In der Epidemiologie ist partizipative Forschung bisher eher unüblich. In einer Studie zu sexueller Gesundheit bei Afrikanerinnen und Afrikanern in Deutschland nimmt sich das Robert Koch-Institut dieses Konzepts an. Wir sprachen mit Claudia Santos-Hövener.

Claudia, du leitest die Studie vom RKI aus. Den Pilotdurchgang in Hamburg habt ihr gemeinsam mit der dortigen Aidshilfe durchgeführt und letztes Jahr erfolgreich abgeschlossen. Was wollt ihr mit der Studie herausfinden?

Migrantinnen und Migranten aus Subsahara-Afrika machen ungefähr 10 bis 20 Prozent der HIV-Erstdiagnosen in Deutschland aus. Dabei ist der Bevölkerungsanteil dieser Gruppe an sich sehr klein; sie ist somit überproportional häufig betroffen. Viele dieser Personen infizieren sich den HIV-Meldedaten zufolge außerdem erst in Deutschland und bekommen oft erst spät eine Diagnose. Es gibt also ganz klar einen Präventionsbedarf – und den zu ermitteln ist Ziel der Studie.

Partizipative Forschung – erstmals auch am Robert Koch-Institut

Die Studie ist partizipativ angelegt. Ist das eine Premiere am RKI?

Ja, das ist so noch nicht vorgekommen. In der epidemiologischen Forschung in Deutschland sind partizipative Konzepte bisher nicht gängig. Und nicht jeder Epidemiologe ist sofort der Meinung, dass dieses Konzept für unsere Arbeit geeignet ist. In der partizipativen Forschung geht es meist um eine Bedarfserhebung am Ort oder um Interventionsplanung. Außerdem sind solche partizipativen Prozesse häufig langwieriger und aufwendiger in der Vorbereitung und somit kostenintensiver.

Wie kam es dann zu diesem Konzept?

2011 hatte ich einen Workshop mit Experten aus dem Migrationsbereich geplant, um zu besprechen, ob hinsichtlich HIV und anderen sexuell übertragbaren Infektionen bei Afrikanerinnen und Afrikanern Handlungsbedarf besteht – und wenn ja, wie diesbezüglich etwas gemacht werden kann. Ich war etwas naiv und hatte gedacht, dass wir uns zwei Tage zusammensetzen und dann vielleicht bereits ein Studiendesign entwickelt hätten – das hat aber nicht geklappt. Es war ein sehr kritisches Zusammentreffen.

Inwiefern?

Neben verschiedenen Akteurinnen und Akteuren aus dem Bereich Gesundheit und Migration waren bei diesem ersten Treffen auch Vertreterinnen und Vertreter aus afrikanischen Communities in Deutschland dabei. Von dieser Seite kam erst mal viel Misstrauen und die Frage, warum wir uns als behördliche Einrichtung „auf einmal“ für Personen aus Subsahara-Afrika interessieren – was ja auch verständlich ist. Wir sind dann also gar nicht dazu gekommen, ein Forschungsdesign zu entwickeln, sondern haben erst mal allgemein über Prinzipien für einen möglichen Forschungsprozess gesprochen.

„Afrikanerinnen und Afrikaner sind an fast jedem Forschungsschritt beteiligt“

Um welche Prinzipien ging es?

Ein Prinzip war, dass durch die Forschung ein Nutzen für die Communities vor Ort entstehen muss – das kann ein monetärer Nutzen sein, aber auch ein Erkenntnisgewinn. Dann sollte die Forschung eine gewisse Nachhaltigkeit haben, also vor Ort Strukturen entstehen lassen, die der Präventionsarbeit nutzen. Und ganz klar war: Wenn wir ein Forschungsprojekt zu Afrikanerinnen und Afrikanern in Deutschland machen, dann muss das partizipativ geschehen.

Was heißt Partizipation in eurem Fall?

Afrikanerinnen und Afrikaner sind an fast jedem Forschungsschritt beteiligt und haben Entscheidungskompetenz: bei der Entwicklung und Vorbereitung sowie der Diskussion der Ergebnisse. Peer Researcher, also afrikanische Community-Mitglieder, die vorher geschult wurden, übernehmen die Rekrutierung der Studienteilnehmerinnen und Studienteilnehmer. Lediglich bei den statistischen Analysen wirken keine Community-Mitglieder mit.

Wie habt ihr die Studie vorbereitet?

Die Entwicklung der Studie war ein recht langer Prozess. Zunächst haben wir anhand der Daten des Statistischen Bundesamts einen ausführlichen Bericht zu den afrikanischen Communities in Deutschland erarbeitet und anschließend noch eine umfangreiche Situationsanalyse erstellt.

