Seit über zehn Jahren bietet die Deutsche Aidshilfe unter dem Titel „Let’s talk about Sex“ Kommunikationsworkshops zur  Sexualanamnese rund um HIV und Geschlechtskrankheiten an  im März 2019 erstmals auch außerhalb Deutschlands.

Von Mirja Leibnitz und Steffen Taubert

Sexualanamnese heißt auf Englisch „Sexual history taking“ – das Wort zeichnet ein plastisches Bild der ärztlichen Aufgabe, bei Bedarf die Geschichte der gelebten Sexualität von Patient_innen zu erheben.

Gespräche über Sexualität sind oft schambesetzt – auch für Ärzt_innen

Dies ist für viele nicht einfach, da Gespräche über Sexualität oft schambesetzt sind. Deshalb verwundert es nicht, dass Sexualanamnese in den Curricula der medizinischen Fakultäten kaum  zu finden ist – von einer LGBTIQ*-inklusiven, auf HIV und sexuell übertragene Infektionen (englisch: sexually transmitted infections, STIs) fokussierenden Sexualanamnese ganz zu schweigen.

Diese Lücke, von Medizinstudierenden schmerzhaft gespürt, versucht die Deutsche Aidshilfe mit ihrem Weiterbildungsmodul „Let’s talk about Sex: HIV/STI-Prävention und Beratung in der ärztlichen Praxis“ zumindest ansatzweise zu füllen.

Seit mehreren Jahren bereits vermittelt ein Team aus Ärzt_innen, Psycholog_innen und speziell ausgebildeten Trainer_innen Medizinstudierenden im Rahmen von Kommunikationsworkshops Wissen und bietet einen Ort für die Auseinandersetzung mit Themen wie sexuelle Orientierung, sexuelle Identität, Sexualpraktiken, HIV und andere STIs.

Rollenspiele ermöglichen in diesen Workshops das Hereinschlüpfen in die Sicht- und Erlebensweisen von Patient_innen und Ärzt_innen. Das ermöglicht den Teilnehmer_innen neben dem Erlernen neuer Kommunikations-Fertigkeiten auch eine Stärkung der eigenen Empathie und den Aufbau von Verständnis für die Lebensrealitäten der Patient_innen.

Let’s talk about Sex: für schwedische Medizinstudierende Pflicht, in Japan und Süd-Korea kaum vorstellbar

Der Großteil der Medizinstudierenden in Deutschland nimmt das Angebot mit offenen Armen an und wünscht sich mehr Sexualanamnese im Studium – das geht aus Umfragen sowie Rückmeldungen aus unseren Workshops klar hervor.

Auf Englisch und für ein internationales Publikum aber wurde unser Ausbildungsmodul noch nie durchgeführt. Somit standen wir – Projektleiter Steffen Taubert, Projektmitarbeiterin Mirja Leibnitz und Medizinstudent Sebastian Albers, der als Trainer für uns arbeitet – an einem Sonntagmorgen um 9 Uhr etwas nervös in einem Kongresshotel in Portorož an der slowenischen Adriaküste vor mehr als einhundert Medizinstudierenden aus 53 Ländern – von Ägypten über Hongkong, Trinidad & Tobago bis nach Zypern.

Schulung zu HIV/STI-spezifischer Sexualanamnese funktioniert über Grenzen hinweg

Draußen schien die Sonne über einem endlos blauen Meer, und wir fragten uns, ob eine Schulung zu HIV/STI-spezifischer Sexualanamnese auch über so viele Grenzen hinweg und nicht in der Muttersprache geführt funktionieren kann.

Um es vorwegzunehmen: Es kann funktionieren. Und zwar sogar ausgezeichnet. Und auch mit einer sehr heterogenen Gruppe mit unterschiedlichen Vorkenntnissen, mit Medizinstudierenden, die aus so unterschiedlichen Ländern wie den Niederlanden oder dem Libanon kommen.

Ein Studierender berichtete, dass die Sexualanamnese in seinem Heimatland Schweden bereits im Vorklinikum in einem einmonatigen Pflichtmodul gelehrt werde, während Studierende aus Südkorea und Japan von den soziokulturellen Hindernisse in ihren Ländern erzählten, überhaupt über Sexualität zu sprechen.

Konsens bestand länderübergreifend darin, dass  „Ärzt_innen so viel verpassen [können], wenn sie nicht offen auf Patient_innenen zugehen können“ (Zitat aus der Evaluation).

Von Empathie und korrektem Sprachgebrauch

Vielleicht waren die Teilnehmer_innen in Slowenien nicht immer repräsentativ für die Mehrheit der Medizinstudierenden in ihren jeweiligen Herkunftsländern, waren sie doch schätzungsweise zwischen 19 und 22 Jahren alt, engagiert im Themenfeld Sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte (Sexual and Reproductive Health and Rights, SRHR), an Themen rund um HIV und Aids interessiert und wohl auch gerade deshalb offen für und neugierig auf unsere Themen und das Üben einer Sexualanamnese, die tiefer greift, als „nur“ die korrekte Sprache gegenüber den Patient_innen zu verwenden, so wichtig das auch ist.

Aus den korrekten Sprachgebrauch legten die Veranstalter_innen großen Wert – ungeachtet dessen, ob die Konzepte dahinter den Teilnehmenden eigentlich klar waren. Manchmal aber hatten wir den Eindruck, dass die jungen Teilnehmenden zwar sehr fit im politisch korrekten Sprachgebrauch waren, aber gleichzeitig sehr unsicher, wenn es darum ging, sich in die Lebenswelt einer Person mit einer anderen sexuellen Orientierung einzufühlen und eine empathische Sexualanamnese umzusetzen. Hier waren unsere Rollenspiele natürlich Gold wert.

„Das Wichtigste, das ich gelernt habe: Sexualpraktiken und Sexualpartner_innen von Patient_innen nicht zu beurteilen“

Und so nehmen wir nach Deutschland das schöne Gefühl mit, dass wir (angehende) Ärzt_innen und Ärzte auch jenseits der deutschen Sprache und dem deutschen Kontext dabei unterstützen können, zu lernen, offen auf Patient_innen zuzugehen.

Der Familienvater, der Sex mit Männern hat und nun eine HIV-Infektion fürchtet, die akute HIV-Infektion eines Cis-Mannes nach Sexualkontakt mit einer trans* Frau, die Studentin, die nach ungeschütztem Anal- und Vaginalverkehr ihre Ärzt_in aufsucht – all dies sind Situationen, die von Medizinstudierenden in der ganzen Welt verstanden werden und mit denen sie alle einmal konfrontiert werden können.

In Gesprächen und ausführlichen Kommentaren auf den Evaluationsbögen bestätigten die Teilnehmenden uns auch darin, Raum zu bieten für Nachfragen und Diskussionen – zur HIV-Prophylaxe PrEP, zum Heimtest, zur Partner_innenbenachrichtigung bei einer HIV- oder STI-Diagnose, zum Leben mit HIV in Deutschland und zur Kriminalisierung der HIV-Übertragung.

Zwei Kommentare haben unsere Herzen besonders erwärmt: Die Medizinstudentin aus dem Libanon, die bei der „After-Work“-Party am Abend zu uns trat und sich für die Möglichkeit bedankte, endlich einmal etwas über die so wichtige Sexualanamnese gelernt zu haben – die in ihrem Land an der Universität nicht gelehrt wird. Und der folgende Kommentar auf einem der vielen Evaluationsbögen: „Das Wichtigste, das ich heute gelernt habe: Sexualpraktiken und Sexualpartner_innen von Patient_innen nicht zu beurteilen.“

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