HIV & DEPRESSION (1)

Depression – die unbekannte Volkskrankheit

Von Philip Eicker
Menschengruppe auf schwarzem Untergrund
(Foto: misterQM/photocase.de)

Noch nie waren so viele Menschen wegen Depressionen in Behandlung wie heute. Das ist ein gutes Zeichen: Endlich traut man sich auch mit psychischen Beschwerden zum Arzt. Davon profitieren gerade auch HIV-Positive, denn sie sind überdurchschnittlich oft von Depressionen betroffen. Wir veröffentlichen hier einige Beiträge zu der neu entdeckten Volkskrankheit.

Die Krankenkassen schlagen Alarm: Deutschland ist zu depressiv! 3,2 Millionen Fehltage meldete die Techniker Krankenkasse Anfang Juni in ihrem Gesundheitsreport 2013 allein aufgrund der Diagnose „depressive Episode“. Die Krankenkasse rechnet vor: In einem 350-Mann-Betrieb waren 2012 im Schnitt fünf Personen wegen einer Depression für zwei Monate krankgeschrieben – ein Produktivitätsverlust von 75.000 Euro. Was bei der Statistik leicht in den Hintergrund gerät: Hinter diesen Zahlen stecken die Leidensgeschichten von 54.000 Versicherten.

Bis in die 90er-Jahre wurden Depressionen meist hinter „Schamdiagnosen“ versteckt

Trotz der Notstandsmeldungen deutet nichts darauf hin, dass sich die Krankheit Depression ausbreitet. Die steigenden Zahlen sind nach Ansicht vieler Experten sogar ein gutes Zeichen. Immer mehr Patienten trauen sich inzwischen, beim Arzt offen über ihre psychischen Beschwerden zu sprechen. Bis in die 90er-Jahre wurden Depressionen meist hinter „Schamdiagnosen“ wie Rückenschmerzen, Reizmagen oder Tinnitus versteckt. „Depressionen haben nicht zugenommen, aber sie werden heute früher erkannt und besser behandelt“, betont der Psychiater Ulrich Hegerl auf Spiegel Online. Das habe bemerkenswert positive Folgen: Die Zahl der Suizide in Deutschland ist drastisch zurückgegangen, von rund 18.000 Fällen in den frühen 80er-Jahren auf 9.600 im Jahr 2011.

Einige Medien zählen Depressionen schon zu den „Volkskrankheiten“ wie Diabetes oder Herzinfarkt. Fakt ist: Bei etwa sechs Prozent der Deutschen wurde in den letzten zwölf Monaten eine Depression diagnostiziert. Das hat gerade erst das Robert-Koch-Institut in seiner „Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS)“ festgestellt.

Gründe für Depressionen bei einer HIV-Infektion gibt es genug

Mit dem Dossier „HIV und Depression“ und seinen sechs Beiträgen will die Deutsche AIDS-Hilfe die seit einigen Jahren laufende Debatte über die „Volkskrankheit Depression“ in Gang halten. Der Fokus liegt dabei auf dem engen Zusammenhang zwischen HIV-Infektion und psychischen Beschwerden. Und der ist offensichtlich: Menschen mit HIV leiden sehr viel häufiger an Depressionen als der Bevölkerungsdurchschnitt. 2009 meldete das Kompetenznetz HIV/Aids bei über 21 Prozent der HIV-Patienten eine Depression oder eine depressive Verstimmung.

Portrait Ulrich Hegerl
Psychiater Ulrich Hegerl (Foto: Alexander Schmidt / punctum)

Gründe dafür gibt es genug: HIV ist nach wie vor ein starkes Stigma. Viele Positive haben große Angst, aufgrund ihrer Infektion auf Ablehnung zu stoßen: bei Freunden, Arbeitskollegen, Familienmitgliedern, sogar bei ihren Lebenspartnern. Dazu kommt, wie bei jeder chronischen Krankheit, die Sorge vor nachlassender Leistungsfähigkeit, vor dem Jobverlust. Als weitere seelische Belastung kommen bei manchen die dauerhaften Nebenwirkungen einer HIV-Therapie hinzu.

