Medikamentenversorgung

Notapotheke

Von Axel Schock
Foto: © Life4me+
Als im Frühjahr die Corona-Pandemie den internationalen Reiseverkehr zum Erliegen brachte, hatten dadurch weltweit Menschen mit HIV enorme Probleme an ihre notwendigen Medikamente zu gelangen. Gestrandeten Tourist_innen und Arbeitsmigrant_innen konnte zum Teil unbürokratisch geholfen werden. Die strukturellen Probleme, die sich dabei offenbarten, bestehen jedoch weiter.

Mit einem Male schien die Welt stillzustehen. Als im März im Zuge der Coronakrise immer mehr Grenzen geschlossen wurden, kam nicht nur der Reiseverkehr zum Erliegen, auch der Warenverkehr war massiv beeinträchtigt. Niemand wusste, wie lange diese Ausnahmesituation andauern würde. Vielen Nichtregierungsorganisationen aber war recht schnell klar: Die Unterbrechung der Lieferketten würde auch Medikamente betreffen.

Menschen, die sich im Ausland befanden, drohte ihr Medikamentenvorrat nicht auszureichen

Die international agierende Schweizer Organisation Life4me+, die sich der Bekämpfung von HIV, Hepatitis C und Tuberkulose widmet, hatte deshalb sehr schnell reagiert. „Wir vermuteten, dass es in Ländern wie Belarus, Ukraine und Kasachstan aufgrund der zu erwartenden Lieferprobleme zu Medikamentenengpässen komme würde“, erzählt Dr. Alex Schneider, Vorstandvorsitzender von Life4me+.

Doch überraschenderweise kamen vermehrt ganz andere Hilferufe, nämlich von Reisenden: Urlauber_innen, die auf ihrem Trip durch Australien plötzlich feststeckten, oder Geschäftsleute, deren Rückflug storniert worden war und deren Medikamentenvorrat für diese ungeplante Verlängerung ihres Auslandsaufenthalts nicht reichte.

Rückholaktionen, wie sie etwa die Bundesregierung für deutsche Staatsbürger_innen einleitete, waren eher eine Ausnahme und nicht die Regel. Viele der Menschen, die nun unerwartet im Ausland festsaßen, waren schlicht auf sich allein gestellt.

Die Botschaften der Herkunftsländer waren zumeist keine Hilfe

Von deren Botschaften war zumeist keinerlei Hilfe zu erwarten, wie Alex Schneider und sein Team erfahren mussten. Dafür erwiesen sich beispielsweise in Thailand oder Ägypten das Rote Kreuz und HIV-Organisationen als hilfreiche Kooperationspartner, um auf unbürokratischem Weg die dringend benötigten HIV-Medikamente zu besorgen.

Ganz anders hingegen in Europa. „Sobald eine Krankenversicherung eine Rolle spielt, wird es schwierig“, erzählt Alex Schneider. Vom Deutschen Roten Kreuz hätte er für die Hilfesuchenden durchaus Kleidung bekommen können, aber keine Arzneimittel.

Umso wichtiger war die enge Zusammenarbeit mit den Aidshilfen in Deutschland. An diese hatten sich in vielen Städten auch Menschen direkt gewandt. Rufin Kendall, in der Aidshilfe Düsseldorf zuständig für die Beratung von Migrant_innen, hatten gleich eine ganze Reihe Anfragen erreicht.

So hatte sich beispielsweise ein Mann aus Aserbaidschan an ihn gewandt, der sich beruflich für kurze Zeit in Deutschland aufhielt. Die mitgebrachten HIV-Medikamente drohten während des Shutdowns zur Neige zu gehen, doch es war ihm immerhin noch gelungen, rechtzeitig eine Lieferung aus seiner Heimat auf den Weg zu bringen.
Allerdings erreichte diese dringend erwartete Postsendung den Adressaten nicht – das Päckchen wurde vom deutschen Zoll abgefangen.

Der private Import von Medikamenten aus Nicht-EU-Staaten ist nur mit Ausnahmegenehmigung möglich

Ein privater Import von Medikamenten aus Nicht-EU-Staaten ist nur mit einer Ausnahmegenehmigung möglich. Ein schier unmögliches Unterfangen, wie Johanna Schneider erfahren musste. „Die Chancen auf einen Sechser im Lotto sind größer“, kommentiert die Betreuerin der Aidshilfe München ernüchtert.

