Doch, das geht!
Viele Jahre lang war für Hendrik* der winterliche Besuch bei seinen Freunden in San Francisco mit erheblichem Aufwand und Angst verbunden. Die drei Monatspackungen seiner HIV-Tabletten versteckte er in Socken oder füllte sie in unauffällige Döschen von Multivitaminpräparaten um. Mulmiges Gefühl in der Warteschlange bei der Einreise in die USA. Würde der Zoll die Pillen finden? Würden sie Fragen stellen? Stünde am Ende doch das Einreiseverbot? Und damit der nächste Flieger zurück nach Frankfurt?
Auch das ist wieder möglich: Sexualität ohne Angst genießen
Seit 2008 hat der Stress ein Ende. Seit jenem Jahr erlauben die USA endlich auch Menschen mit HIV, das Land zu betreten. Es war ein wichtiger Schritt, dass dieses bedeutsame Land die diskriminierende Praxis beendete. Auch wenn noch immer 17 Staaten weltweit Einreisebeschränkungen aufrechterhalten, vor allem Staaten des Mittleren Ostens und Russland, so ist Urlaub machen mittlerweile für Menschen mit HIV kein großes Problem mehr. Auch hier kehrt langsam Entspannung ein.
Völlig neue Situation
Nicht nur das Reisen hat sich verändert: Als Hendrik sich Anfang der 90er Jahre mit HIV infizierte, waren viele seiner Freunde schon an der Krankheit gestorben. Bilder im Kopf, Schmerzen, Trauer und Erinnerung, die ihn bis heute nicht verlassen. Die Einführung der Kombinationstherapien vor genau 20 Jahren kam für Hendrik gerade rechtzeitig.
Christian dagegen, heute 25 Jahre alt, kennt HIV/Aids nur noch als chronische aber behandelbare Krankheit. Er hat sich vor allem wegen seiner neuen Liebe entschieden mit der Therapie anzufangen. Einer der Gründe dafür: Sein Neuer ist HIV-negativ. Er möchte ihn beim Sex durch seine Therapie schützen. Lässt sich das Virus im Blut nicht mehr nachweisen, dann ist auch eine Übertragung so gut wie ausgeschlossen – auch wenn man auf Kondome verzichten möchte.
Auch das ist dank der Kombitherapien möglich geworden: Sexualität wieder in vollen Zügen genießen – ohne Angst. (Beim Schutz durch Therapie gilt es freilich einiges zu beachten, zudem schützen die HIV-Therapien natürlich nicht vor anderen sexuell übertragbaren Infektionen.)
Die Aufzählung ließe sich fortsetzen: Dank der HIV-Therapie können Menschen mit HIV eine Karriere im Traumberuf anstreben. Ein Kind zeugen oder bekommen. Oder gleich zwei, so wie Franziska, von der gleich noch die Rede sein wird. Ein normales Leben mit HIV ist längst möglich, wenn, ja wenn die Gesellschaft einen lässt!
Zum Beispiel Kinderkriegen
Es sind nämlich schon lange nicht mehr zuvorderst gesundheitliche Probleme, die Menschen mit HIV zwanzig Jahre nach Einführung der Kombitherapien belasten. „Ich würde mir wünschen, die medizinischen Fortschritte der letzten 20 Jahren würden sich endlich auch gesellschaftlich einmal widerspiegeln“, sagt die Frankfurter Ärztin Annette Haberl, die am Frankfurter Uniklinikum seit vielen Jahren schwerpunktmäßig zum Thema HIV und Schwangerschaft arbeitet.
„Ich wünschte, der medizinische Fortschritte würden sich auch gesellschaftlich widerspiegeln“
„Was heute als ,Schutz durch Therapie‘ oder PrEP diskutiert wird, das haben wir im Grunde alles beim Thema Schwangerschaft erfunden“, sagt Haberl mit einem Augenzwinkern. Ob therapeutisch oder vorbeugend bei HIV-Negativen: Die Medikamente wirken zuverlässig gegen die Weitergabe des Virus.
Schon früh in den 90er Jahren war klar, dass durch die Gabe von antiretroviralen Medikamenten wie der ersten verfügbaren Substanz AZT die HIV-Übertragung von schwangeren Frauen auf ihr Kind unterbunden werden kann. Als vor 20 Jahren die Kombinationstherapien Einzug hielten, dauerte es dennoch ein paar Jahre, bis sie auch Schwangeren in vollem Umfang zur Verfügung standen. Zu groß waren die Bedenken, ob sie mit den anfänglich erheblichen Nebenwirkungen belastet werden dürften.
Heute ist die Kombitherapie in der Schwangerschaft Standard. Die Medikamente sind sehr viel verträglicher geworden. Die Erfolge sind so durchschlagend, dass sich seit 2009 immer mehr HIV-positive Frauen entscheiden, ihr Kind nicht mit einem Kaiserschnitt, sondern durch eine natürliche Geburt zur Welt zu bringen. Seit diesem Jahr ist die vaginale Geburt für Frauen mit HIV in Deutschland die empfohlene Form der Entbindung. Warum auch nicht? „Wo keine Viruslast, da keine Übertragung!“ sagt Haberl.