„Gerade bei Leuten, die ein Leben lang mit vielen Belastungen zurechtkommen müssen, ist HIV schlicht der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt“, sagt Werner Bock von der Deutschen AIDS-Hilfe (DAH). Gemeinsam mit seinem Kollegen Karl Lemmen veranstaltet er die Seminarreihe „HIV und seelisches Gleichgewicht“. In diesem geschützten Rahmen können viele Positive erstmals offen reden – nicht nur über ihre Depression, sondern auch über ihre HIV-Infektion. Der erste Dossier-Beitrag „Grenzen der Belastbarkeit“ zeigt, warum dieser Austausch ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Besserung ist.

Austausch ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Besserung

Ein großes Problem bei Depressionen ist die Diagnose. Wo endet ein normaler Durchhänger, wie er zum Leben dazugehört? Und wo beginnt eine behandlungsbedürftige Depression, die man ohne medizinische und therapeutische Hilfe nicht mehr los wird? Eine Faustregel des Robert-Koch-Instituts: Hält eine Verstimmung länger als zwei Wochen an, könnte es sich um eine Depression handeln. Feststellen kann das aber nur ein Arzt oder Psychotherapeut. Doch dazu muss man ihn erst einmal um Rat fragen – und gerade das fällt vielen Erkrankten schwer. Zumindest bei der ersten Depression ahnen sie selbst nicht, woher ihre Beschwerden kommen.

Portrait Thilo
IWWIT-Rollenmodell Thilo (Bild: www.iwwit.de)

„Anfangs fällt einem die Depression gar nicht auf“, sagt Thilo. „Man findet ja immer Ausreden, warum man sich gerade nicht gut fühlt: zu viel gearbeitet, zu wenig geschlafen.“ 2001 wurden bei dem 49-jährigen Brandenburger schwere Depressionen festgestellt. Im Beitrag „Von Hühnern und Rosinen“ erzählt er davon, wie er die Krankheit bewältigt hat – und wie er heute seinem ebenfalls depressiven Lebenspartner René beizustehen versucht.

Leichter gesagt als getan: die richtige Therapie zur richtigen Zeit

Ein Patentrezept bei der Behandlung von Depressionen gibt es nicht. Die Neurologin Gabriele Arendt empfiehlt „die richtige Therapie zur richtigen Zeit“. Doch das ist bei Depressionen oft leichter gesagt als getan. Auf einen Termin beim Psychotherapeuten müssen Patienten oft monatelang warten. „Diese lange Wartezeit versuchen Allgemeinmediziner und Internisten verständlicherweise zu überbrücken“, sagt Arendt. „Und dann wird schnell zum Medikament gegriffen.“ Ideal sei jedoch eine individuelle Kombination aus medikamentöser und psychotherapeutischer Behandlung. In einem ausführlichen Interview mit Gabriele Arendt berichtet die Leiterin der Neurologischen HIV-Ambulanz in Düsseldorf über die vielfältigen Therapiemöglichkeiten bei Depression.

Titelseite des Magazins Stern zum Thema Depression
Stern-Cover zum Thema Depression (Heft 45/2010)

Patentrezepte gibt es im Umgang mit einer Depression nicht. Im Gegenteil: Gut gemeinte Tipps und Tricks verschlimmern oft die negativen Gefühle. Sie verstärken beim Betroffenen den ohnehin vorhandenen Eindruck, nicht leistungsfähig und wertlos zu sein. Die in diesem Dossier vorgestellten „Zehn Anregungen“ im Umgang mit einer Depression sind also keineswegs als Hausmittel zu verstehen. Aber sie können im Falle eines depressiven Schubes Ideen liefern, wo man ansetzen könnte.

Patentrezepte gibt es im Umgang mit einer Depression nicht

Egal welche Behandlungsmethode man wählt: Der Umgang mit Depression erfordert viel Geduld. Doch die ist in unserer auf Effizienz getrimmten Gesellschaft nur selten vorhanden. In seinem Essay „HIV und Depression? Alles im Griff!“ kritisiert Rainer Hörmann die verbreitete Erwartung, dass HIV-Positive ihre Krankheit problemlos „managen“.