Bei Einreise darf eine Person nur Medikamente für den Eigenbedarf für maximal drei Monate mitführen

Sie hatte versucht, einem Sprachschüler aus Brasilien aus seiner Notlage zu helfen. Zuvor hatte er schon viel auf sich nehmen müssen, um an seine HIV-Medikamente zu gelangen. Denn bei einer Einreise dürfen nur Arzneimittel mitgeführt werden, deren Notwendigkeit durch ein Attest mit eindeutiger Indikation belegt ist und die den Bedarf für von maximal drei Monaten decken.

Als der reguläre Heimflug zu Beginn des Shutdowns gecancelt wurde, schickte die Mutter des Sprachschülers die HIV-Medikamente per Post – gut versteckt in einem Kleidungsstück. Bei der nächsten Sendung allerdings klappte der Trick nicht mehr. Der Zoll fing das Paket ab und vernichtete den Inhalt.

Johanna Schneiders Intervention bei den deutschen Behörden blieb erfolglos. Solche kreativen Versandlösungen seien ein klarer Verstoß gegen die Zollbestimmungen und letztlich ein Straftatbestand.

Kein Versicherungsschutz und Stigmaerfahrungen

Doch nicht nur Tourist_innen und Studierende wie dieser Sprachschüler sahen sich der Gefahr ausgesetzt, ihre Therapie unterbrechen zu müssen. Auch viele Arbeitsmigrant_innen, insbesondere in Europa, waren davon betroffen.

Life4me+ hatte diese Personengruppe zunächst gar nicht im Blick und war dementsprechend überrascht über die vielen Anfragen, die das Büro im schweizerischen Lenzburg erreichten. Die Anfragen kamen aus Deutschland, Italien, Polen oder aus der Schweiz – und offenbarten Angst vor Stigma, Ausbeutung und fehlendes Wissen über das Gesundheitssystem im Gastgeberland.

So musste Alex Schneider immer wieder die Erfahrung machen, dass Arbeitsmigrant_innen keinen Versicherungsschutz hatten, weil sie inoffiziell im Gastland lebten oder von ihren Arbeitgebern nicht sozialversichert wurden.

Doch selbst wenn die Menschen krankenversichert sind und sich als EU-Bürger_innen problemlos bei einer Ärztin_einem Arzt in Deutschland behandeln lassen könnten, wählen viele den kostspieligen und aufwendigen Weg und besorgen sich die HIV-Medikamente in der Heimat.

Das betraf, so Alex Schneider, besonders Menschen aus Mazedonien, Russland oder auch aus der Ukraine. „In ihrem Heimatland müssen sie sogenannte ‚Aids-Center‘ aufsuchen. Allein schon durch diese Bezeichnung werden die Menschen mit HIV stigmatisiert“, erklärt Schneider.

Es sei daher nur verständlich, dass sie mit ihrer Migration ein neues Leben beginnen und dieses Stigma nicht in das neue Land mitschleppen möchten. Sie wissen aber meist nicht, dass das Gesundheitssystem in Deutschland glücklicherweise etwas anders funktioniert. Dass beispielsweise in HIV-Schwerpunktpraxen auch Menschen mit ganz anderen Krankheitsbildern behandelt werden und man nicht Angst haben muss, bei der Apotheke bloßgestellt zu werden, wenn man dort HIV-Medikamente abholt.

Angst vor Stigmatisierung und Jobverlust

Und noch eine Beobachtung machte Alex Schneider. Viele Arbeitsmigrant_innen in Deutschland, Polen und der Schweiz sind im Pflegebereich beschäftigt – und haben daher Angst, dass sie bei Bekanntwerden ihrer HIV-Infektion ihre Stelle verlieren.

Auch Johanna Schneider hatte vergleichbare Fälle und erzählt von einem türkischstämmigen Mann, der regelmäßig in sein Heimatland zurückflog, um dort die Medikamente zu besorgen. Er hatte für die Beratung in seiner Notlage sogar eine längere Reise nach München auf sich genommen, weil er sich in seinem deutschen Wohnort nicht getraut hatte, eine Aidshilfe oder einen Arzt aufzusuchen – aus Angst, erkannt und gebrandmarkt zu werden.

Idealerweise über das hiesige Gesundheitssystem in der jeweiligen Erstsprache informieren

Das fehlende Vertrauen aufgrund der schlechten Erfahrungen in der Heimat ist nachvollziehbar. Umso wichtiger wären daher Projekte, die jene Menschen idealerweise in ihrer Muttersprache erreichen, um sie über das hiesige Gesundheitssystem zu informieren – am besten bereits im Herkunftsland.

