Eine Studie in der südafrikanischen Provinz KwaZulu-Natal untersuchte die Bedeutung der HIV-Therapie für die Prävention. Dabei gelang zwar die Ausweitung der Testangebote, aber neu Diagnostizierte nahmen Behandlungsangebote nur zögerlich wahr.

Von Roger Pebody*

Laut den Ergebnissen der ersten großen Forschungsstudie zu „Test and treat“ (Testen und behandeln) als Public-Health-Maßnahme konnte diese Strategie in den Communities, in denen sie umgesetzt wurde, die Zahl der HIV-Neuinfektionen nicht senken.

Auf der 21. Internationalen Aids-Konferenz (AIDS 2016) im südafrikanischen Durban teilte François Dabis von der Universität Bordeaux mit, dass die Datenerhebungsphase für die Studie ANRS 12249 einen Monat zuvor abgeschlossen worden sei und sein Team sich noch nicht intensiv genug mit den Daten habe beschäftigen können, um die Ergebnisse zu erklären.

Nur 49 % der Diagnostizierten begannen eine HIV-Behandlung

Deutlich ist allerdings bereits, dass viele neu mit HIV diagnostizierte Personen keinen Kontakt zum medizinischen Versorgungssystem aufnahmen oder dies erst nach vielen Monaten taten: Nur 49 % der Diagnostizierten begannen eine HIV-Behandlung.

Sehr viel erfolgreicher war die Studie darin, den HIV-Test an diejenigen Männer und Frauen zu bringen, die ihn brauchten: 92 % der Menschen mit HIV wussten um ihre Infektion. Bei jenen, die HIV-Medikamente nahmen, erwies sich die Behandlung außerdem als hoch wirksam: Bei 93 % von ihnen lag die Viruslast unter der Nachweisgrenze. Diese Ergebnisse wurden in einer ländlichen, armen Gegend in der südafrikanischen Region KwaZulu-Natal erzielt.

In der Sprache der 90-90-90-Ziele gesprochen, erreichte die Studie also 92-49-93. (Anmerkung der Redaktion: „90-90-90“ sind drei Ziele, die die UN-Organisation UNAIDS bis zum Jahr 2020 erreichen will: 90 % aller HIV-Infizierten sollen ihren Status kennen, 90 % aller Diagnostizierten sollen Zugang zu Behandlung haben, und bei 90 % der Behandelten soll kein Virus mehr nachweisbar sein.) Die Schwäche der entscheidenden mittleren Zahl in der vorliegenden Studie könnte das Ausbleiben eines Effekts auf die Zahl der HIV-Neuinfektionen erklären. Erklärt werden müssen aber die Gründe, warum nur so wenige Menschen den Kontakt zum medizinischen Versorgungssystem aufnahmen.

Studienziel

Die ANRS-12249-Studie sollte die Wirksamkeit einer Treatment-as-Prevention-Intervention (TasP; zu Deutsch: Behandlung als Präventionsmaßnahme, Anm. d. Red.) auf Bevölkerungsebene in einer stark von HIV betroffenen afrikanischen Population bestimmen.

Während Studien wie HPTN052 oder PARTNER die Auswirkungen der HIV-Behandlung auf Individuen oder Paare untersuchten, ist dies die erste von fünf großen randomisierten Studien zur Wirksamkeit des Ansatzes „TasP“ beziehungsweise „Testen und behandeln“ auf breiter Basis in afrikanischen Ländern. Die Studie sollte die Umsetzbarkeit und Akzeptanz in den Communities vor Ort erforschen, doch war das primäre Ziel, die Zahl neuer HIV-Infektionen zu senken. Primäre Erfolgskennziffer war daher die HIV-Inzidenz in der allgemeinen Bevölkerung.

