„Spritzenprojekte sind überall machbar – man muss nur wollen“
Herr Keppler, wie kam es, dass 1996 in der Justizvollzugsanstalt Vechta ein Spritzenprojekt installiert werden konnte?
Vorangetrieben habe ich das Projekt seinerzeit gemeinsam mit dem damaligen Anstaltsleiter, Herrn Krenz. Wir haben zunächst unter anderem konfiszierte Spritzen gesammelt und schlimme, durch verunreinigte Spritzen verursachte Abszesse fotografiert. Ich habe zudem versucht, anhand von Befunden solche Fälle herauszufinden, bei denen wir gesichert eine HIV-Übertragung in Haft belegen konnten. Das ganze Material haben wir an die damals zuständige niedersächsische Justizministerin Heidrun Alm-Merk geschickt, um sie auf das Problem hinzuweisen. Und sie hat dann – zu einem politisch günstigen Zeitpunkt – entschieden, dass wir hier in Vechta ein Spritzenprojekt durchführen können.
Gab es einen längeren Diskussionsprozess, um diese Bewilligung von höchster Stelle zu bekommen?
Die Ministerin war meiner Erinnerung nach recht schnell von der Sache überzeugt und hat mit ihrem politischen Know-how dafür gesorgt, dass das Projekt auch realisiert werden konnte.
Vorbild waren Projekte in Schweizer Haftanstalten
Was war dafür nötig?
Sie hat beispielsweise eine Expertenkommission zur Infektionssituation und Prophylaxe in den niedersächsischen Justizanstalten einberufen, der auch ich angehörte. Wir haben dann eine Empfehlung ausgearbeitet, auf deren Basis sie das Projekt politisch durchsetzen konnte.
Wie wurde der Spritzentauschprojekt dann konkret umgesetzt?
Als sich abzeichnete, dass es spruchreif würde, haben wir alle Beteiligten in der JVA in die Vorbereitung eingebunden und alle Mitarbeiter geschult. Mit einem kleinen Stab sind wir in die Schweiz gefahren und haben uns in zwei Haftanstalten die dort laufenden Spritzenprojekte angesehen. Danach haben wir uns für die gleiche Vergabetechnik, nämlich über Spritzenautomaten entschieden. An einem Stichtag wurde dann zusammen mit der Ministerin und vor versammelter Presse das Projekt gestartet.
Wurde das Programm gleich so angenommen, wie erhofft, oder mussten die Konsumenten erst dazu gebracht werden, ihr Verhalten zu ändern, sprich: ihre Spritzen nach Gebrauch auszutauschen?
Zunächst herrschte natürlich große Skepsis. Wir hatten die Automaten zwar an relativ diskreten Orten wie den Waschräumen untergebracht, sodass das Aufsichtspersonal nicht automatisch sehen konnte, wer sich Spritzen zieht. Andererseits hatten die Strafgefangenen die Auflage, dass sie die Spritzen in ihren Zellen in einem namentlich beschrifteten Kästchen gut sichtbar auf ihrer Spiegelkonsole aufbewahren mussten. Damit sollte verhindert werden, dass die Bediensteten bei einer Zellendurchsuchung in eine versteckte Spritze griffen. Dieses Vorgehen war anfangs sicherlich ein Knackpunkt. Zeitweilig gab es auch technische Probleme mit den Automaten. In dieser Zeit haben wir dann auf Handvergabe umgestellt, und die Gefangenen konnten sich die Spritzen beim Arzt abholen.
Hat das funktioniert?
Nein. Die Vergabezahlen sind in dieser Phase massiv eingebrochen.
„Zunächst herrschte große Skepsis“
Warum wurde die Spritzenvergabe wieder eingestellt?
Das Aus kam 2003 unmittelbar nach dem Regierungswechsel. Wie ich später erfahren habe, hatte man im nicht öffentlichen Teil der Koalitionsvereinbarungen festgehalten, dass das Projekt kassiert werden soll. Und so kam es dann auch. Kurz, nachdem Christian Wulff das Amt des niedersächsischen Ministerpräsidenten übernommen hatte, kam ein Erlass, dass das Spritzenprojekt einzustellen sei.
Gab es wenigstens eine Schonfrist?
Wir hatten genau drei Tage Zeit, um die Automaten abzubauen. Damit war das Thema erledigt. Ein paar der Spritzenautomaten hängen heute in der JVA Lichtenberg in Berlin …
… dem einzigen verblieben Spritzenprojekt im ganzen Bundesgebiet. Wie waren die Reaktionen der drogenkonsumierenden Gefangenen auf das Ende des Spritzenaustauschprogramms?
Die Gefangenen haben dies natürlich als großen Verlust empfunden. Der erwartete Aufschrei der Beteiligten blieb allerdings aus. Ein paar Gefangene haben sich zwar zusammengetan, um einen Protestbrief zu verfassen, aber diese Bemühungen verrauchten schnell. Die meisten Bediensteten, die wie ich das Projekt begleitet hatten, waren auch des dauernden Kampfes und Rechtfertigungsdrucks müde. Im Grunde ist das Projekt sang- und klanglos begraben worden.
Das Projekt ist sang- und klanglos begraben worden
Von welchen Größenordnungen sprechen wir eigentlich, wenn wir über Drogenkonsumenten in Haftanstalten wie Vechta sprechen?
Bis zu 50 Prozent aller Häftlinge konsumieren intravenös; hinzu kommen jene, die nur kiffen oder ein Alkohol- oder Tablettenproblem haben. Das heißt: Drogen sind eines der Hauptthemen im Strafvollzug.
Und Drogen sind auch immer verfügbar?