Wichtige Ansprechparter_innen, weiß Alex Schneider durch seine Erfahrungen während der schwierigen Wochen zu Beginn der Coronakrise, sind die behandelnden Ärzt_innen im Heimatort.

„Als wir mit einem HIV-Mediziner in Kiew telefonierten, um die Situation eines Mannes zu klären, der in Polen arbeitet, wusste er gleich von einer ganzen Reihe weiterer Patienten, die sich in ähnlicher Lage befinden“, berichtet Alex Schneider.

Bürokratische Hürden erschweren die Versorgung mit Medikamenten

Doch auch EU-Bürger_innen, die in ihrer Heimat versichert sind, müssen mitunter langwierige bürokratische Hürden überwinden, um in Deutschland ein Rezept einlösen zu können. „Apotheken dürfen Medikamente nur dann abgeben, wenn eine gültige Verschreibung vorliegt. Und damit beginnen dann meist schon die Probleme“, erklärt Erik Tenberken, Inhaber der Kölner Birken-Apotheke und Mitbegründer der Deutschen Arbeitsgemeinschaft HIV und Hepatitis kompetenter Apotheken“.

Meist müssen Patient_innen die Kosten für die Medikamente vorstrecken

Rezepte aus EU-Staaten sind zwar in allen Ländern der europäischen Union gültig, die Apotheken müssen aber in der Regel noch klären, wer die Kosten für die Medikamente übernimmt. Bei Rezepten aus Nicht-EU-Ländern bleibt lediglich die Möglichkeit, dass eine HIV-Praxis ein Privatrezept für die erforderlichen Medikamente ausschreibt.

Die betroffenen Patient_innen müssen die Kosten dann vorstrecken und sich diese dann von ihrer Krankenkasse im Heimatland erstatten lassen. „Doch nicht für allen Patienten ist eine solche Vorauszahlung finanziell möglich“, sagt Tenberken. Er hat in solchen Fällen auch schon das Sozialamt um Unterstützung gebeten. „Jeder Fall ist anders und erfordert von der Apotheke Einsatz und manchmal auch Kreativität – auch in medizinischer Hinsicht. Etwa, wenn für veraltete Therapien, die in anderen Ländern noch Standard sind, passende Medikamente beschafft werden müssen.“

Erik Tenberke empfiehlt daher, sich bei solch komplizierteren Fällen an eine Schwerpunkt-Apotheke zu wenden, die in der Regel mit der Problematik bereits vertraut ist: „Wir haben eigentlich fast immer eine Lösung gefunden.“

Schnelle und unkomplizierte Hilfe ist gefragt

Doch bei jeder_jedem der in Not geratenen HIV-Patient_innen ist das Problem ein wenig anders gelagert und es sind ganz individuelle Schwierigkeiten zu überwinden. Das Schweizer Team von Alex Schneider war deshalb in der Hochphase der Coronakrise, als täglich Dutzende Anfragen ankamen, im Dauereinsatz.

Mal genügte es, als Sprachmittler_in zu dienen, weil ein osteuropäischer Arbeiter in Italien die Sprache dort nicht so gut spricht, um medizinische Details mit der HIV-Praxis vor Ort besprechen oder den Versicherungsschutz abklären zu können. In anderen Fällen mussten hochkomplexe logistischste Probleme gelöst werden. Beispielsweise, um einem LKW-Fahrer, der faktisch unentwegt quer durch Europa unterwegs ist, auf seiner Strecke die Notlieferung übergeben zu können.

Hürden durch bürokratische Vorgaben

Doch wie überhaupt an die benötigen Medikamente gelangen? Life4me+ versuchte den naheliegenden Weg und bat Pharmafirmen um direkte Unterstützung. Dort stieß man zumindest theoretisch auf Wohlwohlen, doch den Unternehmen waren durch Vorschriften und bürokratische Vorgaben die Hände gebunden.

Weder waren Geldspenden zum Medikamentenkauf, noch eine größere Lieferung der Arzneimittel selbst möglich, denn Life4me+ ist keine medizinische Einrichtung. Einzelfallhilfen, also der Versand von Medikamenten für eine_n bestimmte_n Patientin_Patienten an eine Praxis, waren wegen des bürokratischen Aufwands nicht realisierbar.

