SCHWARZER STREIT

Sprecht mit uns, nicht über uns!

Von Gastbeitrag
Symbol für Prostitution
Am 14. November hat Alice Schwarzer in Berlin ihr neues Buch „Prostitution – ein deutscher Skandal“ vorgestellt – begleitet von lautstarken Protesten derjenigen, denen sie doch helfen will: Sexarbeiterinnen. Von Margarita Tsomou

Bereits vor dem Eingang der Urania wird man auf die kontroverse Stimmung vorbereitet: Ein Polizeiwagen steht vor rund dreißig Sexarbeiterinnen, Sexarbeitern und Feministinnen, die eine Spontandemo als Protest gegen die Buchvorstellung angemeldet hatten. Sie halten rote Regenschirme in die Höhe, seit 2001 das internationale Symbol für die Rechte von Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern, Schilder mit Sprüchen wie „Halt die Klappe, Alice“, sie verteilen Infomaterial und sprechen die ankommenden Gäste an: „Willst du meine Lage verbessern? Sprich mit mir, frag mich, hier bin ich!“

„Willst du meine Lage verbessern? Sprich mit mir!“

Unter den Protestierenden sind Junge wie Alte, Deutsche und Nichtdeutsche, Frauen, aber auch Männer und Transpersonen, selbstständige Dominas, Angestellte in Laufhäusern und Tantra-Masseurinnen. Jede und jeder hatte andere Motive für die Berufswahl. Eine über 50-jährige kurzhaarige Frau erklärt, dass sie sich über die Erforschung ihrer eigenen Sexualität irgendwann entschied, das dabei erlangte Wissen über Sex für Geld anzubieten und dafür den ohnehin weniger lukrativen Job der Krankenschwester aufzugeben. Eine 40-jährige Bulgarin verteilt ein Flugblatt, in dem sie über ihre Migrationsgeschichte und ihre Motive aufklärt und darum bittet, sie für ihre Berufswahl nicht zu verurteilen. Eine Dritte betreibt selbst einen Laden, spricht davon, dass die Prostitution ein „leises Gewerbe“ sei, das sie in Ruhe betreiben könne: „Ich finde es super, wenn die Frauen anrufen und sofort sagen, dass sie eine Steuernummer und einen Gesundheitstest haben. Die Abschaffung des Prostitutionsgesetzes würde mich zwingen, mit kriminellen Subjekten im Untergrund Geschäfte zu machen.“

Gegenwind für Alice Schwarzer (Foto: DAH)
Gegenwind für Alice Schwarzer (Foto: DAH)

Die eigentlichen Probleme lägen zum einen in der mangelnden Umsetzung des Gesetzes durch die Länder, zum anderen in ganz anderen Bereichen wie dem Bau- und Nutzungsflächengesetz, den immer noch angewandten Sperrgebietsregelungen oder dem Werbeverbot. „Kurzum“, sagt eine junge Frau mit einer niedlichen rosa Mütze, „geht es immer noch um Stigmatisierung. Das erschwert eine vollwertige Professionalisierung und zieht uns vor allem immer wieder psychisch runter.“

Die Menschen auf dem Podium im ausverkauften großen Saal der Urania scheinen von einer völlig anderen Welt der Prostitution zu erzählen. Der Verleger verweist auf „Grad und Ausmaß der Prostitution“ und betont, Schwarzers Intervention komme zur richtigen Zeit – das Buch bringe die momentan wachsende gesellschaftliche Stimmung gegen Sexarbeit konzentriert auf den Punkt. Man ahnt, dass es hier nicht nur um eine Buchvorstellung, sondern um ein politisches Projekt geht, mit dem Schwarzer erklärtermaßen in die laufenden Koalitionsverhandlungen hineinwirken will.

Weitere „Diskussionspartnerinnen und Diskussionspartner“ auf dem Podium sind Helmut Sporer, Kriminalhauptkommissar aus Augsburg, Emma-Redakteurin Chantal Louis, Sozialarbeiterin Sabine Constabel, die seit vielen Jahren in Stuttgart das Sozialprojekt „La Strada“ für Straßenprostituierte leitet, und Marie, eine deutsche Ex-Prostituierte, die mit schwarzer Sonnenbrille auf die Bühne gekommen ist, was symbolisch wohl Scham und Reue vermitteln soll.

