AIDSKONFERENZ WASHINGTON

Das Unmögliche möglich machen

Von Holger Wicht
Könnte HIV in absehbarer Zeit heilbar sein? Mittlerweile gilt nicht mehr als verrückt, wer daran glaubt. Auf der Internationalen AIDS-Konferenz in Washington spielt das Thema Heilung eine große Rolle. Welcher Ansatz könnte zum Erfolg führen? Armin Schafberger über den ersten geheilten Patienten, Timothy Brown, und den Stand der Forschung. 

Der weltweit erste geheilte HIV-Patient: Timothy Ray Brown. Foto: ©Timothy Ray Brown

Es schien unmöglich! Wie sollte es jemals gelingen, HIV wieder aus dem Körper hinauszubefördern?

Das Retrovirus befällt nicht einfach Zellen und vervielfältigt sich darin. Es dringt ins Innerste der Zelle, den Zellkern ein, schneidet den DNA-Strang des Menschen auf und baut seine Erbinformationen in die der menschlichen Zelle ein.

Wenn dann einfach alle infizierten Zellen neue Viren produzieren würden, hätte das Immunsystem in Kombination mit der antiretroviralen Therapie eine Chance. Denn wenn die infizierten Zellen aktiv sind, beträgt ihre Lebensdauer nur wenige Tage. Das Immunsystem kann Virusbestandteile auf der Oberfläche entdecken und die Zelle unschädlich machen. Zugleich verhindert die Therapie die Vermehrung des Virus im Körper. Das würde reichen.

HIV überdauert in schlafenden Zellen – teilweise über Jahrzehnte

Aber so einfach macht es HIV dem Menschen nicht. Ein kleiner Teil der infizierten Zellen bleibt im Stand-by-modus. Das Virusgenom ist eingebaut, aber die Zellen (es sind überwiegend Immunzellen) tun nichts. Man könnte sie auch als Schläfer-Zellen bezeichnen. Sie zeigen an ihrer Oberfläche keine Bestandteile von HIV – andere Immunzellen können somit nicht erkennen, dass die Zelle infiziert ist und „räumen“ sie nicht ab.

In diesem Zustand können die Zellen viele Jahre, sogar Jahrzehnte überdauern. Wir sprechen hier nicht von vielen Zellen – auf eine infizierte Immunzelle kommen Millionen gesunde. Aber sie reichen aus, um die Infektion wieder aufflammen zu lassen, wenn der Patient die Medikamente absetzt. Innerhalb von wenigen Tagen werden dann Abermilliarden neuer Viren produziert und das Immunsystem geschwächt.

Bis zum Jahr 2010 wurde jeder, der über Heilung sprach, bestenfalls für naiv erklärt. Dann wendete ein Patient das Blatt. Denn Timothy Ray Brown, ein in Berlin lebender US-Amerikaner gilt seitdem als geheilt.

Wie kam es zu diesem Wunder? 1995 wurde Timothy Ray Brown HIV-positiv getestet, im Juni 2006 wurde bei ihm zusätzlich Leukämie diagnostiziert. Ein Jahr später schien nur noch eine Knochenmarktransplantation sein Leben retten zu können. Mehr als 60 Spender standen zur Verfügung – eine ungewöhnlich hohe Zahl.

Der Beweis für das Unmögliche: Berliner Ärzte haben einen HIV-Patienten geheilt

Es war der Geistesblitz eines Arztes, der das Blatt wendete. Die Mediziner an der Charité fanden einen Spender, der von beiden Eltern eine bestimmte genetische Eigenschaft vererbt bekommen hatte: Auf seinen Zellen war ein Rezeptor – eine Art Andockstelle – fehlerhaft, den HIV benutzt, um in die menschliche Zelle einzudringen. Solch einen veränderten CCR5-Rezeptor hat in Mitteleuropa nur einer von hundert Menschen. Dass die Zellen dieser Personen mit HIV infiziert werden, ist fast unmöglich.

Nach der Transplantation wurden die HIV-Medikamente von Timothy Ray Brown abgesetzt – trotzdem blieb die HIV-Viruslast im Blut des Patienten unter der Nachweisgrenze. Auch nach einem Leukämie-Rückfall und einer erneuten Transplantation vom gleichen Spender im März 2008 waren keine Viren mehr im Blut auffindbar. Das neue Knochenmark produzierte offenbar tatsächlich Zellen, die gegen HIV immun waren.

Anfangs waren viele HIV-Experten noch skeptisch – denn HIV findet sich nicht nur in den Zellen des Blutes sondern auch in anderen Körperzellen. Doch auch in der Darmschleimhaut, in den Lymphknoten und im Nervengewebe ließ sich kein Virus mehr nachweisen – der Patient gilt daher seit 2010 als von der HIV-Infektion geheilt.

