Meilenstein in Sachen Drogenpolitik
Vor 25 Jahren wurden in Nordrhein-Westfalen unbürokratisch und mit ministerialer Unterstützung die ersten 25 Spritzenautomaten aufgestellt. Mit einem Festakt und einem Fachtag wird das bis heute bundesweit größte Spritzenautomatenprojekt nun gefeiert. Ein Kalenderblatt von Axel Schock
Bisweilen können Behörden bewundernswert lernfähig und pragmatisch sein. Und doch war der Runderlass VA 2-0392.11 des nordrhein-westfälischen Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales vom 21. Juli 1988 zudem auch eine wegweisende und mutige Entscheidung. Um dessen Tragweite zu erkennen, muss man sich die Situation zurückrufen, in der sich die Drogenkonsumenten Mitte der achtziger Jahre befanden.
Begriffe wie Safer Use und Harm Reduction gab es noch nicht, geschweige denn ein breit verankertes Bewusstsein für die Vermeidung gesundheitlicher Risiken beim intravenösen Drogengebrauch. Junkies hatten so gut wie keine Chance, auf legalem Weg an neue Einmalspritzen und Kanülen zu kommen. Schon der Besitz dieser Utensilien genügte bisweilen für eine Verhaftung. Für viele gab es nur eine Möglichkeit: Sie mussten sich Spritzen beim nächsten Arztbesuch klauen. Denn Apotheken wollten sie ihnen nicht verkaufen, aus Angst, sich damit strafbar zu machen.
Selbst in Apotheken waren Einmalspritzen nicht zu bekommen
Dass durch die gemeinsame Benutzung bereits gebrauchter Spritzen Infektionskrankheiten verbreitet werden, wurde von der Justiz und den Behörden billigend in Kauf genommen. Erst mit der Aidskrise begann langsam ein Umdenken. Bereits Ende 1985 hatte, wie es in einem Schreiben an einen Staatsanwalt heißt, das nordrhein-westfälische Gesundheitsministerium mit dem Justizminsterium „dahingehend Einigkeit erzielt, dass die Abgabe von Einmalspritzen zwar den Beihilfetatbestand erfülle, dennoch aber keine strafbare Handlung darstellt“.
Drogenberatungsstellen in NRW waren nunmehr in der Lage, den Konsumenten auf deren Wunsch hin Injektionsbestecke auszugeben, ohne sich damit strafbar zu machen. Aber nicht alle, die sich Drogen spritzten, wagten den Weg in eine solche Einrichtung – abgesehen davon, dass man es insbesondere im ländlichen Bereich mit Versorgungslücken im Drogenhilfesystem wie auch im Apothekennotdienst zu tun hatte.
Anonym und rund um die Uhr zugänglich
Die Lösung waren Spritzenautomaten. Sie sind rund um die Uhr zugänglich und können anonym und diskret aufgesucht werden. An den Automaten können nicht nur Einweg-Spritzen gezogen, sondern auch gebrauchte entsorgt werden. Die aus Dänemark stammende Idee war einleuchtend und zugleich ein Tabubruch – mit gewissem Restrisiko.
„Uns allen war klar, dass man das Thema HIV-Infektionen unter Drogengebrauchern nur durch das Angebot steriler Spritzen in den Griff bekommen konnte. Wir wollten aber nicht warten, bis alle juristischen Feinheiten abgeklärt sind, inwieweit Spritzen an öffentlichen Orten angeboten werden dürfen. Manchmal muss man eben etwas couragiert zu Werke gehen“, erzählt Edwin Scholz, Mitbegründer der AIDS-Hilfe Ahlen und damals Leiter der Drogenberatungsstelle in Warendorf.