In ihrer Einleitung lässt Schwarzer dann zentrale Begriffe wie „Drogen- und Straßenprostitution“, „Sextourismus“, „psychisches Elend“, „sogenannte freiwillige Prostitution“ und „Ermittlung von Straftaten“ fallen. Die Ausgangsthese ist, dass die Szene vor 2002 voller selbstbestimmter Frauen war, die ihren Beruf ganz normal ausübten. Heute jedoch, gut zehn Jahre nach Inkrafttreten des Prostitutionsgesetzes, habe sich Deutschland mit 18-jährigen Migrantinnen gefüllt, die nicht wüssten, wie man Nein sagt, und in vielerlei Hinsicht „in einer Zwangslage“ seien.

Zahlen, Zahlen, Zahlen – aber woher kommen sie?

Kriminalhauptkommissar Helmut Sporer führt als Experte aus, 90 Prozent der Frauen seien junge Migrantinnen, die als „Frischfleisch“ in die Bordelle kämen und dort zu Dumpingpreisen zu unfreiwilligem und oft ungeschütztem Sex gezwungen würden. Im Publikum wird es unruhig, es gibt Zwischenrufe wie: „Woher habt ihr die Zahlen?“, „Meinungsmache!“ „Das sind die Ausnahmen“ oder „Das ist nicht Prostitution, sondern Kriminalität!“. Aktivistinnen der Organisation Hydra versuchen, mit einem Banner die Bühne zu stürmen, und werden daraufhin aus dem Raum gedrängt und festgenommen. Schwarzer verspricht den „Kindern“ oder „netten Berliner Mädchen“, wie sie die Frauen herablassend nennt, dass sie nach der Diskussion reden dürften.

Tanja Gangarova
Tanja Gangarova meldet sich zu Wort (Foto: DAH)

Es geht weiter, wie es begann: Die Sozialarbeiterin aus Stuttgart erzählt von Zwangsprostitution der Migrantinnen, unfreiwilligen Schwangerschaften und in die Sexarbeit eingeschleusten Neugeborenen. Die ausgestiegene Prostituierte berichtet über Körperverletzungen im Beruf – trotz aller Vorsichtsmaßnahmen – und davon, in ihrer Sexualität nachhaltig beschädigt worden zu sein. Die Zwischen- und Buhrufe werden von da an während der gesamten Veranstaltung nicht mehr abbrechen.

Die Emma-Redakteurin macht die europäische Perspektive auf: Deutschland sei ein Einreiseland für Sextouristen geworden. Die europäische Frauenlobby fordere die Freierbestrafung, in Holland und Frankreich gehe die Tendenz in Richtung Illegalisierung. Schwarzer führt Schweden an, wo seit 1999 die Freier bestraft werden können – Schweden sei damit zurückgerudert ist, weil die Liberalisierung der Prostitution zuvor zu einer „Versklavung“ geführt habe. „Die Umsätze sind vergleichbar mit dem Waffen- und Drogengeschäft – wir gehen hier gegen die gesamte Sexindustrie an!“, schwingt Schwarzer sich auf.

Das Podium ist sich einig, im Saal melden sich die Gegnerinnen

Nach einer knappen Stunde „Diskussion“ einigt sich das Podium auf die Forderung nach Abschaffung des Gesetzes, nach strafrechtlicher Verfolgung von Freiern und Zuhältern, nach Wiedereinführung der gesetzlich verankerten Gesundheitskontrolle und des Weisungsrechts sowie nach Einrichtung von Ausstiegshilfen für Frauen.

Im Saal melden sich vor allem Gegnerinnen von Schwarzer zu Wort. Eine junge Frau fragt, woher ihre Zahlen kommen und warum Menschenhandel mit Prostitution vermischt wird. Eine bulgarische Sexarbeiterin versucht die Sozialarbeiterin aus Stuttgart zu widerlegen: Sie sei schon 17 Jahre in Deutschland im Beruf, und diese Migrantinnen in Zwangslage seien ihr nie begegnet. Ein körperbehinderter Mensch meldet sich zu Wort und outet sich als Sexualberater von Behinderten in der Einrichtung Sexibility, aber auch als Freier. Er erzählt von seinen Erfahrungen mit Sexarbeiterinnen, die nicht jeden nehmen und sehr wohl Nein sagen können.