Medikamentenspenden der WHO

Die Weltgesundheitsorganisation hingegen zeigte sich kooperativer und stellte Medikament aus deren Depots zur Verfügung. So konnte etwa von Life4me+ in Zusammenarbeit mit der Hamburger Aidshilfe und einer Schwerpunktpraxis eine aus der Ukraine stammende Frau versorgt werden.

Ohnehin war in Deutschland die Unterstützung durch HIV-Schwerpunktpraxen und HIV-Kliniken von großer Bedeutung, haben diese doch immer wieder ganz unbürokratisch mit Medikamenten aus dem eigenen Vorrat ausgeholfen.

Schwieriger war es, Medikamente für veraltete Therapien zu bekommen, wie sie in einigen Nicht-EU-Ländern noch zum Einsatz kommen. „In solchen Fällen mussten wir Medikamente mit Spendengeldern bei Apotheken kaufen. Die betroffene Arbeitsmigrant_innen hätten sie sich selbst meist nicht leisten können“, berichtet Alex Schneider. Zuvor hatte man Kontakt zu den behandelnden Ärzt_innen im Heimatland aufgenommen, ob ein Wechsel der Therapie möglich ist bzw. in der Heimat auch fortgeführt werden könnte.

Zwar haben entsprechende Anfragen bei Aidshilfen und Organisationen wie Life4me+ deutlich abgenommen, seit sich die Corona-Lage entspannt hat und Reisen wieder möglich wurde. Doch die strukturellen Probleme, die zu den Medikamentenengpässen führten, bestehen weiter.

Politische Lösungen gefragt

„HIV-Medikamente stehen beim deutschen Zoll nicht auf der Liste der lebensnotwendigen Arzneimittel.“

„Es muss eine politische Lösung gefunden, um zumindest in Ausnahmefällen Menschen, die sich beruflich oder als Tourist im europäischen Ausland aufhalten, den Import von Medikamenten zu erlauben“, fordert daher Rufin Kendall. Johanna Schneider von der Münchner Aids-Hilfe weist auf zwei weitere wichtige Aspekte hin.

„HIV-Medikamente stehen in Deutschland nicht auf der Liste der lebensnotwendigen Arzneimittel.“ Hier müssten die Zollvorschriften dringend ergänzt werden. Und auch unabhängig von Ausnahmesituation wie dem Corona-bedingten Shutdown haben ausländische HIV-Patient_innen, die sich vorübergehend oder längerfristig in Deutschland aufhalten, Schwierigkeiten ihre Medikamente zu beziehen.

Zum Beispiel Studierende über 30 Jahre, die im Gastland keine gesetzliche Krankenversicherung mehr abschließen können. Auslandsversicherungen im Heimatland decken – gegen entsprechend höhere Beiträge – zwar chronische Erkrankungen ab, HIV ist aber meist ausgeschlossen. In solchen Fällen wäre es also wichtig, dass Medikamente auch für einen längerfristigen Bedarf bei der Einreise mitgebracht oder auch verschickt werden dürfen.

Zusammenarbeit der Staaten dringend erforderlich

Auch für die Abrechnung zwischen deutschen Krankenpassen und den Gesundheitssystemen der EU-Herkunftsländer ist eine einheitliche und vereinfachte Lösung dringend erforderlich.

Nicht zuletzt könnte durch eine Notfall-Medikamentenreserve schnell und unbürokratisch geholfen werden. Verwaltet werden könnte dieser von den Pharmafirmen gestiftete Vorrat treuhänderisch von Apotheken, weil diese auch die Möglichkeit haben, Medikamente direkt an die bedürftigen Patienten_innen zu verschicken.

Eine ähnliche Idee wie Johanna Schneider schwebt auch Alex Schneider von Life4me+ vor, und zwar nicht nur bezüglich Medikamente zur Behandlung von HIV, sondern auch anderer chronischer Krankheiten wie etwa Hepatitis.

Alex Schneider hat mittlerweile die Erfahrungen seiner Organisation aus den zurückliegenden Monaten in einem Bericht für die WHO zusammengefasst. Im nächsten Schritte möchte er Vertreter_innen von UNAIDS, Pharmaunternehmen und weiteren Akteur_innen aus den verschiedenen europäischen Ländern an einen Tisch zusammenbringen, um gemeinsam nach internationalen Lösungsmöglichkeiten zu suchen.

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