Forschung

EMIS-2017: Schwuler Sex und schwule Gesundheit in Zahlen

Von Holger Sweers
Freunde
© DAH | Bild: Renata Chueire
Die Ergebnisse der europaweiten Studie EMIS 2017 zum Sexualverhalten und zur Gesundheit von rund 128.000 Männern, die Sex mit Männern haben, sind nun veröffentlicht.

Wie leben und lieben schwule und bisexuelle Männer in Europa? Wie steht es um ihre Lust, wie um ihren Frust?

Eine Unmenge von Daten dazu liefert der Bericht zu EMIS-2017, der vom Europäischen Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) veröffentlicht wurde.

EMIS steht für European Men-Who-Have-Sex-WithMen Internet Survey. An der Online-Befragung nahmen vom 18. Oktober 2017 bis zum 31. Januar 2018 fast 128.000 Männer, die Sex mit Männern haben (MSM), aus 50 Ländern teil. 99 Prozent davon waren cis Männer, ein Prozent trans* Männer.

EMIS-2017: Mehr als 130.000 Teilnehmer_innen aus 50 Ländern

Auskunft gegeben haben MSM aus allen 28 EU-Ländern sowie Andorra, Liechtenstein, Monaco und San Marino, den drei EFTA-Ländern Island, Norwegen und Schweiz, aus den EU-Beitrittskandidaten Bosnien und Herzegowina, Nordmazedonien, Serbien, Türkei, Albanien, Kosovo und Montenegro, aus Weißrussland, dem Libanon, Israel, Moldawien und der Ukraine sowie Russland. Hinzu kommen 6.059 Männer aus Kanada und 3.507 von den Philippinen, die nicht in den 128.000 Befragten eingerechnet sind).

In Deutschland lebten rund 22.000 der Befragten. 11 Prozent waren nicht in Deutschland geboren, 10 Prozent definierten sich als Angehörige einer ethnischen Minderheit.

Rund 78 Prozent der deutschen Teilnehmer_innen bezeichnen sich als schwul oder homosexuell, die meisten hatten ein Coming-out gegenüber Freund_innen, Familie und Kolleg_innen gehabt (nur 24 Prozent nicht oder nur gegenüber wenigen Menschen), 46 Prozent lebten in einer Partnerschaft.

Der EMIS-2017-Bericht liefert einen Einblick in

  • die psychische und körperliche Gesundheit der Befragten,
  • Verhaltensweisen, die Gesundheit und Wohlbefinden beeinflussen,
  • Bedarfe in Sachen sexueller, körperlicher und seelischer Gesundheit sowie
  • den Zugang zu Maßnahmen wie Sexualaufklärung oder Tests auf HIV und andere Geschlechtskrankheiten.

    In Deutschland nahmen rund 22.000 MSM an der Befragung teil (© Bild: ESTICOM)

Psychische und körperliche Gesundheit und Wohlbefinden

18 Prozent aller Befragten berichteten von mindestens mittelstarken nervösen oder depressiven Zuständen in den zwei Wochen vor der Befragung, 8 Prozent davon von schweren. Besonders verbreitet waren schwere Störungen des Wohlbefindens bei Menschen, die im Jahr vor der Befragung eine HIV-Diagnose bekommen hatten (14 %).

Jede_r fünfte MSM hat in den zwei Wochen vor der Befragung an Suizid oder Selbstschädigung gedacht

Besonders hohe Werte bei schweren nervösen oder depressiven Zuständen gab es zum Beispiel bei Männern aus Nordmazedonien (16 %), Albanien, dem Kosovo und Montenegro (15 %), Russland (14 %) sowie der Ukraine und dem Libanon (je etwa 13 %). Der Wert bei den Männern aus Deutschland lag mit 5 % am unteren Rand der Spanne.

21 Prozent hatten in den zwei Wochen vor der Befragung an Suizid oder selbstschädigendes Verhalten gedacht (Deutschland: fast 16 %). Höher waren die Werte auch hier bei Menschen mit HIV: 33 Prozent bei jenen, die ihre Diagnose erst im Jahr vor der Befragung bekommen hatten, 24 Prozent bei den schon länger Diagnostizierten.