Roter Schirm
Rote Schirme: seit 2001 Symbol für die Rechte von Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern (Foto: DAH)

Doch Alice Schwarzer lässt als Moderatorin das Publikum nicht ausreden. Die Rednerinnen und Redner werden wütend. Tanja Gangarova von der Deutschen AIDS-Hilfe ergreift das Wort: „Konstruktive Kommunikation kann nur dann geschehen, wenn es eine klare Trennung zwischen Menschenhandel und Prostitution gibt. Die Frauen müssen als handelnde Subjekte angesprochen werden. Die Erfahrungen aus der Präventionsarbeit zeigen, dass das Geschäft durch Verbote in einen gefährlichen Dunkelbereich gedrängt wird, was mit hohen Risiken verbunden ist.“ Schwarzer antwortet: „Ideologie sticht Realität.“

Andere erklären nochmals, dass es darum gehe, Kriminalität und Armut zu bekämpfen – und dafür gebe es Gesetze. Die Illegalisierung von Sexarbeit habe nichts damit zu tun. Eine Sozialarbeiterin merkt an, sie arbeite seit 20 Jahren mit Prostituierten in Charlottenburg und könne aus dieser Erfahrung sagen kann, dass der vom Podium dargestellte Ausschnitt der Sexarbeit sehr begrenzt und überrepräsentiert sei.

Schwarzer antwortet schließlich mit dem zentralen Argument ihrer Art von Feminismus: „Prostitution liegt wie ein schwerer Schatten zwischen Männern und Frauen. Solange wir Prostitution haben, kann es keine Gleichberichtigung geben.“ In dieser Argumentation spielen weder der Menschenhandel noch die Situation von Migrantinnen eine Rolle – ihr Kern scheint eine politisch-moralische Haltung zum entgeltlichen Tausch von Sex als Dienstleistung zu sein. Die moralische und die faktische Ebene vermischen sich. Bei ihrem Versuch, die Frauen zu schützen, kommt Schwarzer offenbar nicht ohne Generalisierungen und die moralische Ächtung der Arbeit an sich aus. „Dies ist kein objektives Panel, sondern eins, dass davon ausgeht, dass Prostitution ein Übel ist“, sagt sie und fährt fort: „Es ist nicht lange her, da glaubten die Leute nicht an eine Welt ohne Sklaverei, und doch ist dies heute selbstverständlich.“ Ein ähnlicher Kampf sei ihrer gegen die Prostitution.

Fürsorgliches Lächeln bis zum Schluss

Der Saal tobt, zum Ende springt eine Sexarbeiterin auf die Bühne und zeigt ihre Vagina und ihren Hintern: „Mein Körper gehört mir, mein Beruf gehört mir!“ Schwarzer verabschiedet sich unter lautem Applaus und Buhrufen ihrer Gegnerinnen, sodass man sie kaum noch hören kann – ihr fürsorgliches mütterliches Lächeln legt sie bis zum Ende nicht ab.

Draußen bauen die Sexarbeiterinnen den Infotisch ab und zeigen sich empört. Eine ältere Dame, die man vielleicht eher als Verkäuferin in einem Bioladen vermuten würde, sagt: „Hier wird demagogisch gegen Prostitution vorgegangen, und ich habe Angst vor dieser Entwicklung, die hier angestoßen wird. Uns gehören die Menschenrechte auch! Und wenn ich mich freiwillig entscheide für die Prostitution will ich eine Professionalisierung haben, will ich Schutz haben, aber ich will auch Respekt haben und dass ich nicht kriminalisiert und an den Rand der Gesellschaft geschoben werde. Ich habe es wirklich satt, von dieser Gesellschaft wie eine alte Dreckshure behandelt zu werden!“ Eine andere Frau erklärt, dass sie sich überhaupt nicht repräsentiert fühlt: „Es gibt Kriminalität in allen Lebensbereichen – in der Nahrungsmittelindustrie zum Beispiel –, Ausbeutung und Betrug. Aber es gibt schon Gesetze, die das regeln, die es zum Beispiel auch gegen den Menschenhandel gibt. Aber uns alle über einen Kamm zu scheren, das ist nicht richtig.“

Nachdenklich schließt eine Sexarbeiterin, die Hurenworkshops für gesundheitliche Aufklärung gibt: „Die Debatte wird so polarisiert geführt, dass wir immer die ‚Happy Hure‘ spielen müssen. Dabei gibt es in unserer Arbeit auch Probleme, wie in jeder Lohnarbeit – ich war heute in vier Bordellen im Wedding, und die Kolleginnen und Kollegen sind nicht immer an uns interessiert. Aber wenn wir über die Probleme sprechen, gibt es die Gefahr, dass wir in die gleiche Bresche schlagen wie Schwarzer. Deswegen können wir nur taktisch sprechen, die Debatte erreicht nur, dass von unseren eigentlichen Problemen abgelenkt wird.“

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