Schließlich wurde eine Arbeitsgruppe gebildet und das Studiendesign entwickelt, was ungefähr anderthalb Jahre gedauert hat. In dieser Phase haben wir uns darauf geeinigt, dass wir eine reine Befragung machen wollen – also nicht Blut abnehmen, um Prävalenzen zu bestimmen, wie das bei anderen Studien am RKI gemacht wird. Das war von Mitgliedern der afrikanischen Communities ausdrücklich nicht gewünscht. Wir haben dann aber bei der Befragung in Hamburg auf das anonyme und kostenlose Testangebot der Einrichtung CASA blanca hingewiesen, um Personen zu verweisen, die nach der Befragung einen Test machen möchten.

500 Fragebögen? Für die Peer Researcher kein Problem

Die Pilotstudie in Hamburg war auch dazu da, die Machbarkeit des Studiendesigns zu bewerten. Nach welchen Kriterien habt ihr das gemacht, und was kam dabei heraus?

Sehr wichtig war natürlich, wie die Peer Researcher die Machbarkeit bewerten – da kam generell positives Feedback. Ein Kriterium war außerdem, wie divers die Gruppe war, die wir erreicht haben. Das hat gut geklappt: Mit solchen Studien werden meist eher Personen mit höherem Bildungsniveau erreicht, wir hatten aber auch einen großen Teil dabei, der einen Grund-, Hauptschul- oder gar keinen Schulabschluss angab. Hinsichtlich der Herkunftsländer fanden sich die großen afrikanischen Communities in Hamburg wieder. Wir haben dabei aber auch gelernt, dass es wichtig ist, wie man die Peer Researcher aussucht – die müssen ebenfalls divers sein. Und ein weiteres Kriterium war, dass überhaupt genügend Fragebögen zurückkommen, und das lief ebenfalls sehr gut.

Über 600 Fragebögen sind zurückgekommen.

649 Fragebögen sind bei uns eingetroffen, ein paar davon mussten wir aus der Analyse ausschließen. Das war mehr, als wir erwartet hatten, was wir den motivierten Peer Researchern zu verdanken haben. Klar, sie haben für jeden ausgefüllten Fragebogen Geld bekommen, aber das war nicht der einzige Grund. Sie waren richtig bei der Sache und schon von Anfang an begeistert! Ich hatte zu Beginn gesagt, 350 Fragebögen bräuchten wir mindestens, aber 500 wären super. Die Peer Researcher haben gleich gesagt: 500 kriegen wir hin!

Ihr habt zum Teil recht intime Details erfragt. Hat das den Peer Researchern in der Rekrutierung Probleme bereitet?

Das Intimste waren wohl die Fragen nach den Sexualpraktiken. Trotzdem waren die Antworten in diesem Teil relativ komplett. Nun wussten die Leute ja auch von Anfang an, dass es bei dieser Studie um sexuelle Gesundheit geht. Und was als intim empfunden wird, variiert. Teilweise wurden auch die demografischen Angaben als zu sensibel empfunden, vielleicht hatten manche Angst vor einer Identifikation.

Das Thema Hepatitis ist ein guter Türöffner für Fragen zu HIV

Was sind die wichtigsten Ergebnisse der Studie?

Die Ergebnisse sprechen natürlich nur für die Stadt Hamburg. Da kann man auf jeden Fall sagen, dass es einen Präventionsbedarf in Bezug auf Hepatitiden gibt. Wir haben die Fragen ja als wahre Aussagen formuliert und gefragt, ob die Teilnehmer diese Information vorher schon kannten. So gab es gleich einen gewissen Lerneffekt. Bei Hepatitis wussten die Leute noch nicht so gut Bescheid, weniger als 40 Prozent der Befragten waren die Informationen vorher schon bekannt – und das empfanden wir als wenig. Wenn man jemanden ohne Migrationshintergrund fragen würde, sähe es vielleicht ähnlich aus, bei Afrikanerinnen und Afrikanern ist es aber noch mal etwas anderes, weil viele afrikanische Länder Hochprävalenzländer in Bezug auf Hepatitis B und auch C sind.

Es hat sich aber gezeigt, und das haben auch die Peer Researcher bestätigt, dass die Hepatitis-Fragen ein guter Türöffner sind, um anschließend HIV anzusprechen. Hepatitis wird nicht so sehr mit Sex in Verbindung gebracht und ist somit nicht so stigmatisiert. Das ist eine Information, die für die Prävention hilfreich sein kann.

Claudia Santos-Hövener (Foto: privat)
Claudia Santos-Hövener (Foto: privat)

Wie sah es denn bei den HIV-Fragen aus?