Als sexuell unzufrieden stuften sich insgesamt rund 23 Prozent ein (dies ist auch der Wert der deutschen Teilnehmer*innen). Deutlich zufriedener mit ihrem Sexualleben zeigten sich die Befragten aus den Niederlanden (nur 11 % Unzufriedene), Island (15 %) und Spanien (16 %), deutlich unzufriedener die Teilnehmer_innen aus Nordmazedonien (37 % Unzufriedene), dem Libanon sowie aus Albanien, dem Kosovo und Montenegro (34 %) sowie Ungarn und Schweden (31 bzw. 30 %).

Unter den Befragten war der Anteil derjenigen mit Einschränkungen des psychischen Wohlbefindens hoch (© DAH | Bild: Renata Chueire)

Sexuell übertragbare Infektionen einschließlich HIV: Diagnosen und Testverhalten

4 Prozent aller Befragten berichteten von einer Syphilis-Diagnose in den 12 Monaten vor der Umfrage, 5 Prozent von einer Gonorrhö-Diagnose (Tripper) und 5 Prozent von einer Chlamydien-Diagnose (einschließlich LGV).

Eine HIV-Diagnose im Jahr vor der Befragung hatten 1 Prozent der Teilnehmer_innen bekommen, insgesamt wussten gut 10 Prozent, dass sie mit HIV leben – so auch der Anteil bei den Männern aus Deutschland.

Bei Männern mit HIV ist der Anteil der auch mit anderen Geschlechtskrankheiten Diagnostizierten höher

Bei Männern mit HIV war der Anteil jener, bei denen im Jahr vor der Befragung auch eine andere Geschlechtskrankheit diagnostiziert worden war, deutlich höher als bei nicht mit HIV Diagnostizierten: bei Syphilis lag er bei 15 Prozent (gegenüber 3 %), bei Gonorrhö bei 11 Prozent (5 %) und bei Chlamydien einschließlich HIV bei 10 Prozent (4 %).

Etwa 7 Prozent der Befragten hatten eine Hepatitis A durchgemacht, 6 Prozent eine Hepatitis B. Hier zeigte sich auch eine Präventionslücke: 41 Prozent der Teilnehmer_innen wussten nicht, dass Männern, die Sex mit Männern haben, eine Impfung gegen Hepatitis A und B empfohlen wird.

2 Prozent der Befragten hatten schon einmal eine Hepatitis-C-Diagnose bekommen (bei den Befragten mit bekannter HIV-Infektion waren es 10 %), 3 Prozent davon drei oder mehr. Trotz guter Behandlungsmöglichkeiten gaben 14 Prozent der mit Hepatitis C Diagnostizierten an, nach wie vor chronisch infiziert zu sein.

Die Testbereitschaft war hoch. Mehr als jede_r zweite Befragte (56 %) hatte im Jahr vor EMIS-2017 ein HIV-Testergebnis erhalten, fast die Hälfte (46 %) hatten sich im gleichen Zeitraum auf andere sexuell übertragbare Infektionen testen lassen.

Bei Männern mit HIV lag der Anteil der im Jahr vor der Befragung mit Syphilis Diagnostizierten mit 15% deutlich höher (© DAH | Bild: Renata Chueire)

Sexualverhalten und Schutzmaßnahmen

Viele Erkenntnisse liefert die EMIS-Studie auch zum Sexualverhalten. So hatten 85 Prozent der Befragten in den zwölf Monaten vor der Umfrage mindestens einmal Analverkehr mit einem Mann und 61 Prozent mindestens einmal Analverkehr ohne Kondom gehabt. Analverkehr ohne Kondom mit einem Partner, dessen HIV-Status sie nicht kannten, hatten dagegen nur rund 24 Prozent aller und 20 % der deutschen Befragten.

Rund ein Viertel der Befragten hatte Sex ohne Kondom, weil ihnen kein Kondom zur Verfügung stand. Ein Drittel wiederum gab an, in den zurückliegenden zwölf Monaten Kondome kostenlos erhalten zu haben, etwa in Saunen, in Bars oder HIV-Präventionseinrichtungen.