Drei von zehn Einwohner_innen leben mit HIV

Durchgeführt wurde die Studie in der drei Autostunden von Durban entfernt liegenden Gemeinde Hlabisa in der Provinz KwaZulu-Natal. Drei von zehn Einwohner_innen leben dort mit HIV – das ist die höchste Prävalenz in Südafrika und eine der höchsten der Welt. Vorangegangene Beobachtungsstudien in der Gegend hatten gezeigt, dass in Nachbarschaften, in denen mehr Menschen mit HIV antiretrovirale Medikamente nahmen, die Zahl der HIV-Neuinfektionen geringer war. Geklärt werden sollte nun die Frage, ob ein weiterer Ausbau der Behandlung möglich wäre und sich dadurch die Ergebnisse noch weiter verbessern ließen.

Studiendesign und Maßnahmen

Es handelte sich um eine Cluster-randomisierte kontrollierte Studie, in der insgesamt 22 geografische Einheiten mit jeweils etwa 1.000 Einwohner_innen miteinander verglichen wurden. Diese Cluster wurden zufällig in zwei Gruppen aufgeteilt: 11 Cluster, in denen die Intervention erfolgte, und 11 Kontroll-Cluster.

Alle sechs Monate wurde allen Studienteilnehmer_innen (in beiden Gruppen) eine häusliche HIV-Beratung und -Testung angeboten, das heißt, ausgebildete Berater_innen gingen von Tür zu Tür und boten den Einwohner_innen an, sich in ihren eigenen Häusern auf HIV testen zu lassen. Alle Haushaltsangehörigen ab 16 Jahren hatten die Möglichkeit, eine individuelle Beratung und einen HIV-Schnelltest in einem geschützten Bereich innerhalb des Hauses in Anspruch zu nehmen.

Dieser Ansatz, der in der Region bereits erfolgreich umgesetzt wurde, trägt dazu bei, einige der Hürden beim Zugang zu Testangeboten zu überwinden. Er kann Individuen erreichen, die mit anderen Ansätzen nur schwer anzusprechen sind, etwa Heranwachsende, Menschen in ländlichen Gebieten und Personen mit eingeschränktem Zugang zum öffentlichen Gesundheitssystem.

Menschen aus den Interventions-Clustern, bei denen eine HIV-Infektion diagnostiziert wurde, wurde der sofortige Beginn einer HIV-Behandlung angeboten, unabhängig von Symptomen oder der CD4-Zellzahl. Bei HIV-positiv Getesteten aus den Kontroll-Clustern wurde nach den jeweiligen südafrikanischen Richtlinien verfahren.

Berater_innen gingen von Tür zu Tür, um HIV-Tests anzubieten

Als die Studie im Jahr 2012 begann, gab es einen deutlichen Unterschied zwischen dem „Testen-und-behandeln“-Ansatz und den nationalen Richtlinien, die einen Therapiebeginn bei einer CD4-Zellzahl unter 350 Zellen pro Mikroliter Blut (mm³) vorsahen. Diese Schwelle wurde im Januar 2015 auf 500 Zellen/mm³ angehoben. Ab September 2016 soll eine neue Richtlinie gelten, dann soll allen HIV-positiv Getesteten ein sofortiger Therapiebeginn empfohlen werden – wie im Interventionsarm der Studie.

Hervorzuheben ist, dass die Empfehlungen zum Therapiebeginn der einzige wesentliche Unterschied zwischen der Interventions- und der Kontrollgruppe waren. Ansonsten gab es kaum Unterschiede: In beiden Gruppen gingen die Berater_innen von Tür zu Tür und boten HIV-Tests an, und in beiden Gruppen gab es HIV-Behandlungszentren, die nicht weiter als 45 Minuten zu Fuß von den Häusern entfernt waren.

Obwohl also die Forscher_innen ihre Strategie als „universelles Testen und Behandeln“ beschreiben, können etwaige Unterschiede zwischen der Interventions- und der Kontrollgruppe also nur auf Unterschiede bei den Therapieempfehlungen zurückgehen. Anders als in einigen anderen Studien zu „Testen und Behandeln“ gab es im Interventions-Arm kein verstärktes HIV-Testangebot oder andere Maßnahmen, um die Nutzung der medizinischen Dienstleistungen zu erleichtern.