Es geht also! Der Beweis für das Unmögliche liegt vor. Doch der Weg, den Timothy Ray Brown gehen musste, lässt sich nicht auf andere HIV-Patienten übertragen: Er ist lebensgefährlich und nur dann angezeigt, wenn die Erkrankung (eine akute Leukämie) dem Leben in kurzer Zeit ein Ende setzen würde. Das ist mit der HIV-Infektion nicht so: Mittlerweile kann man bei früher Diagnose die Erkrankung sicher behandeln. Die Patienten haben dann eine fast normale Lebenserwartung.

Die Berliner Methode ist nicht auf andere Patienten übertragbar –  aber kann man einen ähnlichen Weg gehen?

Die Knochenmarktransplantation wäre nicht nur lebensgefährlich, sondern auch nebenwirkungsreich, denn vor der Transplantation muss man mittels Chemotherapie und Ganzkörperbestrahlung das Immunsystem des Transplantatempfängers vollständig zerstören. Hinzu kommt noch, dass es sehr schwierig ist, einen passenden Spender zu finden, der dann auch noch die entsprechende genetische Veränderung mitbringt. Doch wenn man diesen Weg nicht gehen kann, dann – so die Hoffnung – vielleicht einen ähnlichen?

Die Forschung verfolgt auf der Suche nach Heilung von HIV mittlerweile mehrere interessante Ansätze:

Die Veränderung der Rezeptoren

Bei Timothy Ray Brown führte der Verlust des Eintrittsrezeptors CCR5 zum Erfolg. Kann solch ein Effekt auch gelingen, ohne dass von einem anderen Spender Immunzellen transplantiert werden? Dann könnte man auf die hoch dosierte Chemotherapie und die Bestrahlung verzichten.

Zurzeit wird an einem Verfahren geforscht, bei dem Zellen des HIV-Patienten entnommen und gentherapeutisch mittels sogenannter Zinkfingernukleasen so verändert werden, dass sie den CCR5-Rezeptor nicht mehr ausbilden. Dann werden sie wieder in den Körper eingebracht und sollen im Knochenmark wieder „anwachsen“. Erste Ergebnisse zeigen, dass nach der Prozedur die Viruslast tatsächlich sinkt – leider noch nicht dauerhaft. Auch ist noch nicht geklärt, inwieweit sich die alten Zelllinien behaupten, die den CCR5-Rezeptor noch tragen. Sie wurden schließlich nicht – wie bei Timothy Ray Brown – eliminiert.

Die Gen-Schere

Es klingt, als hätte eine biedere Hausfrau in einem Werbespot der 60-er Jahre der Wissenschaft einen Tipp gegeben: „Schneid der Erbfaden doch einfach raus, Liebling“. Forscher vom Heinrich-Pette-Institut für experimentelle Virologie in Hamburg gehen diesem Rat nun seit Jahren nach und versuchen, Zellen von HIV zu befreien. Und weil die Haushaltsschere zu groß ist, bringen sie mittels Gentherapie eine sogenannte  Genschere in die menschliche Zelle ein. Ein Enzym „erkennt“ die HIV-Erbgutstränge, schneidet sie aus dem menschlichen Erbgut heraus und klebt die Genstränge der menschlichen Zelle wieder zusammen. Bei Mäusen, denen man ein menschliches Immunsystem transplantiert hatte, hat dieser bereits Ansatz funktioniert. Jetzt muss es noch beim Menschen klappen.

Solche klinischen Forschungen dauern allerdings lange und sind für die ersten Probanden immer ein Risiko, denn wenn am Erbgut geschnippelt wird, sind schwere Nebenwirkungen wie Krebserkrankungen zu befürchten.

Reservoire leeren

Durch die Standard-HIV-Therapie mit drei Medikamenten gelingt es, die Vervielfältigung von HIV in den Zellen zu unterdrücken. Wie könnte man nun zusätzlich die Reservoire leeren, in denen HIV trotz Therapie überdauert? Mehrere Ansätze kommen in Frage:

  1. Früher Therapiebeginn: Schläferzellen vermeiden. Man weiß, dass es umso mehr davon gibt, je länger man nach der Infektion mit dem Therapiestart wartet. Die Reservoire füllen sich also mit jedem Tag ohne Therapie. Könnte es dann sein, dass die Heilung gelingt, wenn man nur früh genug mit der Behandlung anfängt? Die vergleichsweise wenigen Schläferzellen würden dann im Laufe von einigen Jahren aufwachen und vom Immunsystem abgeräumt werden. Wenn dem so wäre, dann könnte man irgendwann mit der Therapie aufhören, vielleicht schon sieben Jahre nach der Infektion. Solche Versuche werden bei Patienten unternommen, die in einer sehr frühen Phase der Infektion diagnostiziert werden, also in den ersten ein bis zwei Monaten.
  2. Therapieintensivierung: Viel hilft viel. Ob dieser Satz auch bezüglich der Heilung passt, muss sich noch zeigen. Statt normalerweise drei Medikamenten werden in Studien bei Menschen, die sofort nach der Infektion mit der Therapie beginnen, für einige Jahre vier oder fünf Medikamente eingesetzt. Damit soll noch besser verhindert werden, dass neue Viren im Körper gebildet werden, denn möglicherweise werden auch bei erfolgreichen Dreifachtherapien weiterhin einige wenige Viren freigesetzt. Derzeit allerdings scheint man in diese Strategie keine allzu große Hoffnung mehr zu setzen.
  3. Schlafende Zellen wecken: Schläferzellen wecken und gleichzeitig durch die Medikamente die Vervielfältigung von HIV verhindern – wenn dies über einige Jahre gelänge, könnte eines Tages HIV aus dem Körper verschwunden sein. Alle Schläfer wären dann erwacht und auf natürliche Weise abgestorben, ohne andere Zellen infizieren zu können. Per Zufall hat man vor Jahren festgestellt, dass ein Antiepileptikum eine aufmunternde Wirkung auf infizierte Immunzellen hat. Mehr Schläferzellen als sonst waren in den Zustand der Virusproduktion übergegangen. Der Effekt war allerdings leider nicht stark genug. Somit wird nun an anderen Substanzen geforscht. Unklar ist dabei noch, wie man feststellt, ob der Tag der Heilung schon gekommen ist. Man müsste dazu mutig die HIV-Medikamente weglassen und hoffen, dass die Viruslast nicht in wenigen Tagen wieder ansteigt. Aber was ist, wenn sie „nur“ ein wenig ansteigt und auf diesem mittleren Maß bleibt?
  4. Das Immunsystem lenken: Die Forschung zur Schutzimpfung gegen HIV hat in den letzten Jahren schwere Rückschläge hinnehmen müssen. Ein wirksamer Schutz gegen die HIV-Infektion wird in der nächsten Zeit nicht erwartet. Aber die gezielte Stimulation des Immunsystems gegen das eigene HIV-Virus könnte bei HIV-Positiven dazu führen, dass sie besser mit dem Virus fertig werden – vielleicht sogar ohne HIV-Medikamente. Man würde dann nicht von einer kompletten Heilung (also einer Entfernung des Virus) sprechen, sondern von einer funktionellen Heilung. Ein Grundproblem dieser Forschung ist, dass man das Immunsystem nicht ungezielt stimulieren will. Dies passiert bei einer HIV-Infektion ohnehin schon und ist Ursache für einige Krankheiten, die bei HIV-Positiven trotz Therapie häufiger vorkommen, zum Beispiel Herzinfarkte.

 

Und was ist, wenn die Heilung kommt? Wird die HIV-Epidemie dann besiegt sein? Für solche Prognosen ist es noch zu früh; alle Ansätze stecken noch in den Kinderschuhen und die Forschung ist chronisch unterfinanziert. Doch die Dimensionen verschieben sich langsam, erstmals gibt es nun vor der Internationalen AIDS-Konferenz eine zusätzliche Konferenz, die sich nur mit Heilung befasst.

Wenn die Heilung kommt, dann möglicherweise mit Risiken und Nebenwirkungen

Wenn, dann wird der Durchbruch wahrscheinlich mithilfe von Gentechnik erfolgen. In diesem Fall wird sich für viele die Frage stellen, ob sie eine neue und möglicherweise riskante Methode anwenden wollen, wenn es doch schon Therapien gibt, mit denen sie höchstwahrscheinlich lange und gut leben können.

Eine andere Hürde werden der Preis und der Zugang sein. Gentherapie wird in den meisten Ländern der Welt nicht auf breiter Basis einsetzbar sein – viel weniger noch als die antiretrovirale Therapie.

Schließlich wird gerade für Menschen mit hohem HIV-Risiko die Frage relevant sein, ob die Methode der Heilung auch vor einer neuen Infektion mit HIV schützt. Bei einem Austausch der CCR5-Rezeptoren wäre das zu erwarten. Bei einem Heilungsansatz, der auf der Leerung der Reservoire beruht oder bei der Genschere wäre eine Wiederansteckung wahrscheinlich möglich.

Doch selbst wenn es eine Heilung gäbe, bei der man mit einer einzigen nebenwirkungsarmen und kostengünstigen Spritze geheilt wäre – hätten wir die HIV-Epidemie dann besiegt?

Sieht man sich die Medizingeschichte an, scheint eine Beseitigung von HIV in der gesamten Bevölkerung unrealistisch. Bei der Syphilis ist ebendies nicht gelungen, obwohl seit 1943, also seit der Einführung von Penicillin, eine wirkungsvolle und billige Therapie zur Verfügung steht.

HIV und Syphilis sind eben keine normalen Infektionskrankheiten. Sie werden sexuell übertragen und sind mit Schuld und Scham besetzt. Damit ist der Zugang zum Medizinsystem nicht gesichert, vor allem für diejenigen in der Gesellschaft nicht, die wegen ihrer sexuellen Orientierung oder Sexarbeit diskriminiert werden.

An der Syphilis sieht man, dass Medizin alleine nicht hilft.


Mehr Informationen:

Im Vorfeld der Internationalen AIDS-Konferenz in Washington findet eine Konferenz zum Thema Heilung statt. Armin Schafberger berichtet darüber in Kürze im DAH-Blog.

Zur Geschichte der Syphilis empfehlen wir den HIVreport 3/2012

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