20 Jahre HIV-Therapie

„Eine echte Alternative zur Heilung“

Von Dirk Ludigs
HIV Medikamente
Die HIV-Therapie ist in den letzten Jahren immer besser geworden. Georg Behrens, Präsident der Deutschen AIDS-Gesellschaft, über Fortschritte und Herausforderungen in der medizinischen Forschung 

Prof. BehrensHerr Prof. Behrens, in einem Artikel zum 15-jährigen Jubiläum der Kombitherapien aus dem Jahr 2011 stand zu lesen: „Wir haben große Fortschritte gemacht, aber es gibt noch Raum für Verbesserungen“. Wurde dieser Raum in den letzten fünf Jahren genutzt?

Na, ich glaube schon. Die Wirksamkeit der Medikamente ist noch besser geworden, zugleich sind sie heute noch viel besser verträglich. Es kommen nicht mehr unzählige Medikamentenkombinationen zum Einsatz, sondern wir haben einige Top-Kombis, von denen wir wissen, dass sie sehr gut funktionieren. Man beginnt immer früher mit der Therapie, weil der Nutzen gegenüber dem Schaden durch Nebenwirkungen überwiegt.

„50 Jahre mit dem Virus infiziert zu sein ist etwas anderes als 20“

Wissen wir, was es bedeutet, diese Medikamente vielleicht 50 und mehr Jahre einzunehmen?

Ob das ohne jeden Schaden bleibt, ist Spekulation. Es bleibt eine Ungewissheit. Bei einigen Medikamenten wissen wir, dass sie nach 20 Jahren an bestimmten Organen Probleme machen können – nicht bei vielen Menschen, aber doch bei einigen. Und 50 Jahre mit dem Virus infiziert zu sein ist etwas anderes als 20. Aber unsere Erfahrungen mit der Therapie reichen eben nur zwei Jahrzehnte zurück.

Viele Medikamentenkombinationen gibt es mittlerweile in einer Pille, die man nur einmal täglich einnehmen muss. Gibt es da noch Raum für weitere Verbesserungen?

Je weniger Tabletten und je weniger oft am Tag man sie einnehmen muss, desto besser. Um das zu verstehen, muss man nicht HIV haben. Wir können aber nicht allen Patienten eine Einmal-eine-Tablette-Therapie anbieten.

Woran liegt das?

Einige Patienten haben zum Beispiel resistente Viren, das heißt bestimmte Wirkstoffe greifen bei ihnen nicht mehr. Man muss dann auf andere Kombinationen ausweichen, die oft nicht in einer einzigen täglichen Pille verabreicht werden können. Wir dürfen das nicht zum Problem machen. Solche Therapieformen wird es immer geben.

Und weniger als eine Tablette am Tag? Wird das kommen?

Die tägliche, gewohnheitsmäßige Einnahme passt am besten in unser westliches Leben. Viele Menschen nehmen andere Präparate in ähnlicher Art und Weise. Es wird aber zurzeit erforscht, ob man Medikamente zum Beispiel als Depot-Präparat in den Muskel spritzen kann. Man bräuchte nur noch einmal im Monat oder einmal im Quartal eine Spritze, der Wirkstoff würde dann nach und nach freigegeben. Das wird nach meiner Einschätzung aber noch ein langer Weg.

Es werden doch aber schon Wirkstoffe in dieser Darreichungsform erprobt, zum Beispiel Carbotegravir, ein so genannter Integrase-Hemmer, der verhindert, dass HIV sein Erbgut in den menschlichen Zellkern einbaut.

Ja, und es gibt noch ein, zwei andere Medikamente, bei denen es funktionieren könnte. Aber wir brauchen ja gute Medikamentenkombinationen, die sich auf diesem Wege verabreichen lassen. Vielleicht müssen wir für solche Therapiekonzepte andere Prinzipien aufgeben, uns also zum Beispiel von bestimmten Kombis trennen oder sogar weniger als drei Medikamente verwenden. Einsatzfähige Therapieformen zu entwickeln, wird noch länger dauern, als wir uns das wünschen. Und es wird nicht für alle Patienten eine Option sein.

HIV-Medikamente blockieren die Virusvermehrung im Körper mit verschiedenen Mechanismen. Zuletzt kamen die Integrase-Hemmer dazu. Sind in nächster Zeit weitere neue Arten von Medikamenten zu erwarten?

Auch das wird noch lange dauern. In der Forschung nach neuen Klassen bewegen sich nur sehr wenige Pharmafirmen, der Antrieb ist eher gering. Da heißt es: Wir haben genügend gut wirksame Optionen. In den Industriestaaten gibt es auch nur relativ wenige Resistenzen, die diese Situation gefährden könnten, die Lage ist weitgehend stabil.

Resistenzen entstehen in Ländern mit weniger gut entwickelten Gesundheitssystemen

Resistenzen sind also kein großes Thema mehr?

Leider entwickeln sich nach wie vor Resistenzen, und zwar in Ländern mit weniger gut entwickelten Gesundheitssystemen, zum Beispiel in Afrika. Dort werden die HIV-Medikamente oft nicht optimal eingesetzt. Es ist natürlich gut, dass immer mehr Menschen behandelt werden, aber wir müssen sie auch richtig behandeln! Ansonsten werden wir in eine ähnliche Situation wie bei der Tuberkulose geraten: Das Virus wird unempfindlich gegen die Medikamente und diese Virusvarianten verbreiten sich dann über Ländergrenzen hinweg weiter.

Wie realistisch ist denn dann die Zielsetzung von UNAIDS, Aids bis 2030 zu beenden?

