Jung, straffällig und gefährdet: Prävention im Jugendarrest
Rund 1500 Berliner werden Jahr für Jahr zu Jugendarrest verurteilt. Ein Teil von ihnen hat dort die Chance, an einem Workshop zu HIV, andere sexuell übertragbare Infektionen und Sexualität teilzunehmen. Über seine Erfahrungen in der Arbeit mit diesen Jugendlichen erzählt Fadl Speck von der Berliner Aids-Hilfe im Interview mit Axel Schock.
Wer im Jugendarrest landet, hat mehr auf dem Kerbholz als nur einen Dumme-Jungen-Streich. Die Liste der Straftaten, wegen der diese 14- bis 21-Jährigen bis zu vier Wochen in der Anstalt im Berliner Bezirk Lichtenrade einsitzen, reicht von Diebstahl, Körperverletzung und Sachbeschädigung über Drogendelikte bis Raub und Betrug.
Viele von ihnen haben bereits eine beachtliche kriminelle Karriere hinter sich – und ein Leben, das häufig von Armut, Drogen und Alkoholmissbrauch, von Arbeitslosigkeit, Bildungsmangel und Obdachlosigkeit geprägt ist. Damit die Arrestzeit von den Jugendlichen nicht einfach nur stumpf abgesessen wird, sondern sinnvoll genutzt werden kann, wurde vor einigen Jahren das Modulare Kompetenztraining (MKT) eingerichtet.
Das Angebot soll die sozialen Kompetenzen schulen und reicht von der Gewaltprävention bis zum Bewerbungstraining. Seit 2006 bietet die Berliner Aids-Hilfe in diesem Rahmen einen Workshop zum Themenkomplex Sexualität, HIV und andere suexuell übertragbare Infektionen (kurz: STI = sexually transmitted infections) an. Alle zwei Wochen trifft der 24-jährige Fadl Speck, BAH-Mitarbeiter für Prävention mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen, auf eine neue Gruppe im Jugendarrest.
Wie muss man sich euren Workshop vorstellen? Habt ihr einen festen Lehrplan, den ihr in diesen zwei Stunden abarbeitet?
Fadl Speck: Wir haben natürlich feste Module für unsere Arbeit, aber der Ablauf ändert sich je nach der Zusammensetzung der Gruppe. Der Workshop unterscheidet sich ganz bewusst vom Sexualunterricht, wie ihn die Jugendlichen aus der Schule kennen. Die Jugendlichen im Arrest haben eine sehr spezielle Lebenswelt. Viele haben sexuelle Gewalt erlitten oder sind selbst schon Eltern. Wir versuchen aus den Gesprächen herauszubekommen, welche Themen sie bewegen, um diese dann in die Gruppenarbeit aufzunehmen.
Wie alt sind diese Jugendlichen, mit denen ihr arbeitet?
Der Altersdurchschnitt liegt zwischen 17 und 18. Etwas mehr als die Hälfte von ihnen hat einen Migrationshintergrund. Seit 2006 haben inzwischen über 1000 dieser Jugendlichen einen unserer Workshops besucht. Das ist keine allzu große Zahl im Vergleich zu Aktionen in Schulklassen. Man darf dabei aber nicht vergessen, dass diese Jugendlichen nach dem Arrest als Multiplikatoren in ihr Lebensumfeld hineinwirken.
Euer Workshop dreht sich nicht speziell um HIV und Aids, sondern widmet sich übergreifenden Fragen zu Sexualität und Partnerschaft. Finden es die Jugendlichen befremdlich, dass sich ausgerechnet jemand von der Aidshilfe mit ihnen darüber unterhält?
Sie sind tatsächlich ein wenig überrascht, vor allem darüber, dass wir das Thema so breit angehen. Natürlich gibt es auch mal Sätze zu hören wie „Seid ihr schwul, oder warum arbeitet ihr für die Aidshilfe?“ Homophobe Sprüche fallen ohnehin immer wieder mal. Wir versuchen das aber in einer speziellen Übung, in der wir uns mit Bisexualität beschäftigen, auch direkt aufzufangen.
Wie unbefangen oder zurückhaltend äußern sich die Jugendlichen in den Gesprächen?
Wir sind ein sehr junges Team, das ist ein enormer Vorteil. Dadurch fassen die Jugendlichen viel schneller Vertrauen zu uns. Wir sprechen eine ähnliche Sprache, und das macht es für sie viel einfacher. Als ich mit dieser Arbeit anfing, hatte ich erwartet, dass sie viel verschlossener wären. Aber das Gegenteil ist der Fall. Sie sprechen sehr viel auch über ihre Familiensituation und Beziehungserfahrungen. Es geht dabei wesentlich offener zu als bei vergleichbaren Gesprächen mit Schulklassen.
Wie erklärst du dir das?
Die Gruppen sind nie sehr groß, und die Jugendlichen sind meist schon ein, zwei Wochen zusammen im Arrest. Dadurch entstehen enge Bande, weil sie ja im gleichen Boot sitzen. Die Mädchen sind zunächst etwas zurückhaltender, aber tauen schnell auf. Die Jungs neigen natürlich auch zum Prahlen, sie erzählen aber auch ganz emotional oder sachlich von ihren Erlebnissen.
Das heißt, diese Jugendlichen hatten auch alle bereits sexuelle Erfahrungen?
