„Die Frage ist: Wie gut sind wir auf unsere neuen Klienten vorbereitet?“
Zwei Drittel aller HIV-Infizierten arbeiten. Bei vielen Menschen herrscht aber noch das alte Bild von Aids vor und die Überzeugung, dass eine HIV-Infektion Krankheit und Tod, auf jeden Fall aber Arbeitslosigkeit bedeutet. Dieser Widerspruch bestimmt meine tägliche Arbeit: Ich versuche mit meinem Team, ein kompetenter Ansprechpartner für all jene zu werden, die infiziert sind und einer Beschäftigung nachgehen. Und wir bemühen uns, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass HIV und Berufstätigkeit sich nicht mehr ausschließen müssen. Heute muss man die HIV-Infektion als eine chronische Krankheit sehen, die manchmal und vorübergehend, aber eben nicht immer eine Einschränkung der Leistungsfähigkeit bedeutet.
Auch für Menschen mit einer chronischen Darmentzündung beispielsweise kann es schwer sein, ihren Arbeitsalltag zu gestalten, weil sie zeitweise unkontrollierbaren Stuhlgang haben. Außerdem wirft Morbus Crohn, ähnlich wie eine HIV-Infektion, moralische Fragen auf, wie etwa: Darf ich schwanger werden und riskieren, dass mein Kind die Anlage für diese Krankheit erbt? Oder auch: Von wem habe ich die Krankheit bekommen? Wer ist dafür verantwortlich? In Zukunft werden wir uns mehr mit solchen Ähnlichkeiten auseinandersetzen müssen und uns mit anderen Verbänden von chronisch Kranken vernetzen.
Ich habe im Übrigen noch nie erlebt, dass jemand, der wegen HIV den Job verloren hat, sich in das betreffende Unternehmen zurückklagt. Das ginge ohnehin nur bei großen Firmen: Wenn sich in einem Betrieb erst mal Angst und Vorurteile breitgemacht haben, hat man kaum noch Einfluss auf das vergiftete Arbeitsklima. Darum arbeiten wir am liebsten prophylaktisch. Zum Glück werden wir immer öfter von Arbeitnehmern, aber auch von Arbeitgebern um Rat gebeten – kleine und große Firmen, auch weltweit agierende Konzerne.
Die Geschäftsleitung eines großen Möbelhauses fragte zum Beispiel bei uns an, weil ein infizierter Mitarbeiter sich widersprüchlich verhalten hat: Er hatte seinen Chefs untersagt, seine HIV-Infektion zu thematisieren, gleichzeitig aber alle in der Kantine Beschäftigten informiert. Ich sprach dann mit der Geschäftsleitung, und einer meiner Kollegen hat den infizierten Mitarbeiter beraten. Ein Teil der Lösung lag darin, dass die Belegschaft an einem Gesundheitstag quasi „nebenbei“ über HIV, die Ansteckungswege und Schutzmöglichkeiten informiert wurde.
Die Angst vor Ansteckung spielt immer noch eine entscheidende Rolle. Ein Facharbeiter erzählte mir vor kurzem, wie sehr er sich davor fürchte, sein neugeborenes Kind mit HIV zu infizieren, weil er in der Werkshalle mit einem Positiven zusammenarbeite. Ich sagte zu ihm: „Super, dass sie mir das erzählen.“ Denn nur, wenn ich weiß, wovor die Menschen Angst haben, kann ich sie beruhigen und verhindern helfen, dass die Stimmung im Betrieb kippt.
In Zukunft werden wir Konzepte für die „klassischen“ wie für die neuen Klienten brauchen
Eine Empfehlung für oder gegen ein „positives Outing“ am Arbeitsplatz können wir allerdings nach wie vor nicht geben. Die Antwort hängt nicht zuletzt von der Firmenkultur ab, davon, wie im Betrieb bisher mit Krankheit und Schicksalsschlägen von Mitarbeitern umgegangen wurde. Ich finde es auch plausibel, wenn ein Arbeitnehmer sagt: „HIV ist für mich kein großes Thema, und ich sehe gar nicht ein, warum ich ausgerechnet mit meinem Chef darüber sprechen soll.“ Das ist in meinen Augen keine Verdrängung, sondern zeugt von einer selbstbewussten Haltung.
Es ist gar nicht so einfach für Aidshilfen, mit dieser „neuen Art“ Klienten umzugehen. Unter ihnen sind Menschen aller Berufsgruppen, auch Ärztinnen, Ingenieure, Manager. Sie rufen uns eher mit konkreten Fragen an, als dass sie zu uns in die Beratung kommen oder gar übers Wochenende in ein Seminar mit uns fahren. Schon im Erstgespräch kann für sie das Thema Arbeit wichtig sein. Sie fragen sich: Muss ich bei der Einstellung einem HIV-Test zustimmen? Müssen meine Chefinnen überhaupt informiert werden? Berufssoldaten wollen vielleicht wissen: Kann ich als Positiver auch im Ausland arbeiten? Ärzte und Krankenpfleger interessiert: Gibt es Bereiche, in denen ich nicht mehr tätig sein darf?
Ganz andere Sorgen hat die „klassische“ Klientengruppe. Darunter sind die positiven Langzeitarbeitslosen, die auch in Zukunft die Unterstützung der Aidshilfen in Anspruch nehmen werden. Wir in München waren unter den ersten Aidshilfen, die Beschäftigungsmöglichkeiten für sie boten und ihnen halfen, in den ersten Arbeitsmarkt zurückzukehren. Begonnen hat alles mit dem Café Regenbogen, das gegründet wurde, um HIV-Infizierte aus der Einsamkeit zu holen. Heute arbeiten dort infizierte und nichtinfizierte Ein-Euro-Jobber – ebenso wie in unserem Tagungshaus. In beiden Einrichtungen bieten wir auch Ausbildungen an. Unsere Vermittlungsquote in den ersten Arbeitsmarkt kann sich mit 30 Prozent sehen lassen. Im Bundesdurchschnitt liegt die Quote bei etwa elf Prozent. Allerdings gibt es in und um München ohnehin kaum Arbeitslose.
In Zukunft werden wir Konzepte für die klassischen wie für die neuen Klienten brauchen. Gefragt ist nach wie vor der fürsorgende Ansatz. Aber auch eine neue dienstleistungsorientierte Perspektive ist nötig, damit wir für alle Klienten gute Ansprechpartner sein können.
* Christian Kranich war von 2005 bis 2011 bei der Münchner Aids-Hilfe beschäftigt und arbeitet heute als „Manager Patient Relations & Communications HIV“ für ein Pharmaunternehmen.
In der Reihe „Annäherungen“ sind bisher folgende Beiträge erschienen:
Ich war schon immer empfänglich für Unkonventionelles
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