Epidemiologie

Könnten HIV-Medikamente die Anfälligkeit für Syphilis erhöhen?

Von Axel Schock
Syphilis
Forscher_innen aus Kanada haben ein Rechenmodell entwickelt, um eine neue Erklärung für den starken Anstieg von Syphilis-Infektionen bei Männern, die Sex mit Männern haben (MSM), zu finden.

In den USA beispielsweise stieg die Zahl der gemeldeten Syphilis-Infektionen von 2013 bis 2014 um 15 Prozent, im Folgejahr um weitere 19 Prozent. In Deutschland wurden dem Robert Koch-Institut im Jahr 2014 mehr als 5.700 Syphilis-Fälle gemeldet, 14 Prozent mehr als im Vorjahr, 2015 verstärkte sich dieser Anstieg weiter. Der Zuwachs betraf fast ausschließlich Männer, die Sex mit Männern haben, darunter ein hoher Anteil von HIV-Positiven. Das Robert Koch-Institut hat als Reaktion darauf unlängst die Syphilis-Meldebögen geändert und erfasst nun auch, ob die Betroffenen auch mit HIV infiziert sind.

Starker Anstieg der Infektionen vor allem bei HIV-positiven schwulen Männern

In einer Studie, die ein Team um den kanadischen Forscher Michael L. Rekart nun in der aktuellen Ausgabe des Fachjournals „Sexually Transmitted Infections“ veröffentlicht hat, sind die Forscher_innen folgender Frage nachgegangen: Warum sind bei anderen Geschlechtskrankheiten wie Gonorrhö und Chlamydien-Infektionen, von denen MSM ebenfalls überproportional betroffen sind, keine gleich starken Anstiege zu beobachten?

Eine Änderung des Sexualverhaltens sei also wahrscheinlich nicht die alleinige Ursache, so die Wissenschaftler_innen. Als mögliche weitere Erklärung schlagen sie Auswirkungen von HIV-Medikamenten auf Mechanismen des Immunsystems vor. Ihre Modellrechnung zeige, dass dies möglich sei.

Rekart und sein Team spekulieren, dass einige HIV-Medikamente zum Beispiel die Aktivität der Mitochondrien (der „Kraftwerke“ der Zellen) und die Aktivierung von Fresszellen des Immunsystems hemmen. Sie sind zur Bekämpfung von Syphilis-Erregern nötig, so Benjamin Ryan auf poz.com, während die Bekämpfung von Gonorrhö-Erregern und Chlamydien darauf weniger stark angewiesen sind.

Medikamente aus der Klasse der NRTI und insbesondere die häufig zur Therapie eingesetzte Substanz Tenofovirdisoproxilfumarat könnten außerdem dazu führen, dass sich ältere Immunzellen vermehren, welche die Syphilis-Erreger nur eingeschränkt bekämpfen können.

„Eine steile These – und harter Tobak für die Prävention“

Die Forscher_innen verweisen auch auf folgenden Umstand: Während durch die HIV-Therapie die aidsdefinierenden Erkrankungen drastisch zurückgegangen sind, sieht man den Effekt bei anderen Krankheiten wie Infektionen mit Humanen Papillomaviren (HPV) so nicht – auch hierfür könnten Auswirkungen der HIV-Medikamente auf Immunmechanismen verantwortlich sein.

Die ART schafft also nicht alles, aber dass sie dazu beitragen soll, eine Infektion zu begünstigen, ist „eine steile These – und harter Tobak für die Prävention“, so Armin Schafberger, Medizinreferent der Deutschen AIDS-Hilfe. Er rät von übereilten Schlüssen ab: „Viele Einflüsse und Faktoren, die zu einer Syphilis-Infektion führen können, bleiben in dieser Berechnung unberücksichtigt. Auch das jeweilige Sexualverhalten der Infizierten wird nicht konkret erfasst und in die Bewertung mit einbezogen. Und außerdem ist nicht klar, ob in den Studien Gonokokken- und Chlamydien-Infektionen systematisch übersehen wurden.“

Während man nämlich die Syphilis über eine Blutuntersuchung leicht feststellen kann, muss man für die Gonokokken und Chlamydien an drei Stellen – Rachen, Harnröhre und Anus – Abstriche machen, was oft nur unvollständig erfolgt. Die Kluft zwischen Syphilisinfektionen einerseits und Gonokokken-/Chlamydien-Infektionen andererseits, die Ausgangsbasis für das Rechenmodell, könnte also nur eine scheinbare Kluft sein.

Auch Susan Tuddenham, Maunak Shah und Khalil G. Ghanem weisen in ihrem Editorial zur aktuellen Ausgabe von „Sexually Transmitted Infections“ auf zahlreiche Begrenzungen und Vereinfachungen des Rechenmodells hin. Dennoch bezeichnen sie die von Rekart und seinem Team aufgestellte Vermutung als interessant und bedenkenswert.

Machen wir es uns zur einfach?

Das Modell könnte also vielleicht doch einen Beitrag zur Erklärung leisten, warum die Syphilis-Infektionen bei HIV-positiven Männern in Europa, den USA, China und Argentinien so stark steigen. „Momentan führen wir den Anstieg ja ausschließlich auf das Sexualverhalten zurück“, sagt Armin Schafberger. „Vielleicht machen wir es uns da zu einfach.“

Der Wirkstoff Tenofovirdisoproxil ist einer von zwei Bestandteilen des HIV-Medikaments Truvada, derzeit unangefochten das am häufigsten eingesetzte Medikament zur HIV-Behandlung, zur Post-Expositions-Prophylaxe (PEP) und zur Prä-Expositions-Prophylaxe PrEP („Pillen zum Schutz vor HIV“).

Die Zahl der Verordnungen werde insbesondere durch die PrEP in den kommenden Jahren weiter steigen, sagt Armin Schafberger. „Es ist daher erforderlich, dass die These weiter überprüft wird – auch wenn es vermutlich Jahre dauern wird, bis sie abschließend geklärt ist.“

„HIV-Medikamente retten Leben!“

Sollten weitere Studien den Zusammenhang zwischen HIV-Medikamenten und einer erhöhten Syphilis-Anfälligkeit bestätigen, müssten Untersuchungen auf sexuell übertragbare Infektionen bei MSM und ihre Behandlung verstärkt werden, fordern Tuddenham, Shah und Ghanem in ihrem Editorial.

Doch auch wenn sich die These weiter erhärte, sei es für Menschen mit HIV lebenswichtig, ihre Behandlung fortzusetzen, betont Michael Rekart. Menschen, die HIV-Medikamente zur Behandlung ihrer Infektion oder vorbeugend im Rahmen einer PrEP einnehmen, sollten dann allerdings diese Erkenntnisse bei ihrem Sexualverhalten mitbedenken, zum Beispiel bei der Frage, ob und wann auf Kondome verzichtet wird.

Der Gebrauch von Präservativen reduziert zwar das Übertragungsrisiko erheblich, der Syphilis-Erreger kann aber trotzdem weitergegeben werden (sogar beim Küssen). Da Symptome häufig nicht bemerkt werden, sollten Männer, die häufig Sex mit anderen Männern haben, sich regelmäßig auf Geschlechtskrankheiten und insbesondere auch auf Syphilis untersuchen lassen, bei einer PrEP sogar viermal im Jahr. Und daran ändert sich auch durch die These der Forscher_innen aus Kanada nichts.

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