„Respekt vor den Möglichkeiten des Einzelnen ist in der Drogenarbeit elementar“
Karl, welche Erfahrungen hast du in der Bildungsarbeit in punkto „akzeptierende Haltung“ gemacht?
Für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im betreuten Wohnen hat die DAH im letzten Jahr ein neues Seminarangebot mit dem Titel „HIV und Psyche: Betreuung von Menschen mit chronischer Substanzabhängigkeit“ geschaffen. Vermittelt werden soll ein tieferes Verständnis der Zusammenhänge zwischen seelischer Erkrankung und Drogengebrauch – das ist für eine kompetente Begleitung von Langzeitkonsumenten unerlässlich. Und bereits beim ersten Seminar hat sich gezeigt, wie tief das „Introjekt“ der Abstinenzorientierung sowohl bei Trainern als auch Teilnehmern verankert ist.
Kannst du bitte den Begriff „Introjekt“ kurz erklären?
Unter „Introjektion“ versteht man verinnerlichte Werte und Normen. Im Laufe unserer Sozialisation, also dem Aufwachsen in der Gesellschaft, übernehmen wir die dort vorherrschenden Moral- und Wertvorstellungen quasi automatisch. Oft werden sie dann als die eigenen angesehen und nicht weiter hinterfragt. Im Fall der Drogenarbeit heißt das, dass auch manche Betreuer die Vorstellung, Drogenkonsum sei moralisch fragwürdig und müsse daher überwunden werden, einfach übernehmen. Zumindest Abhängige sollten ihrer Ansicht nach jeden Versuch unternehmen, abstinent zu werden, weil nur Abstinente in der Lage seien, ein gesundes und glückliches Leben zu führen.
Wie wirkt sich das gesellschaftliche „Abstinenzparadigma“ auf die Drogenkonsumenten aus?
Es macht sie erst mal zu Außenseitern. Bei anderen Süchten, z. B. nach Arbeit oder Fernsehen, sieht das anders aus: Sie sind mehr akzeptiert und werden eher verharmlost – Abstinenz wird da nicht verlangt. Es gibt also einen Unterschied in der Bewertung von Süchten, und Drogenkonsumenten landen oft auf dem letzten Platz.
Der völlige Verzicht auf Substanzen ist ja kein dummes Konzept: Für manche funktioniert es, und bei bestimmten Substanzen mag es auch wirklich sinnvoll sein. Das Problem ist nur, dass Abstinenz nicht für alle Menschen gleichermaßen gelten kann und nicht für alle erreichbar ist. Ob sie möglich ist, hängt immer ab von der einzelnen Person, ihrer Lebenssituation und der Bedeutung, die die jeweilige Substanz für sie hat.
Wie setzt man diese Sichtweise in der Drogenarbeit um?
Zu Beginn werden mit den Klientinnen und Klienten Ziele vereinbart, die sie erreichen möchten – und diese müssen für sie passen, also realistisch sein. Wenn sich hier eine unbewusste Abstinenzorientierung einschleicht, können falsche, weil nicht erreichbare oder vom Klienten gar nicht angestrebte Ziele gesteckt werden. Oft ist der völlige Verzicht auf Drogen zunächst auch gar nicht möglich. Im Vordergrund können ganz andere Dinge stehen, wie etwa die Verbesserung der Lebenssituation, das Erreichen von Stabilität, Zufriedenheit oder der Fähigkeit, zu arbeiten oder sich um ein Kind zu kümmern. Irgendwann einmal kann auch Abstinenz ein Ziel sein, aber es darf und kann nicht zu Beginn Einfluss nehmen. Damit würde man den Menschen nicht gerecht werden. Ich bin der Meinung, dass der Respekt vor jeder Person und ihren individuellen Möglichkeiten in der Drogenarbeit elementar ist.
Was heißt das für die Betreuung und Beratung?
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollten die Dynamik von Sucht kennen und wissen, wie sich Sucht und Psyche gegenseitig beeinflussen. Folglich sollten sie erkennen können, in welchen Fällen und wann der Weg zur Abstinenz gangbar ist. Bei Menschen, die diesen Weg voraussichtlich nicht schaffen werden, braucht es andere Ansätze. Zum Beispiel muss geschaut werden, ob ein Drogenkonsum erreicht werden kann, der sie so wenig wie möglich schädigt. In der modernen Suchttherapie kommen diese Ansätze mittlerweile immer mehr zur Anwendung. So lassen sich beispielsweise immer mehr Beraterinnen und Berater zu „KISS“-Trainern ausbilden, um dann Drogengebrauchern zum Erwerb von Kompetenzen im selbstbestimmten Substanzkonsum verhelfen zu können.
Für solche Ansätze will auch das Fortbildungsangebot der DAH sensibilisieren…
Ja, denn für einen Wandel braucht es Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die ein Gespür für das jeweils Erreichbare haben und nicht automatisch Abstinenz als höchstes Gut „mitdenken“. Das ermöglicht es ihnen, angemessene Maßnahmen zu entwickeln. Manchmal kann das auch heißen, Klienten auf dem letzten Stück ihrer Suchtkarriere zu begleiten und dafür zu sorgen, dass sie nicht unter einer Brücke, sondern in einem menschenwürdigen Rahmen sterben können. Auszuhalten, dass man nichts ändern kann, ist schwer in einer Gesellschaft, die das als Scheitern und Misserfolg betrachtet. Es ist eine große Leistung, nicht wegzulaufen, sondern dem standzuhalten und dabei selbst keinen Schaden zu nehmen. Davor habe ich großen Respekt.
Was ist deiner Meinung nach hilfreich in der Arbeit mit Drogengebrauchern?
Ich persönlich finde es wichtig, dass man für diese Arbeit nicht nur Wissen, sondern auch Erfahrung mitbringt. Damit meine ich nicht eigene Erfahrungen im Drogenkonsum. Vielmehr sollten Betreuerinnen und Betreuer den Mut mitbringen, sich auf Neues einzulassen. Sie sollten – und das versuchen wir beispielsweise mit Rollenspielen in unseren Seminaren – einmal gespürt und nicht nur begriffen haben, wie es ist, schwer deprimiert zu sein, eine Borderline-Störung zu haben, auf eine Substanz angewiesen zu sein. Solche Einblicke und Erfahrungen sind nicht immer angenehm, aber sie ermöglichen es, Schicksale nachzuvollziehen. Zu verstehen, warum ein Mensch „auf Teufel komm raus“ eine Substanz braucht, ist ein erster Schritt hin zu einer wirklich akzeptierenden Drogenarbeit, die den Betreuten gerecht wird. Und genau dafür sind wir als Aidshilfe auch da.
Weiterführende Informationen:
KISS – Kompetenz im selbstbestimmten Substanzkonsum
akzept e.V. – Bundesverband für akzeptierende Drogenarbeit
JES – Bundesweites Netzwerk von Junkies, Ehemaligen und Substituierten
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