Dieses Ziel ist aus politischem Ehrgeiz entstanden und sinnvoll. Ich bin mir aber nicht sicher, ob man es erreichen kann. Ein Etappenziel für 2020 lautet: 90 Prozent der Menschen mit HIV sollen diagnostiziert sein, also von ihrer Infektion wissen. 90 Prozent von diesen Menschen sollen eine Therapie erhalten. Und bei 90 Prozent von diesen wiederum soll das Virus nicht mehr nachweisbar sein. Das soll Aids-Erkrankungen verhindern und die Neuinfektionsraten massiv senken – denn die Therapien schützen ja auch vor der Weitergabe des Virus. Das ist ein sehr anspruchsvoller Plan.

„Rund die Hälfte der Menschen mit HIV weltweit weiß nichts von der Infektion!“

Es gibt HIV-Tests, es gibt wirksame Medikamente – wo ist das Problem?

So einfach ist das leider nicht. Es geht ja um eine ganze Kette von Maßnahmen: Erstmal müssen die Menschen zum Test kommen. Oft schreckt die Stigmatisierung von HIV-Positiven sie davon ab. Rund die Hälfte der Menschen mit HIV weltweit weiß nichts von der Infektion! Wir brauchen außerdem die richtigen Medikamentenkombinationen in allen Ländern und eine individuelle Betreuung der Patienten. Nur Pillen zu verteilen, reicht nicht aus. Die Menschen brauchen eine stabile Anbindung an ein Gesundheitssystem, unter anderem, damit sie die Medikamente auch regelmäßig einnehmen. Das klappt oft nicht.

Das heißt auch: Die Zahl der Neuinfektionen lässt sich auf diesem Wege allein nicht senken.

Es ist mit Sicherheit ein Zusammenspiel von Behandlung und Prävention erforderlich. Die HIV-Epidemie ist in jedem Land unterschiedlich und es gibt verschiedene Hürden zu nehmen: politische Blockaden, Stigmatisierung, Ächtung von Menschen und ihren Verhaltensweisen. Diese Barrieren spielen eine noch viel größere Rolle als Medikamenten oder die Frage nach der Viruslast.

Wir reden jetzt viel vom Ende der Erkrankung Aids. Wie aber stehen die Chancen, dass HIV ganz aus der Welt verschwindet? Ist die „molekulare Schere“ aus Deutschland, die kürzlich von sich reden machte, der richtige Weg zur Heilung?

Den einen Weg wird es nicht geben. Es werden im Moment ganz unterschiedliche Strategien verfolgt. Das zeigt auch, dass man noch nicht richtig weiß, wie man dieses Problems Herr werden will. Die molekulare Genschere ist ein sehr innovativer Weg. Sie kann HIV aus dem Erbgut von Zellen wieder herausschneiden. Forscher aus Hamburg und Dresden haben sie über Jahre im Labor optimiert und an Mäusen erprobt. Die Frage lautet jetzt: Wird es auch bei Menschen funktionieren? Und: Welche Risiken bringt so ein gentechnischer Eingriff mit sich?

Es gibt weitere Ansätze. Man versucht zum Beispiel die im Körper ruhenden Viren, die das Hauptproblem darstellen, aus ihren Verstecken zu treiben und unschädlich zu machen. Wird das gelingen?

Ich denke schon. Manche Medikamente erzeugen so eine Wirkung bereits in einem gewissen Maße. Diskutiert wird gerade, ob das ausreichen kann. Wahrscheinlich muss man mehrere Strategien kombinieren. In den nächsten Jahren wird nach meiner Einschätzung noch nichts anwendbar sein. Und selbst wenn eine oder ein mehrere Ansätze funktionieren, dann vorerst nur bei ganz wenigen ausgewählten Patienten.

Eine Therapie ist eine echte Alternative zur Heilung

Immerhin.

Das große Problem ist folgendes: Die Patienten, die für solche Heilungsansätze in Frage kommen, können mit einer einfachen Therapie ohne große Nebenwirkungen eine normale Lebenserwartung haben – ohne Risiken. Eine echte Alternative zur Heilung.

Immer wieder mal wird vermutet, dass Pharmakonzerne gar kein so großes Interesse an einer Lösung des Problems haben. Die verdienen ja sehr gut an den HIV-Medikamenten.

Also, wenn ich eine einfache Therapie hätte, die Menschen von HIV heilt – ich glaube, ich könnte sie sehr gut in der pharmazeutischen Industrie verkaufen. (lacht)

HIV wird mit uns sein für die nächsten Jahrtausende.

Da winkt ja bestimmt auch der Nobelpreis.

Das wird nur Vorteile haben! Im Ernst: Grundsätzlich möchte ich vor der Idee warnen, man könne sich aus einer Epidemie so leicht heraustherapieren. Das kann lokal gelingen, aber nicht global. HIV wird mit uns sein für die nächsten Jahrtausende.

Was bedeutet das für alle, die sich gegen HIV engagieren?

Wir müssen Resistenzentwicklungen global verhindern und die Medikamente weiterhin clever zum Einsatz bringen. Die Erkrankung hat nur an Dramatik verloren, weil wir die Therapie haben. Sie ist der Kerker, in dem wir das Monster gefangen halten. Und sobald wir uns nicht die Mühe geben, diese Therapie zu pflegen, zu kontrollieren und zu verbessern, kommt das Monster auch wieder.

Herr Professor Behrens, ich danke für das Gespräch.

Georg Behrens ist Professor an der Medizinischen Hochschule Hannover und Präsident der Deutschen AIDS-Gesellschaft.

 

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