Gesundheit in Haft: „Es hakt immer dann, wenn’s teuer wird“
Weil der Gesundheitsetat der Vollzugsanstalten nicht ausreicht, kommt es immer wieder vor, dass man Häftlingen eine HIV-, Hepatitis-C- oder Substitutionsbehandlung vorenthält. Das ist illegal, sagt der Rechtssoziologe Professor Johannes Feest – und erklärt im Gespräch mit Axel Schock, was das eigentliche Problem ist.
Der Kriminalwissenschaftler und Rechtssoziologe Johannes Feest, bis 2004 Professor für Strafverfolgung, Strafvollzug und Strafrecht an der Universität Bremen, kümmert sich auch im Ruhestand um Fragen des Strafvollzugs und der Sicherungsverwahrung, unter anderem bei seiner Tätigkeit im Verein Strafvollzugsarchiv e.V. Auf der 7. Europäischen Konferenz zur Gesundheitsförderung in Haft am 13./14. März in Bonn referierte er zu „Folter, erniedrigende und unmenschliche Behandlung im Vollzug?“
Herr Professor Feest, immer wieder gibt es Klagen, dass Gefangenen mit HIV oder Hepatitis C die Behandlung verweigert wird. Ist das rechtlich überhaupt möglich?
Johannes Feest: Im Prinzip ist ganz klar geregelt, dass Art und Umfang der medizinischen Leistungen bei Gefangenen dem zu entsprechen haben, was die Krankenkassen bei Patienten draußen leisten müssen. Darüber haben wir uns in einer Diskussion auf der Bonner Konferenz vergangene Woche auch noch einmal verständigt.
Gleicher Anspruch auf Behandlung wie in Freiheit
Die Mediziner nennen das „Äquivalenzprinzip“, im Strafvollzugsgesetz ist das als „Angleichungsgrundsatz“ formuliert. Paragraf 61 Strafvollzugsgesetz [StVollzG] klärt eindeutig, dass die medizinischen Leistungen in Haft den Vorschriften des Sozialgesetzbuchs entsprechen müssen.
Offensichtlich sieht die Realität manchmal anders aus.
Die Anstalten sagen dann, dass sie bestimmte Behandlungen nicht durchführen können. Zum Beispiel, wenn kein eigenes Krankenhaus, sondern nur eine kleine Ambulanz vorhanden ist oder das entsprechend ausgebildete Personal fehlt.
Hindernisreich: Verlegung in ein externes Krankenhaus
Und was dann?
Dann wäre an und für sich Paragraf 65 StVollzG anzuwenden, der im Übrigen auch von vielen Bundesländern bereits wortgleich in die landeseigene Gesetze übernommen wurde. Er ermöglicht es, den Patienten in ein Krankenhaus außerhalb des Vollzugs zu verlegen, wenn beispielsweise die Krankheit in der Haftanstalt nicht erkannt oder behandelt werden kann.
Und das versuchen Gefangene in schwierigen Krankheitsfällen auch anzustreben. Allerdings ergeben sich dabei zwei Probleme: Zum einen müsste die Anstalt je nach Delikt bei der Verlegung für die Überwachung des Gefangenen sorgen, was zusätzliche Kosten verursachen oder Personal abziehen würde. Außerdem sorgt eine Dauerbewachung für Ärger mit dem Krankenhaus, weshalb manche Ärzte so etwas ablehnen. Zum andern könnte die Anstalt eine Behandlung in einem externen Krankenhaus ablehnen, weil sie auch dafür die Kosten übernehmen müsste.
Wie ist das zu erklären?
Im Krankenhaus befindet sich der Gefangene ja weiterhin im Strafvollzug, weshalb die Behandlungskosten auch vom Justizvollzug zu tragen sind.
Aber Erkrankte haben doch einen Rechtsanspruch auf Verlegung in ein Krankenhaus, wenn das medizinisch notwendig ist.
Dieser Anspruch läuft allerdings oft ins Leere, weil die Anstalt dem Häftling stattdessen empfiehlt, eine Strafunterbrechung zu beantragen. Dann nämlich muss für die Behandlungskosten der zuständige Träger, normalerweise also die Sozialhilfe oder die Krankenversicherung aufkommen.
Hängepartien für erkrankte Häftlinge
Hat dieser Weg denn auch eine Chance?
Ja, das kommt schon vor. Aber die Erfolgsaussichten hängen auch hier vom jeweiligen Fall ab. Bei schweren Delikten weigert sich die Staatsanwaltschaft schlicht, einer Strafunterbrechung zuzustimmen. Dadurch ergeben sich für den Gefangenen immer wieder Hängepartien.