Oft Probleme durch Unwissenheit
250 Frauen mit HIV bringen pro Jahr in Deutschland Kinder zur Welt. Wie so oft beim Thema HIV, macht dabei vor allem das Unwissen der Umgebung Probleme – hier sogar derer, die es definitiv besser wissen müssten. Viele Kliniken weisen werdende Mütter mit HIV zurück oder bestehen auf unnötigen Vorsichtsmaßnahmen: Kaiserschitt, oft sogar zu einem festgesetzten Termin, bevor die Wehen einsetzen. Zusätzliche Behandlung von Mutter und Kind mit dem Medikament AZT. Oft werden sogar die Körperöffnungen des Kindes mit Salzwasser ausgewaschen.
Franziska wollte ein „normales Geburtserlebnis“ – und bekam es bei Annette Haberl. Nach einem „abschreckenden Vorgespräch“ in einer Klinik in der Nähe ihres Wohnortes entschied sie sich für die 150 Kilometer entfernte Frankfurter Uniklinik.
Zwei Wochen vor dem errechneten Termin bezog sie darum letztes Jahr , schwanger mit Zwillingen, Quartier in einer Frankfurter Jugendherberge. „Ich wollte in der Nähe der Klinik sein. Nicht eine Autobahn mit Eisregen sollte meine Winterkinder begrüßen, sondern ein schöner Kreißsaal mit freundlichen Ärzten.“
Der Plan ging auf. Doch nicht alle schwangeren Frauen mit HIV haben die Möglichkeit, sich mit so viel Aufwand in kompetente Hände zu begeben.
Das Ziel, die Ansteckungsrate von Mutter zu Kind unter ein Prozent zu drücken, hat Dr. Haberl in ihrer Klinik schon erreicht. Problematisch wird es nur, wenn die HIV-Diagnose bei einer Schwangeren zu spät gestellt oder die Therapie zu spät begonnen wird.
Fast normale Lebenserwartung – oder?
Doch auch die wenigen Babys, die heute noch in Deutschland mit dem HI-Virus auf die Welt kommen, haben gute Aussichten, ein ähnliches Alter zu erreichen wie ihre Altersgenossen. Schon 2011 prognostizierte das British Medical Journal für Menschen, die bei einer T4-Helferzellenzahl von über 350 pro Mikroliter Blut mit den Kombitherapien anfingen, eine durchschnittliche Lebenserwartung von 75 Jahren.
Je früher die Infektion erkannt wird, umso höher die Wahrscheinlichkeit mit HIV alt zu werden
Zwar warnen auch immer wieder Mediziner, man wisse noch nicht, wie HIV und die Medikamente sich nach Jahrzehnten auf den Körper auswirken würden. „Ob das ohne jeden Schaden bleibt, ist Spekulation. Es bleibt eine Ungewissheit“, sagt der Präsident der Deutschen AIDS-Gesellschaft, Georg Behrens von der Medizinischen Hochschule Hannover, im Interview mit magazin.hiv.
Klar ist jedoch: Je früher die Infektion erkannt wird, je schneller und besser therapiert wird, umso höher die Wahrscheinlichkeit, mit HIV alt zu werden – und das bei einer hohen Lebensqualität.
In letzter Zeit überschlugen sich die Voraussagen in Sachen Lebenserwartung nahezu. Eine Zahl aus Großbritannien machte in den sozialen Netzwerken die Runde, wonach Menschen mit HIV aufgrund ihrer dreimonatigen Routineuntersuchungen und der guten medizinischen Betreuung statistisch sogar länger leben könnten, als Menschen ohne HIV. Behrens findet solche Aussagen allerdings als unseriös: „Sie bagatellisieren eine chronische und unbehandelt immer noch tödliche Erkrankung.“
Behrens gibt auch zu bedenken, dass Aussagen über die Lebenserwartung immer nur statistisch, nicht aber für den einzelnen Menschen getroffen werden können. „Die Erfolge lassen sich auf eine normale Lebenserwartung hochrechnen, aber am Ende bleibt das eine Wette wie ein Aktienkurs, ein Blick in die Kristallkugel.
Wie es HIV-positiven Menschen mit 70 geht, hängt von der Versorgung ab, von der Frage wie früh sie diagnostiziert und therapiert wurden, wie es sich in den nächsten Jahrzehnten mit Resistenzen verhält, wie ihre Lebensumstände sind, ob sie rauchen oder Drogen nehmen.
Keine Berufsverbote mehr
Bis dahin ist der Himmel die Grenze des Machbaren. Seit 2013 aber nicht mal der: In jenem Jahr fiel das Verbot, ein Passagierflugzeug zu fliegen – das einzige Berufsverbot, dass es für Menschen mit HIV gegeben hatte. Die Frage nach dem HIV-Test ist aber leider in der Luftfahrt, wie auch in einigen anderen Branchen, dem Gesundheitswesen zum Beispiel, weiterhin gang und gäbe. Rechtlich erlaubt ist er nur auf freiwilliger Basis und ein positiver Test darf kein Grund sein, jemanden nicht einzustellen. Zu überprüfen ist das aber im Fall einer Absage kaum, es sei denn, der Arbeitgeber stellt sich so dumm an und sagt es den Betroffenen quasi ins Gesicht.
