Leben mit HIV

Stillen bei nicht nachweisbarer HIV-Viruslast: Lasst die Frauen entscheiden!

Von Gastbeitrag
Beitrag Stillen
(Symbolbild)
In Ländern mit höheren Einkommen sollte man Frauen mit einer HIV-Viruslast unter der Nachweisgrenze über die Risiken und den Nutzen des Stillens informieren und sie in ihrer Entscheidung zur Frage „Stillen oder nicht?“ unterstützen, anstatt ihnen vom Stillen abzuraten.

Von Keith Alcorn*

Zu dieser Empfehlung kommen Schweizer Ärzt_innen nach einer Analyse der zur Verfügung stehenden Daten. Ihre Meinung und ihre Diskussion der Datenlage haben sie in der frei zugänglichen Zeitschrift Swiss Medical Weekly veröffentlicht.

Die Autor_innen argumentieren, es gebe keine Beweise für Übertragungen beim Stillen bei Frauen mit einer Viruslast unter der Nachweisgrenze. Es sei daher Aufgabe der Mitarbeiter_innen des Gesundheitssystems, Frauen mit HIV neutrale Informationen über die möglichen Risiken und den möglichen Nutzen des Stillens zu liefern und sie in ihrer Entscheidung, wie immer sie ausfällt, zu unterstützen.

In ärmeren Ländern wird Frauen unter HIV-Therapie das Stillen empfohlen

Frauen in ressourcenarmen Settings empfiehlt die Weltgesundheitsorganisation, eine antiretrovirale Therapie zu machen und 12 bis 24 Monate lang zu stillen. Die Leitlinie spiegelt wider, dass Stillen in ressourcenarmen Settings das Risiko der Kindersterblichkeit senkt.

Leitlinien aus Ländern mit höheren Einkommen dagegen raten Frauen mit HIV unter antiretroviraler Therapie weiterhin vom Stillen ab – mit wenigen Ausnahmen. Eine kürzlich veröffentlichte Auswertung der wissenschaftlichen Literatur hat noch einmal die offenen wissenschaftlichen Fragen hervorgehoben.

Abkehr von der ausnahmslosen Empfehlung des Stillverzichts

Eine Gruppe Schweizer Ärzt_innen hat sich nun ihren britischen Kolleg_innen angeschlossen und die Position, komplett vom Stillen abzuraten, infrage gestellt.

Zu der Gruppe gehören Spezialist_innen der Kinderheilkunde, Geburtshilfe und Gynäkologie aus den wichtigsten Schweizer Krankenhäusern, die Menschen mit HIV medizinisch versorgen.

Die Expert_innen haben die seit 2009 veröffentlichte wissenschaftliche Literatur daraufhin analysiert, ob es jemals zu einer HIV-Übertragung durch das Stillen gekommen ist, wenn

  • die Mutter eine Viruslast unter 50 Kopien/ml hatte,
  • kontinuierlich medizinisch betreut wurde und
  • ihre antiretrovirale Therapie nach Vorschrift durchführte.

Kein dokumentierter Fall einer HIV-Übertragung beim Stillen unter optimalen Bedingungen

Sie beschreiben dies als „optimales Szenario“ und weisen darauf hin, dass in einer Untersuchung von Frauen aus der Schweizer HIV-Kohorte, die zwischen 2012 und 2016 Kinder zur Welt brachten, 95,9 % der Mütter zum Zeitpunkt der Geburt eine Viruslast unter der Nachweisgrenze hatten. Es sei daher anzunehmen, dass dieses Szenario in den allermeisten Fällen tatsächlich zutreffe.

Vorherige Untersuchungen der wissenschaftlichen Literatur waren hinsichtlich des Vorliegens einer Viruslast unter der Nachweisgrenze weniger streng gewesen. Bei den in den Studien beschriebenen Übertragungen war daher schwer zu bestimmen, ob die Viruslast der Mutter tatsächlich unter der Nachweisgrenze lag.

Die randomisierte PROMISE-Studie zur antiretroviralen Therapie der Mutter oder einer prophylaktischen Behandlung des Babys in der Stillzeit ergab, dass das Risiko einer Übertragung sechs Monate nach der Geburt bei etwa 0,3 % und zwölf Monate nach der Geburt bei etwa 0,7 % lag.