Bei allgemeinen Fragen zu HIV wussten die Leute gut Bescheid. Allerdings gab es zwei Aussagen, die relativ viele nicht wussten: dass man sich in Hamburg anonym und kostenlos auf HIV testen lassen kann und dass HIV kein Ausweisungsgrund ist. Das sind Botschaften, die kommuniziert werden müssen. Und beide sind nicht besonders sensibel, darüber kann man gut sprechen.

Was noch interessant ist: Die Zeit, die die Befragten schon in Deutschland waren, war nicht wichtig für das Wissen zu HIV, das Level der Deutschkenntnisse dagegen schon. Personen, die bei dieser Frage „mittelmäßig“, „ wenig“ oder „gar nicht“ angegeben haben, hatten einen höheren Informationsbedarf.

Ihr habt auch nach weiblicher Genitalverstümmelung gefragt. Wie kann man die Informationen dazu hierzulande in die Prävention mit hineinnehmen?

28 Prozent der Frauen haben Genitalverstümmelung angegeben. Wir haben allerdings nicht danach gefragt, wo diese vorgenommen wurde. Genitalverstümmelung ist aber auch nach dem eigentlichen Eingriff ein Risikofaktor für eine HIV-Infektion. Wenn Läsionen oder Verwachsungen zurückgeblieben sind, ist das HIV-Risiko ebenfalls erhöht. Deshalb ist es wichtig, mit den Frauen darüber zu sprechen und sie über das Risiko aufzuklären.

Wie tragt ihr die Ergebnisse zurück in die Communities?

Das machen vor allem die Hamburger Kolleginnen und Kollegen, aber wir unterstützen sie natürlich dabei. Wir helfen zum Beispiel bei der Erstellung eines Flyers, auf dem die wichtigsten Ergebnisse verständlich präsentiert werden sollen und den verschiedene Einrichtungen und Akteure für ihre Arbeit nutzen können. Als RKI publizieren wir zusätzlich auf verschiedenen Ebenen. Und es gibt natürlich einen ausführlichen Bericht, den auch jeder Peer Researcher bekommt und der auf unserer Website verfügbar ist.

„Diesen Lebensweltbezug kriegt man als Forscherin ja sonst nicht“

Haben sich durch die gemeinsame Forschungsarbeit Synergieeffekte ergeben?

Ja, denn wir haben ja wirklich versucht, viele verschiedene Akteure einzubinden und haben zum Beispiel auch HIV-Schwerpunktpraxen und Flüchtlingseinrichtungen besucht. Man kann wirklich sehen, dass durch diese Einbindung eine intensivere Vernetzung entstanden ist. Und dieses Netzwerk ist dann natürlich wichtig, wenn es um die Planung von Interventionen geht.

Wie geht es mit der Studie weiter?

In den nächsten zwei Jahren sollen fünf weitere Zentren folgen. Ende Januar geht es in München los. Mitte des Jahres werden wir dann in der Rhein-Ruhr-Region loslegen, was eine große logistische Herausforderung für uns darstellt. Insgesamt wollen wir über 3.000 Personen befragen.

Sind noch weitere partizipative Studien am RKI vorstellbar?

Ich glaube schon, dass das RKI in Zukunft mehr und mehr partizipative Methoden in die Arbeit einbeziehen wird. Natürlich ist das nicht immer möglich, aber schon für die Konzeption der Studie und die Interpretation der Ergebnisse kann es sehr hilfreich sein, jemanden aus der „Zielgruppe“ dabei zu haben, damit diese Personen einem sagen können, ob das, was man sich als Wissenschaftlerin vielleicht denkt, überhaupt Sinn macht. Für mich war es eine enorme Bereicherung – diesen Lebensweltbezug kriegt man als Forscherin ja sonst nicht. Und wenn mir jemand sagt, nein, Claudia, so geht das nicht, dann ist das super! Nur so kann man zu Ergebnissen kommen, die wirklich allen helfen.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Interview: Christina Laußmann

 

Weitere Informationen:

„Forschung auf Augenhöhe“, Interview auf magazin.hiv mit Mara Wiebe und Hapsatou Oudini von der AIDS-Hilfe Hamburg, die die Pilotstudie vor Ort koordinierten

Berichte und weitere Materialien zur Studie auf der Website des Robert Koch-Instituts

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Über

Christina Laußmann

Christina Laußmann hat Kulturwissenschaft, Medienwissenschaft und Neuere deutsche Philologie an der Humboldt-Universität und Technischen Universität Berlin studiert. Seit 2013 arbeitet sie als Autorin und Lektorin bei der Deutschen Aidshilfe.

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