Ergebnisse

Bei Studienbeginn gab es 28.153 Teilnehmer_innen, 37 % davon waren Männer. Die meisten Teilnehmer_innen waren zwischen 22 und 50 Jahren alt, das Medianalter lag bei 30.

Wie erwartet, lebten 31 % der erreichten Teilnehmer_innen mit HIV, doch nahmen nur 34 % von ihnen HIV-Medikamente.

Durch das Tür-zu-Tür-Testprogramm gelang es, bei 88 % der kontaktierten Einwohner_innen mindestens einmal einen HIV-Test durchzuführen, und bei jeder weiteren Runde nahmen über 70 % der Kontaktierten das Angebot eines Wiederholungstests an.

Die Überweisung HIV-positiv Getesteter ins Gesundheitssystem dagegen funktionierte nicht gut: Drei Monate nach der Diagnose hatten nur 28 % der neu Diagnostizierten ein HIV-Behandlungszentrum aufgesucht, sechs Monate nach der Diagnose waren es 36 %, zwölf Monate nach der Diagnose 47 %.

Viruslast unter der Nachweisgrenze bei fast allen Therapierten

Diese Zahlen waren in der Kontroll- und der Interventionsgruppe nahezu identisch. Allerdings begannen, wie erwartet, wesentlich mehr Teilnehmer_innen aus der Interventionsgruppe (91 %) als Teilnehmer_innen aus der Kontrollgruppe (52 %) bald nach dem ersten Arztbesuch mit der Behandlung. Nahezu alle Personen, die eine HIV-Therapie begannen, erreichten eine Senkung der Viruslast unter die Nachweisgrenze.

Mit Blick auf die 90-90-90-Ziele wurden die „erste 90“ und die „letzte 90“ also „übererfüllt“, und zwar sowohl in der Interventions- als auch in der Kontrollgruppe. Die Ergebnisse für die „zweite 90“ hingegen, also den Anteil der Diagnostizierten, die eine Therapie beginnen, waren enttäuschend.

Anteil der Diagnostizierten: 92,3 % der Menschen mit HIV in der Interventionsgruppe und 93,4 % der Menschen mit HIV in der Kontrollgruppe.

Anteil der Diagnostizierten unter Therapie: 49,2 % der Diagnostizierten aus der Interventionsgruppe und 46,0 % der Diagnostizierten aus der Kontrollgruppe.

Anteil der Behandelten mit einer Viruslast unter der Nachweisgrenze: 93,4 % der Behandelten in der Interventions- und 93,6 % der Behandelten in der Kontrollgruppe.

Folge der Probleme auf der zweiten Stufe war, dass nur 42,4 % der Teilnehmer_innen mit HIV in der Interventionsgruppe und 40,2 % der HIV-positiven Teilnehmer_innen in der Kontrollgruppe eine Viruslast unter der Nachweisgrenze hatten (wären in jeder Gruppe 90 % erreicht worden, wären 73 % aller Bewohner_innen mit HIV unter der Nachweisgrenze gewesen).

Auch hier fällt auf, wie ähnlich die Ergebnisse in der Interventions- und der Kontrollgruppe sind.

Ergebnisse: HIV-Neuinfektionen

Insgesamt wurden 495 neue HIV-Infektionen über 22.434 Personenbeobachtungsjahre festgestellt. Das ergibt eine jährliche Inzidenz von 2,21 % (das heißt, jedes Jahr infizieren sich 2 von 100 Einwohner_innen mit HIV).

Die Inzidenzen der Interventionscluster (2,13 %) und der Kontrollcluster (2,27 %) unterschieden sich kaum, die Differenz war statistisch nicht signifikant.