Illegale Drogen sind innerhalb der Haftanstalt natürlich knapper als draußen, aber es gelingt immer, sie über die unterschiedlichsten Kanäle einzuschmuggeln.
Woran liegt es Ihrer Ansicht nach, dass Spritzenprojekte trotz des erwiesenen präventiven Effekts politisch einen solch schweren Stand haben? Weil man damit zugeben müsste, dass es in den Haftanstalten ein Drogenproblem gibt?
In den 90er Jahren haben bayrische Anstaltsleiter tatsächlich noch öffentlich die Meinung vertreten, in ihren Gefängnissen gäbe es keine Drogen. Wer heute behauptet, er habe ein drogenfreies Gefängnis, der lügt entweder bewusst oder er ist ein Spinner, um es mal in aller Deutlichkeit zu sagen. Es gibt weltweit keine einzige drogenfreie Haftanstalt, das muss man einfach mal in dieser Härte konstatieren. Es gibt lediglich graduelle Unterschiede.
Wodurch ergeben sich die?
In einem Hochsicherheitsgefängnis wie beispielsweise Celle gibt es weniger Gefangene, eine geringere Fluktuation, weniger Besucher, weniger Ausgänge von Inhaftierten und damit auch weniger Möglichkeiten, Drogen in die Anstalt zu schmuggeln. Es gibt aber auch weniger Drogenkonsumenten unter den Häftlingen. Drogenkonsumenten sitzen schließlich selten wegen Mordes oder Raubmordes ein, sondern wegen Diebstahl- oder Drogendelikten.
Welche Bilanz ziehen Sie aus Ihrem Projekt?
Unsere Erfahrungen haben gezeigt, dass präventive Effekte, nämlich die Verhinderung von Infektionen, nur in der Gruppe derer aufgetreten sind, die dauerhaft am Spritzenprojekt teilgenommen haben. Nur die dauerhafte Teilnahme schützt. Nimmt man nur zeitweise teil, gibt es keine präventiven Effekte. Ziel muss also sein, alle zur dauerhaften Teilnahme zu bewegen. Die Vergabe muss deshalb so niedrigschwellig wie möglich vonstatten gehen, wenn man den gewünschten präventiven Effekt erreichen will. Das bedeutet, salopp formuliert, dass man eine Kiste mit Spritzen auf die Station stellen muss, aus der sich alle, die möchten, bedienen können.
„Es gibt keinen rationalen Grund gegen Spritzenprojekte“
Was müsste man tun, um Spritzenprojekte wieder auf den Weg zu bringen?
Natürlich gibt es immer wieder Menschen, die den Finger heben und darauf hinweisen, dass wir solche Spritzenprojekte benötigen. Aber wir dürfen uns nichts vormachen: Die Entscheidung, bestehende Spritzenprojekte zu beenden, kam von oben, und so können sie auch nur von der Politik wieder eingeführt werden. Dazu genügt ein Federstrich. Solche Projekte sind in jedem Gefängnis in jedem Land dieser Erde machbar, das zeigen die bisherigen Erfahrungen, auf die wir alle zurückgreifen können. Es existieren Spritzenprojekte nicht nur in der Schweiz, sondern selbst in osteuropäischen Ländern wie Kirgisistan oder Moldawien! Spanien verfügt sogar über eine Vollversorgung: Jedes Gefängnis des Landes bietet die Spritzenvergabe an, ausgenommen sind lediglich Hochsicherheitsgefängnisse und psychiatrische Abteilungen. Alle Erfahrungen zeigen: Spritzenprojekte sind immer und überall machbar, ohne dass es gravierend-negative Auswirkungen auf den Justizvollzug gibt. Es gibt keinen einzigen rationalen oder medizinischen Grund, warum man in Deutschland keine Spritzenprojekte einrichten sollte. Man muss es politisch nur wollen.
Vielen Dank für das Gespräch!
Links:
„Drogen hinter Gittern“ (Beitrag im NDR-Fernsehen vom 4.8.2013)
Spritzen in die Knäste! (Teil 1); DAH-Blog vom 11.1.2013
Spritzen in die Knäste! (Teil 2); DAH-Blog vom 14.1.2013
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3 Kommentare
Peter Wiessner 12. Dezember 2013 23:50
Klasse Beitrag!
Herzlichen Glückwunsch und großen Respekt vor Herrn Kepplers Arbeit! Zu den einführenden Worten des Beitrags fällt mir nur ein, dass unter „strengsten“ Sicherheitsvorkehrungen auch von Politikern (und sogar im Bundestag) Dogen konsumiert werden. Mit dem Unterschied allerdings, dass sich diese (wie alle in Freiheit lebende Menschen) angemessen schützen können. Es ist unerträglich, dass dies Gefangenen mit heuchlerischen Argumenten und aus parteipolitischen Erwägungen heraus vorenthalten wird.
tobias 13. Dezember 2013 22:22
anhand der hohen verunreinigungen bzw dreckigem besteck und infektionen sind saubere spritzen und konsum räumepflicht…aber die cdu verhindert den sauberen berkauf mit hilfe und auflagen , drugchecking , spritzenräume…welche erfordern das zeug selbst mit zunehmen..wie paradox ist das den?? danke an sie ! toller einsatz und artikel..ich finde bei solchen drogen muss mehr getan werden als bei cannabis….
Groooveman 16. Dezember 2013 14:11
Schön, das die Aids Hilfe im Moment vermehrt durch progressive Kampagnen auffällt. Heroin kann Leben retten, und Spritzenprojekte sind überall machbar. Die Klarheit mit der ihr an solchen Punkten mittlerweile auftretet, ist sehr begrüßenswert.