behandlung haben.
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