Fast die Hälfte aller Befragten (47 %) hatte mindestens einmal im Leben Sex mit einer Frau gehabt, 19 Prozent in den fünf Jahren, 11 Prozent im Jahr vor der Umfrage. 43 Prozent gaben an, beim Sex mit einer Frau niemals Kondome zu benutzen, 31 Prozent benutzen dabei nach eigenen Angaben immer Kondome.

Die HIV-Prophylaxe PrEP und Schutz durch Therapie waren vielen unbekannt

60 % der Männer ohne HIV-Diagnose hatten sich bei ihrem letzten Analverkehr vor der Befragung mit nicht festen Partnern durch ein Kondom oder durch die Prä-Expositions-Prophylaxe (PrEP) vor einer HIV-Infektion geschützt. Obwohl die PrEP Ende 2017 nur in wenigen Ländern im Rahmen des öffentlichen Gesundheitssystems erhältlich war (zum Beispiel in Frankreich, Schweden oder Norwegen) und meistens privat finanziert werden musste, gaben immerhin 3 Prozent der nicht mit HIV diagnostizierten Befragten an, sie zu nutzen, zwei Drittel davon in Form der täglichen PrEP.

Von den deutschen Teilnehmer_innen waren es 2 Prozent, von den britischen fast 9, von den französischen und kanadischen etwa 8 Prozent und von den belgischen fast 7 Prozent. 37 Prozent aller Befragten hingegen hatten zum Zeitpunkt von EMIS-2017 noch nichts von der PrEP gehört, 49 Prozent wussten nicht, was die PrEP ist.

68 Prozent der Befragten ohne HIV-Diagnose, die kondomlosen Sex mit HIV-positiven Partner_innen hatten, wussten, dass deren Viruslast unter der Nachweisgrenze lag. Gleichzeitig war 43 Prozent der Befragten nicht bekannt, dass HIV bei erfolgreicher Therapie (Viruslast stabil unter der Nachweisgrenze) sexuell nicht übertragen werden kann.

39 Prozent hatten noch nie von der HIV-PEP (Post-Expositions-Prophylaxe) gehört, also davon, dass HIV-Medikamente nach einem Kontakt mit HIV eine HIV-Infektion verhindern können. 7 Prozent der Befragten hatten schon einmal versucht, eine PEP zu bekommen, 5 Prozent hatten eine PEP gemacht – einem Drittel derjenigen, die sich schon einmal mit einer PEP vor HIV schützen wollten, war das also nicht gelungen. Von den deutschen nicht HIV-positiven Teilnehmer_innen hatten 3 Prozent schon einmal eine PEP gemacht, von den französischen 12 Prozent.

2017 hatten 37 % aller Befragten noch nichts von der Schutzwirkung der PrEP gehört (© ESTICOM)

Drogen und Sex

Alkohol- und Nikotinkonsum ist auch unter schwulen und bisexuellen Männern weit verbreitet. 37 Prozent der Befragten hatten in den 24 Stunden vor der Umfrage Alkohol konsumiert, 70 Prozent in der Woche vor der Umfrage. Bei Tabak waren es 34 und 37 Prozent.

Bei den illegalisierten Drogen war Cannabis am weitesten verbreitet: 39 Prozent hatten mindestens einmal im Leben Cannabis konsumiert, 13 Prozent im Monat vor der Befragung, fast 5 Prozent in den 24 Stunden zuvor.

7 Prozent gaben an, fast immer oder immer Sex unter Drogeneinfluss zu haben

Fast 19 Prozent hatten mindestens einmal im Leben Kokain konsumiert, 17 Prozent Ecstasy-Pillen, 14 Prozent Amphetamine, 10 Prozent GHB/GBL, 8 Prozent Ketamin, 7 Prozent Crystal Meth und 5 Prozent Mephedron.