Vielleicht haben die vielen Erfolgsmeldungen zur HIV-Therapie und Nichtinfektiosität dazu geführt, dass manchmal die alltäglichen Probleme im Umgang mit dieser chronischen Krankheit aus dem Blick geraten. Zum Beispiel die enorme Herausforderung, lebenslang Medikamente einzunehmen. Oft äußert sich eine Depression bei HIV-Positiven darin, dass sie ihre HIV-Therapie abbrechen. Sie sehen schlicht keinen Sinn mehr darin, täglich zu einer festen Uhrzeit eine Tablette oder sogar mehrere einzunehmen. Wenn alles nur noch schwarz und schwer scheint – warum dann noch so viel Mühe aufwenden, um weiterzuleben?

Auch bei Depressionen hat ein Prozess der Entstigmatisierung begonnen

Das strenge Therapie-Regime, das HIV-Patienten täglich an den lebensgefährlichen Virus erinnert, ist eine starke psychische Belastung. Der eine steckt sie ohne weiteres weg. Beim anderen summiert sie sich mit weiteren Belastungen zu einer Depression. Und HIV ist ja bei Weitem nicht die einzige Last, die zu schultern ist. Das zeigt die Pilotstudie zur „Seelischen Gesundheit bei schwulen und bisexuellen Männern“, die mit Unterstützung der Deutschen AIDS-Hilfe entstanden ist. Sie weist nach, dass Depressionen und Angstzustände bei schwulen und bisexuellen Männern fast doppelt so häufig vorkommen wie bei heterosexuellen. Ursachen sind vielfältige Formen von Diskriminierung. Im Beitrag „Diskriminierung schürt Depressionen“ zeigt DAH-Referent Dirk Sander, woher diese Anfälligkeit kommt – und wie eng seelische Gesundheit und erfolgreiche HIV-Prävention zusammenhängen.

Mit dem Dossier „HIV und Depression“ will die Deutsche AIDS-Hilfe die Diskussion über die „Volkskrankheit Depression“ in Gang halten. Gleichzeitig soll die Vielfalt der Beiträge darauf hinweisen, dass es im Umgang mit dieser psychischen Erkrankung keine Patentrezepte und schnelle Lösungen gibt. Wohl aber einen positiven Trend: Wie bei HIV hat auch bei Depressionen ein Prozess der Entstigmatisierung begonnen. Die Krankheit wird nüchterner betrachtet – und das ist gut. Denn Depressionen sind weder „Modediagnose“ noch ein harmloser Durchhänger, den man alleine durchstehen kann. Die sachliche Auseinandersetzung mit Ursachen und Behandlungswegen hat gerade erst begonnen.

Philip Eicker

Weitere Informationen zum Thema „HIV und Depression“

Eine kurze Einführung zum Thema bietet die DAH-Broschüre „Depression?“.

Ausführlichere Informationen liefert die von der Aidshilfe Köln herausgegebene MED-INFO, Ausgabe 46, „HIV und Depressionen“.

Aktuelle Informationen zum Thema Depression präsentiert der gemeinnützige Verein „Deutsches Bündnis gegen Depression“. In ihm sind Fachleute, Betroffene und Angehörige gleichermaßen vertreten.

Die Deutsche Depressionsliga ist die größte Selbsthilfe-Organisation für Erkrankte und Angehörige.

 Am 1. September 2013 findet in Leipzig der 2. Deutsche Patientenkongress Depression für Betroffene und Angehörige statt. Die Veranstaltung ist für alle Interessierten offen.

 

Das Dossier HIV & Depression im Überblick

Teil 1: Depression – die unbekannte Volkskrankheit (13.06.13)
Teil 2: Grenzen der Belastbarkeit (13.06.13)
Teil 3: „Von Hühnern und Rosinen“ – Paar-Reportage (13.06.13)
Teil 4: Was hilft bei Depression? Zehn Anregungen (14.06.13)
Teil 5: Pillen oder Psychologen? Was hilft besser gegen Depression? (14.06.13)
Teil 6: Keinen Nerv für die Gesundheit: Diskriminierung schürt Depression (15.06.13)
Teil 7: HIV und Depression? Alles im Griff! (15.06.13)

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