Als eigentliche Hürde wurden nicht etwa mögliche Kämpfe mit der Stadtverwaltung, sondern die technische Umsetzung betrachtet. Und die war genommen, als man einen Tabakwarenhersteller gefunden hatte, der bereit war, einen Zigarettenautomaten für die besonderen Bedürfnisse umzurüsten. 1988 konnte das Gerät ohne großes Aufsehen an die Hauswand der Drogenberatungsstelle geschraubt werden. Die Stadtverwaltung hatte man vorsorglich erst einmal nicht davon in Kenntnis gesetzt. Probleme aber, sagt Scholz, habe es deswegen nie gegeben.
Aus einem Zigaretten- wird ein Spritzenautomat
Einige Monate später war diese Aktion im Nachhinein gewissermaßen legalisiert. Denn Nordrhein-Westfalen nahm in Sachen Spritzenaustausch nunmehr eine Vorreiterrolle ein.
Die AIDS-Enquêtekommission des Deutschen Bundestages war in ihrem Zwischenbericht „Gefahren von AIDS und wirksame Wege zu ihrer Eindämmung“ vom Juni 1988 „mehrheitlich zu dem Schluss“ gekommen, „dass zur Vermeidung weiterer HIV-Infektionen die mit dem Spritzenaustauschprogrammen verbundenen Bedenken in Kauf genommen werden können“.
Mit diesem schlagkräftigen Argument wischte Detlef Affeld, Abteilungsleiter im Gesundheitsministerium in Nordrhein-Westfalen, alle Widerstände vom Tisch. 1989 wurden, mit tatkräftiger Unterstützung der AIDS-Hilfe in NRW und verschiedensten Kooperationspartnern auf kommunaler und regionaler Ebene, 25 Spritzenautomaten in zwölf Städten in engerer Umgebung der jeweiligen Drogenszene aufgestellt. „Die Wahl der Placierung ist sorgfältig anzugehen, um das gesundheitspolitisch gebotene Vorhaben nicht durch emotional verständliche, aber der Sache schädliche Einsprüche unnötig zu belasten“, empfahl Affeld.
Auch gegenüber der Polizei, die bislang Spritzen zur Beweissicherung beschlagnahmte, galt es Verständnis für das Spritzenprojekt zu schaffen. Entgegen „der landläufigen Meinung“ seien „Opiatabhängige … willens und in der Lage … einen entscheidenden Beitrag zur HIV-Infektionsprophylaxe zuleisten“, klärte Dr. Werner Ruckriegel, Staatssekretär des Innenministeriums, in einem Schreiben die Polizeibehörden des Landes auf. Durch die umfassende Verbesserung der Versorgungsstruktur mit sterilem Injektionsbestecken würde eine notwendige Grundlage dafür geschaffen.
Unterstützung durch Presse und Bevölkerung
Wie in Ahlen ging auch in vielen anderen Städten der Region die Installation der Spritzenautomaten ohne Probleme über die Bühne. Presse, Bevölkerung und Kommunen hätten das Projekt zumeist sogar mit großem Wohlwollen und Verständnis begleitet, erinnert sich Scholz. Anders in Dortmund. Dort wurde der Automat von der Staatsanwaltschaft beschlagnahmt und gegen die Drogenberatungsstelle ein Strafverfahren eingeleitet.
25 Jahre danach sind in Deutschland rund 170 Spritzenautomaten zwischen Bremen und München zu finden. Allein in Nordrhein-Westfahlen sind aktuell dank des Engagements von rund 60 regionalen Organisationen über 100 Geräte in Betrieb. Etwa eine Viertelmillion Spritzen werden dort pro Jahr umgesetzt. Allerdings gibt es in Rheinland-Pfalz und den neuen Bundesländern noch keinen einzigen Automaten.
Der erste Spritzenautomat in NRW tat übrigens bis 2002 seine Dienst und wurde durch ein neues, serienmäßig gefertigtes Modell der Aidshilfe ersetzt. Das Exemplar Marke Eigenbau hängt heute als Museumsstück im Eingangsbereich der Drogenberatung Ahlen.
Weitere Informationen zum Spritzenprogramm in NRW unter saferuse-nrw.de
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