Das ist nicht nur unser Eindruck, sondern das bestätigt auch unsere Studie zu Wissen, Einstellungen und Verhalten in Sachen HIV/Aids und anderen STI, für die wir Interviews im Jugendarrest geführt haben.
Wie gut wissen diese Jugendlichen denn über Schwangerschaftsverhütung oder sexuell übertragbare Krankheiten Bescheid?
Die Kenntnisse sind sehr diffus, gerade was Ansteckungsrisiken bei HIV und STI angeht. Da geht einiges durcheinander. Manche sind sich sicher, dass man auch durch Küssen oder Händeschütteln mit HIV angesteckt werden kann. Dass ein Kondom hilft, wissen die meisten. Schwieriger wird’s da schon, wenn es um die Anwendung der Pille geht.
Inwieweit spielen religiöse Aspekte, gerade bei muslimisch geprägten Jugendlichen, in deren Vorstellung und Umgang mit Sexualität hinein?
Wir haben im Workshop natürlich auch schon solche Sätze gehört wie „Alle HIV-Positiven sind schlechte Menschen, das ist die Strafe Gottes“. Doch das ist eher die Ausnahme. Religion spielt in unseren Gesprächen nur selten eine Rolle. Falls dies doch zur Sprache kommt, versuchen wir das aufzufangen, ohne in die Tiefe zu gehen. Der Workshop bietet für ein solch sensibles und emotional aufgeladenes Thema einfach nicht den Raum.
Ich dachte vor allem auch daran, dass ein promiskes Sexleben vor der Ehe für streng Gläubige im Widerspruch zu ihrem Glauben stehen müsste.
Es ist in der Tat so, dass vor allem die Jungs nicht nur sehr früh ihre ersten sexuellen Erfahrungen machen, sondern auch mit vielen Partnerinnen, ganz unabhängig von der Religionszugehörigkeit.
Was das Alter des ersten Sexualerlebnisses angeht und die Zahl der Sexualpartner, so unterscheiden sich die Zahlen in unserer Jugendarrest-Studie deutlich von denen, die die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in ihrer Jugendsexualitätsstudie ermittelt hat.
Bundesweit sind die Jugendlichen beim ersten Mal mehrheitlich 16 bis 17 Jahre alt, die befragten Arrestanten machten ihre ersten sexuellen Erfahrungen hingegen im Durchschnitt mit 14 Jahren.
Jeder fünfte von ihnen war beim ersten Geschlechtsverkehr noch ein Kind. Konkret: 5 Prozent der Mädchen und 8 Prozent der Jungen waren beim ersten Geschlechtsverkehr höchstens elf Jahre alt.
Auch die Zahl der Sexualpartner ist bei ihnen wesentlich höher – ganz unabhängig von Religion oder Herkunft der Jugendlichen.
Wie unterscheidet sich deiner Erkenntnis nach die sexuelle Erlebniswelt dieser Jugendlichen von der ihrer Altersgenossen, die vielleicht in einem bürgerlicheren, sozial gefestigteren Umfeld aufwachsen?
Auffallend ist, dass die Jugendlichen durch die Perspektivlosigkeit versuchen, sich Bestätigung zu holen, indem sie mit vielen Partnern Sex haben. Bei den Mädchen ist der Respekt vor dem eigenen Körper, vor sich selbst und der eigenen Sexualität weitaus weniger ausgeprägt als beispielsweise bei einer Gymnasiastin, die eine problemfreie Jugend verlebt. Das führt dazu, dass diese Mädchen beim Sex manchmal auch etwas mit sich machen lassen, das sie eigentlich gar nicht möchten.
Mit wem reden diese Jugendlichen, wenn sie Fragen zur Sexualität haben?
Jugendlichen fällt es generell schwer, über Themen wie Liebe und Sexualität zu sprechen. Solche aus bildungsfernen oder sozial zerrütteten Familien haben es tatsächlich sehr schwer, Gesprächspartner für solche Themen zu finden.
Dieses Defizit könnt ihr mit einem zweistündigen Workshop nur schwerlich auffangen.
Dies stimmt leider. Das Feedback der Jugendlichen zeigt uns, wie dankbar sie solche Gesprächsangebote aufnehmen. Sie sind sehr interessiert – und, was ich für ein gutes Zeichen halte, nach jedem Workshop bleiben zwei, drei immer noch da, um persönliche Fragen zu stellen oder nach weiteren Beratungsmöglichkeiten zu fragen.
Ich bin daher sehr froh, dass es dieses Projekt des Modulen Kompetenztrainings überhaupt gibt. In anderen Bundesländern wird der Jugendarrest wesentlich härter umgesetzt. Wie wichtig gerade auch die STI- und HIV-Prävention für diese Jugendlichen ist, hat die Studie noch einmal mehr bestätigt: Sie sind in besonderem Maße vulnerabel für sexuell übertragbare Krankheiten.
Das zeigt sich am deutlichsten beim Schutzverhalten. Die Mehrheit hat beim ersten Mal gar nicht verhütet, und ein großer Anteil hat es auch danach nicht getan.
Weiterführende Informationen:
Link zur Berliner Jugendarrest-Studie 2012 „Man gewöhnt sich an alles …“ (pdf-Datei)
Diesen Beitrag teilen