Wie sind diese Vorgehensweisen juristisch zu bewerten?
Genau genommen agiert man hier außerhalb der Legalität. Die Haftanstalt ist nämlich verpflichtet, den Gefangenen in ein externes Krankenhaus zu verlegen, wenn das notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu behandeln oder ihre Verschlimmerung zu verhindern oder um Beschwerden zu lindern. Das Gesetz ist da unmissverständlich. Tatsächlich aber wird die Verlegung hinausgezögert – und letztlich passiert nichts.
„Das Gesetz ist da unmissverständlich“
Bei lebensnotwendigen Operationen sieht es freilich anders aus. Es hakt immer dann, wenn die Sache sehr teuer wird. Gerade bei Behandlungen, wie sie bei HIV- und Hepatitis-C-Patienten notwendig sind, erlebe ich das immer wieder.
Was kann ich als Häftling dann tun? Muss ich vors Gericht ziehen?
Die Sache ist noch etwas komplizierter. Die Anstaltsärzte stimmen einer Verlegung in der Regel nämlich zu. Aber die Entscheidung darüber liegt ganz allein bei der Anstaltsleitung. Und die wird im Zweifelsfall zu dem Schluss kommen, dass die Behandlung in einem externen Krankenhaus die Möglichkeiten der Anstalt übersteigt.
Dem Gefangenen bleibt dann in der Tat nur die Klage. Diesen Weg nehmen manche von vornherein nicht, weil sie gar nicht wissen, dass das geht und wie es geht. Andere wenden sich an die Aidshilfe oder auch an mich und erhalten so die notwendige Unterstützung.
„Dem Gefangenen bleibt dann nur die Klage“
Wie lange dauert ein solches Verfahren?
Der Rechtsweg ist zweistufig. Zunächst ist die Strafvollstreckungskammer zuständig – das allein dauert meist schon ein paar Monate. Wenn die Kammer negativ für den Gefangenen entscheidet, kann er zum Oberlandesgericht gehen, wo er aber eine anwaltliche Vertretung braucht. Insgesamt kann sich ein solches Verfahren bis zu einem Jahr hinziehen.
Eigentlich ist es ja nicht der Anstaltsleitung anzulasten, dass sie teuere Behandlungen ablehnt.
Der Justizetat ist an dieser Stelle begrenzt, und genau das ist das Problem.
Weshalb sind Häftlinge nicht in der Krankenkasse?
Wenn Häftlinge als Freigänger im offenen Vollzug draußen einem normalen Job nachgehen, sind sie auch kranken- und sozialversichert. Das betrifft allerdings nur eine vergleichsweise kleine Zahl.
Widerstand der Finanzminister
Wieso hat man Gefangene aus der Sozialversicherung rausgenommen – um ihre Bürgerrechte einzuschränken?
Zunächst standen Gefangene völlig außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft. Als man dann in den 1970er-Jahren das Strafvollzugsgesetz entwickelte, war auch vorgesehen, die Gefangenen in die Sozial- und Krankenversicherung aufzunehmen, und das wurde auch so ins Gesetz hineingeschrieben.
Im letzten Moment allerdings haben die Finanzminister der Länder protestiert und über den Bundesrat eine Aufschiebung erreicht. Dafür sollte ein besonderes Bundesgesetz formuliert werden, wofür man sogar einen Termin festgelegt hatte. Doch gemacht wurde nichts, und später wurde die Bestimmung ganz gestrichen.
Das Vorhaben scheiterte also am Widerstand der Finanzminister – zu einer Zeit, als die Finanzlage noch sehr viel besser war also heute. Man ist nie mehr darauf zurückgekommen. Es fehlt bis heute am politischen Willen.
„Es fehlt bis heute am politischen Willen“
Womöglich leisten auch die Krankenkassen Widerstand.
Die Krankenkassen verhalten sich in dieser Sache sehr ruhig. 1999 war ich bei einer Diskussion zur Sozialversicherung im Bundesverfassungsgericht dabei, die gewisse Parallelen aufwies. Im Vordergrund stand die Altersversorgung, unter anderem ging es um Hausfrauen und Behinderte. Letztlich geht es immer um die Frage, welche anderen Gruppen, die nicht im Arbeitsleben stehen, ebenfalls Ansprüche erheben könnten. Bei der Krankenversicherung könnten ja auch Asylbewerber oder Menschen ohne Aufenthaltsrecht auf Gleichbehandlung klagen.
Zu geringer Lohn, um sich selbst sozialversichern zu können
Die Krankenversicherungen sind zufrieden, solange sie Beiträge erhalten. Doch Beiträge werden derzeit weder vom Vollzug noch von den Gefangenen abgeführt. Für Letztere wäre das finanziell auch gar nicht möglich.