„Die universelle Test-und-Behandlungs-Strategie hatte im Studienverlauf keine messbare Auswirkung auf die HIV-Inzidenz“, fasste François Dabis die Ergebnisse zusammen.

Dennoch sah er zwei gute Nachrichten aus der Studie: Zum einen wurde das Angebot wiederholter HIV-Tests im häuslichen Umfeld gut angenommen, sodass fast alle Einwohner_innen mindestens einmal getestet wurden. Zum anderen sprachen die Menschen mit HIV, die HIV-Medikamente nahmen, virologisch sehr gut auf die Therapie an.

Erklärungen für die Ergebnisse

In Durban konnte nur eine vorläufige Analyse der Ergebnisse vorgestellt werden, weil die Phase der Datensammlung erst einen Monat zuvor abgeschlossen worden war. Dabis kündigte weitere Auswertungen an, um Unterschiede zwischen Männern und Frauen sowie zwischen Personen verschiedener Altersstufen besser verstehen zu können.

Warum nahmen Diagnostizierte keinen Kontakt zum Versorgungssystem auf?

Die Forscher_innen werden aber insbesondere nach den Gründen dafür suchen, warum mit HIV Diagnostizierte keinen Kontakt zum HIV-Versorgungssystem aufnahmen: Liegt es an der Art und Weise, wie diese medizinischen Leistungen erbracht werden, an individuellen Faktoren oder am HIV-Stigma, das in den Gemeinschaften herrscht? Um das herauszufinden, sollen Unterschiede zwischen den von den Interventionen erreichten und den nicht erreichten Personen analysiert werden.

Während der Diskussion in Durban sagte Myron Cohen von der University of North Carolina, der späte Kontakt zum HIV-Versorgungssystem bedeute auch, dass Personen mit einer frischen HIV-Infektion überproportional an der Weiterverbreitung von HIV beteiligt seien. Darüber hinaus müssten auch der Einfluss von Migrationsbewegungen und sexuellen Netzwerken erforscht werden, die über das Studiengebiet hinausreichten und ebenfalls zu neuen HIV-Infektionen beitragen könnten.

François Dabis sagte mit Blick auf die Studienhypothese, wonach eine Wirkung des TasP-Ansatzes sich bereits nach vier Jahren beobachten lasse, dass der Beobachtungszeitraum angesichts der zögerlichen Behandlungsaufnahme möglicherweise verlängert werden müsse, bis sich eine solche Wirkung zeige.

Andere Konferenzteilnehmer_innen vermuteten, das Maßnahmenpaket für die Interventionsgruppe sei im Vergleich zu den Maßnahmen für die Kontrollgruppe nicht umfangreich genug gewesen – möglicherweise hätten intensivere Bemühungen, die Diagnostizierten zum Kontakt mit dem medizinischen Versorgungssystem zu bewegen, etwa in Form eines bei ihnen zu Hause umgesetzten Therapiebeginns, zu besseren Ergebnissen geführt.

Sitzungsleiterin Sheri Lippman von der University of California schloss die Präsentation und Diskussion mit folgendem Kommentar: Möglicherweise bedürfe es mehr als rein technischer Lösungen, um die strukturellen Hürden zur Nutzung des medizinischen Systems zu überwinden.

Literatur

Dabis F et al.: The impact of universal test and treat on HIV incidence in a rural South African population: ANRS 12249 TasP trial, 2012–2016. 21st International AIDS Conference, Durban, abstract FRAC0105LB, 2016

Abstract auf der Konferenz-Website

Download-Link zur PowerPoint-Präsentation auf der Konferenz-Website

* Original: ‚Test and treat‘: large study fails to show an impact on new HIV infections, veröffentlicht am 23. Juli 2016 auf aidsmap.com; Übersetzung: Literaturtest

Vielen Dank an NAM/aidsmap.com für die Erlaubnis zur Zweitveröffentlichung!

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