Die Autor_innen der Schweizer Analyse weisen aber darauf hin, dass es keine Daten zur Viruslast in der Beobachtungsphase der PROMISE-Studie gibt. Es lasse sich daher nicht bestimmen, ob es Übertragungen unter den Bedingungen des „optimalen Szenarios“ gab. Unter den Bedingungen des optimalen Szenarios konnten sie keinen dokumentierten Fall einer HIV-Übertragung identifizieren.

Gemeinsame Entscheidungsfindung nach Diskussion der Vor- und Nachteile

Laut Ansicht der Forscher_innen besteht damit ein „klinischer Gleichstand“, das heißt eine gleich große medizinische Unsicherheit. Ärzt_innen sollten ihrer Meinung nach daher gemeinsam mit Frauen mit HIV über die Frage des Stillens entscheiden. Dabei solle man zunächst nach dem Wunsch der Mutter fragen und dann die unten angeführten Punkte besprechen. Den Frauen solle man dabei deutlich machen, dass das ärztliche Versorgungsteam sie unterstützt, gleich wie die Entscheidung der Frau ausfällt.

Potenzielle Risiken des Stillens

  • Es gibt keine nach wissenschaftlichen Kriterien durchgeführte Studie zum Übertragungsrisiko beim Stillen bei einer Viruslast unter der Nachweisgrenze, die der PARTNER-Studie zur sexuellen Übertragung gleichkäme.
  • Das Fehlen eines Beweises für eine Übertragung unter diesen Bedingungen erlaubt uns nicht, die Möglichkeit einer solchen Übertragung auszuschließen.
  • Das Risiko einer Übertragung durch zellassoziiertes Virus lässt sich nicht ausschließen; es ist bisher zu wenig über diese Möglichkeit bekannt.
  • Es gibt zu wenig Informationen über potenzielle Toxizitäten antiretroviraler Medikamente, die vom Baby über die Muttermilch aufgenommen werden.
  • In der Phase nach der Geburt ist die Unterstützung der Therapietreue besonders wichtig, denn aufgrund von Schlafunterbrechungen und Stimmungsschwankungen kann die regelmäßige Tabletteneinnahme beeinträchtigt sein.
  • Brustwarzenentzündungen könnten das Übertragungsrisiko erhöhen.
  • Eine Mischung aus Stillen und Flaschenfütterung könnte das Übertragungsrisiko erhöhen. Deshalb empfiehlt man in der Schweiz, in den ersten vier Monaten ausschließlich zu stillen.

Potenzieller Nutzen des Stillens

  • Das Stillen hat zahlreiche positive Auswirkungen auf das Baby. Es wird daher in den meisten europäischen Ländern für HIV-negative Frauen empfohlen.
  • Stillen ist ein einfacher und kostenloser Weg, das Baby zu ernähren.
  • Das Stillen ist gut für die Mutter, denn es senkt das Risiko einer Wochenbettdepression.
  • Stillen könnte das Brustkrebsrisiko senken, insbesondere für jüngere Frauen.
  • Das Stillen senkt das Risiko eines Typ-2-Diabetes für die Mutter und unterstützt die Kontrolle des Blutzuckers.

Die Schweizer Analyse folgt einem ähnlichen Ansatz wie die aktuelle Leitlinie der British HIV Association. Auch diese Leitlinie betont die Bedeutung einer engen medizinischen Begleitung mit monatlichen Messungen der Viruslast bei den Müttern sowie HIV-DNA-Tests bei den Babys in der Stillphase.

Die British HIV Association empfiehlt Frauen, die sich für das Stillen entscheiden, die Stillphase möglichst kurz zu halten. Idealerweise sollte sie nicht länger als sechs Monate sein.

Quelle: Kahlert C et al. Is breastfeeding an equipoise option in effectively treated HIV-infected mothers in a high-income setting? Swiss Medical Weekly, 148:w14648, 2018 (Volltext hier)

* Original: Breastfeeding with undetectable viral load: genuine uncertainty on risk should be communicated to women with HIV, say Swiss doctors, veröffentlicht am 23. August 2018 auf aidsmap.com; Übersetzung: Literaturtest.de. Vielen Dank an NAM/aidsmap.com für die Erlaubnis zur Zweitveröffentlichung!

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