Auf die Frage, ob sie im Jahr vor EMIS-2017 Sex unter dem Einfluss von Drogen gehabt hatten, gaben 82 Prozent der Befragten an, dass dies bei weniger als der Hälfte ihrer sexuellen Begegnungen der Fall gewesen sei, und 44 Prozent, dies sei nie der Fall gewesen. Etwa 7 Prozent hingegen gaben an, dies sei fast immer oder immer der Fall gewesen.

Wissenslücken und Präventionsbedarf

14 Prozent der befragten MSM wussten nicht, dass man sich auch beim einführenden Sex mit HIV infizieren kann (als „Aktiver“), 11 Prozent war nicht klar, dass HIV nicht beim Küssen und nicht über Speichel übertragen wird, und 43 Prozent war nicht bekannt, dass HIV bei erfolgreicher Therapie auch sexuell nicht übertragbar ist.

Immerhin neun Prozent aller Befragten wussten nicht, wo sie einen HIV-Test machen können, und hatten sich noch nie testen lassen.

Wissenslücken gab es auch bei den anderen sexuell übertragbaren Infektionen:

28 Prozent aller Befragten wussten nicht, dass die meisten sexuell übertragbaren Erreger sehr viel leichter weitergegeben werden als HIV, und 17 Prozent war nicht bekannt, dass Geschlechtskrankheiten auch symptomlos bleiben können.

Darüber hinaus wussten 17 Prozent der befragten MSM wussten nicht, dass es eine Impfung gegen Hepatitis A und B gibt, und mehr als ein Viertel wussten nicht, wo man eine solche Impfung bekommt.

Weiterhin zum Alltag vieler MSM gehört leider Homosexuellenfeindlichkeit: Im Jahr vor EMIS-2017 waren 27 Prozent aller Befragten mindestens einmal eingeschüchtert worden, weil jemand wusste oder annahm, dass sie Sex mit Männern haben, 21 Prozent hatten Beschimpfungen erlebt und 3 Prozent waren körperlich angegriffen worden. Anti-Diskriminierungs-Arbeit tut also

Fast 60 % der Befragten wussten, dass eine HIV-Therapie auch vor einer HIV-Übertragung schützt (© ESTICOM)

weiterhin not.

Empfehlungen

Die Ergebnisse dieser von Sigma Research (London School of Hygiene and Tropical Medicine) gemeinsam mit nationalen Partnern wie der Deutschen Aidshilfe und dem Robert-Koch-Institut durchgeführten Studie sollen unter anderem dazu dienen, Wissens- und Präventionslücken in den beteiligten Ländern ausfindig zu machen.

Mehr Prävention und mehr Anti-Diskriminierung tun not

So empfiehlt das Autor_innenteam der EMIS-Studie den Verantwortlichen, im Rahmen der nationalen Präventionsprogramme weiterhin umfassende Tests auf HIV und andere sexuell übertragbare Infektionen anzubieten und zu fördern, die gezielt auf die sexuellen Praktiken und Lebensweisen von MSM zugeschnitten sind. Dazu ist auch die Verringerung der Stigmatisierung im Zusammenhang mit homosexuellen Praktiken unerlässlich.

„Aus den Daten der EMIS-2017-Studie stellen sich die Gesundheit und die Krankheitsrisiken schwuler und bisexueller Männer als vielschichtig und komplex dar“, sagt Dr. Dirk Sander, der Schwulenreferent der Deutschen Aidshilfe.

„Abwertungserfahrungen und Bewältigungsverhalten zeigen sich als physische und psychische Krankheitsmuster“, erklärt Sander. „Immerhin 23 Prozent der befragten deutschen Männer, die Sex mit Männern haben, finden sich am unteren Ende einer Skala der sexuellen Zufriedenheit“.

Auch der problematische Substanzkonsum veranlasse dazu, nach dem Einfluss von internalisierten Szenenormen, Identitätskonflikten, Stigmata und Scham auf die Gesundheitsbilanzen bei schwulen und bisexuellen Männern zu fragen und die Präventionsansätze zu erweitern.

(Holger Sweers und Axel Schock)

„EMIS-2017: The European Men-Who-Have-Sex-With-Men Internet Survey“ (PDF in englischer Sprache)

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