… Weil sie für ihre Arbeit im Gefängnis nur sehr wenig Geld bekommen.
Der ursprüngliche Plan sah vor, dass Gefangene auch ordnungsgemäß bezahlt werden und entsprechende Beiträge abführen. Damit wären die Krankenkassen zufrieden gewesen. Solange aber Gefangenen nur 9 % des draußen üblichen Arbeitslohns erhalten, müssten der Staat die Versicherungsbeitrage bezahlen – und das verursacht Kosten.
Wie könnte man aus diesem Dilemma herauskommen?
Der richtige Weg wäre, das Arbeitsentgeld anzuheben und Gefangene durch die von ihnen zu zahlenden Versicherungsbeiträge an den Gesundheitskosten zu beteiligen. In Österreich ist man diesen Weg gegangen. In Deutschland sind wir davon leider noch sehr weit entfernt.
Häftlinge haben kaum eine Lobby
Wer müsste aktiv werden, um Bewegung in die Sache zu bringen – Parteien, Lobbygruppen?
Normalerweise sagt man, dass Gefangene keine Lobby haben. Aber bei diesem Missstand haben sich doch eine ganze Reihe Unterstützer wie etwa das Komitee für Grundrechte und Demokratie oder Strafverteidigervereinigungen zusammengetan und eine gemeinsame Petition an die Bundesregierung geschickt.
Aber noch hat man bei den Parteien nicht genügend Interesse gefunden. Mit dem Aufkommen neuer Parteien wie den Grünen hatten Gefangene bis in die 1980er-Jahre hinein zeitweise Politiker, die sich für sie interessierten – damit sie von Gefangenen gewählt werden. Das hat sich aber bei den Grünen schnell geändert.
„Man müsste die großen Parteien auf seiner Seite haben“
Aktuell greift am ehesten noch Die Linke solche Themen auf. Aber man müsste die großen Parteien auf seiner Seite haben. Durch die Petition zur Sozialversicherung ist die Diskussion zumindest ein Stück weit wiederbelebt worden.
Wie ist der aktuelle Stand, was die Petition angeht?
Der neue Bundesjustizminister, Heiko Maas, hat uns in einem höflichen Brief mitgeteilt, er fühle sich dafür nicht zuständig und habe die Petition an Arbeitsministerin Andrea Nahles weitergereicht. Aber an welcher Stelle ihrer Prioritätenliste die Petition steht, ist unklar. Ich vermute, sehr weit unten.
Bei Lohn- und Sozialversicherungsfragen fühlen sich normalerweise die Gewerkschaften zuständig.
Man würde in der Tat damit rechnen, dass die Gewerkschaften sich für die Belange der Gefangenen einsetzen und Druck beispielsweise auf die SPD machen. Aber das ist leider nicht der Fall. Die Gewerkschaften haben noch nie ein starkes Interesse am Strafvollzug gezeigt. Sie betrachten ja selbst Arbeitslose nicht als ihre Klientel, geschweige denn Strafgefangene.
Die Gewerkschaften engagieren sich kaum für Gefangene
Das heißt, die Sache steckt in einer Sackgasse?
Ich finde den Punkt, an dem die Deutsche AIDS-Hilfe ansetzt, nicht schlecht, nämlich zu sagen: Es gibt bestimmte Gefangenengruppen, bei denen die Folgen dieses Missstandes so gravierend sind, dass man handeln muss. Das heißt nun nicht, das man nur sie allein in die Krankenversicherung aufnimmt – das wäre aus Gleichheitsgesichtspunkten nicht möglich. Ein erster Schritt könnte aber beispielsweise sein, dass man die Bedingungen für die Behandlung in externen Krankenhäusern verbessert.
Wer aber übernimmt die Behandlungskosten?
Die zuständigen Ressorts in den Ländern, etwa Gesundheit und Justiz, müssen untereinander klären, wie sie die Kostenübernahme vertraglich vereinbaren. Man hat ja auch in anderen Fällen, in denen die Justizvollzugsanstalten finanziell überfordert waren, Lösungen gefunden.
Soeben erschienen ist die aktualisierte Neuausgabe des Handbuchs „Betreuung im Strafvollzug“ der Deutschen AIDS-Hilfe. Es enthält auch zwei Textbeiträge von Prof. Johannes Feest: „Neue Unübersichtlichkeit: Die Zukunft des deutschen Justizvollzugs“ und „Rechte und Pflichten externer Mitarbeiter/innen“. Ein PDF des Handbuchs findet sich unter www.aidshilfe.de.
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