Was bleibt, ist der Druck auf Menschen mit HIV
Was bleibt, ist der Druck auf Menschen mit HIV, die oft nicht wissen, wie sie mit der Situation umgehen sollen, wenn ein Arbeitgeber einen HIV-Test oder die Angabe zum HIV-Status verlangt oder nach chronischen Erkrankungen fragt.
Ein kluger Hausarzt oder HIV-Schwerpunktarzt wird Betroffenen deshalb in der Regel wahrheitsgemäß bescheinigen, dass sie frei von Erkrankungen sind, die es ihnen unmöglich machen, einen Job aus gesundheitlichen Gründen auszuüben. Oft genügt das schon. Die Deutsche AIDS-Hilfe rät darüber hinaus, Bewerbungsgespräche vorher zu üben, die Beratungsangebote der Aidshilfen in Anspruch zu nehmen und im Zweifelsfall die Antidiskriminierungsstelle der Deutschen AIDS-Hilfe zu informieren und den Klageweg zu beschreiten.
„Das kann man doch mit HIV nicht machen!“
Trotz allem hält sich selbst bei manchen HIV-Positiven bis heute der Aberglaube, sie könnten oder sollten in bestimmten Berufen nicht arbeiten, sei es in der Pflege oder im Umgang mit Kindern. Dabei entscheidet nur der Gesundheitszustand, ob ein Mensch zum Beispiel geeignet ist ein Flugzeug zu fliegen, Passagieren Tomatensaft zu servieren oder alte Menschen zu pflegen. Und der ist bei HIV-Positiven unter Therapie meist nicht schlechter oder besser als bei anderen.
Dank der Kombitherapien ist die Welt für die meisten Menschen mit HIV wieder zu einem Markt der Möglichkeiten geworden. Vorausgesetzt, die Welt erlaubt es ihnen mitzuspielen. Auf den Einwand „Das kann man doch mit HIV nicht machen!“ gibt es eine klare Antwort: „Doch, das geht!“
* Name geändert
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2 Kommentare
Alivenkickn 9. Juli 2016 13:06
„Wie es HIV-positiven Menschen mit 70 geht, hängt von der Versorgung ab, von der Frage wie früh sie diagnostiziert und therapiert wurden, wie es sich in den nächsten Jahrzehnten mit Resistenzen verhält, wie ihre Lebensumstände sind, ob sie rauchen oder Drogen nehmen.“
Mit Verlaub doch das halte ich für ein Gerücht.
HIV + bekannt seit Dez 1985, infiziert 1983/84
3er Kombi seit 1997. Erst Chaos „Crixivan“ Kombi, seitdem Sustiva, dann bis heute Atripla
Seit dem Jahr 2000 nahm ich eine Veränderung in meinen Beinen wahr. Polyneuropathie im rechten Bein – Fuß, Muskelschwund in den Beinen und Armen
Viel in Bewegung, Radfahren, Schwimmen, Städtreisen . .
Keine Drogen seit 1994, keine Ziggis, Ernährung: bewußt
Ab 2010 wurde es beschwerlich.
Stock, Rollator, Rollstuhl . . Seit Feb 2016 24/7 im Bett liegend wie ne Schildkröte auf dem Rücken – seit 5 Wochen Vollzeitpflegeheim –
Im Kopf fit, der Rest wird vom Mantel der Barmherzigkeit bedeckt.
Zusätzliche Medis: Gabapentin, 2 Rehas – 1998 Reha, 2012 Physio . .
Alter: 66
Meine Sichtweise heute: Krankheiten sind ein Teil des Lebens, gehören zum Leben dazu.
Bzgl des HIV Aspektes: Viele Freunde, Bekannte aus meinem Umfeld die lange 10 – 20 Jahre mit dem Virus und ner Kombi leben sind von Polyneuropathie nicht verschont geblieben.
Nur Wenige kommunizieren „offen“ über ihre abwesende Gesundheit. Wir – ich haben gelernt mit einer Krankheit zu leben.
Holger Wicht (Deutsche AIDS-Hilfe) 11. Juli 2016 11:30
@Alivenkickin: Du hast natürlich völlig Recht, Krankheiten sind Teil des Lebens. Trotzdem stimmt das, was im Text steht: Die gesundheitlichen Entwicklung von Menschen mit HIV hängt unter anderem (!) davon ab, wann sie diagnostiziert und behandelt werden. Du schreibst ja selbst, dass du lange Zeit keine Therapie hattest (einfach, weil es noch keine gab), und dann hast du lange Zeit Medikamente genommen, die bei vielen Menschen starke Nebenwirkungen hatten. Mittlerweile sind die Therapien bezüglich Nebenwirkungen noch deutlich besser geworden. Insofern sehe ich zwischen deiner persönlichen Geschichte und der Aussage im Text keinen Widerspruch. Herzliche Grüße und alles Gute! Holger