„Wir partizipieren zu hundert Prozent“
Als Clement Matweta vor fast zehn Jahren zum ersten Mal in seiner Heimatstadt Essen in einer afrikanischen Kirchengemeinde über HIV spreche wollte, wusste er nicht genau, was ihn erwartet. „Wir haben gesagt, wir versuchen es“, erinnert sich der Sozialarbeiter. „Ich hatte am Ende des Gottesdiensts Gelegenheit, zehn Minuten zu reden. Danach sagte der Pastor: ‚Okay, wenn wir jemanden haben, der HIV-positiv ist, werden wir uns melden.‘ Das haben sie bis heute nicht getan.“ Zum Glück haben sich aber einige Kirchenmitglieder kurz darauf an die Beratungsstelle gewendet, ohne dass die Gemeinde davon wusste. So war Clement Matwetas Auftritt in der Kirche am Ende doch von Erfolg gekrönt. Und er hat verstanden: HIV-Prävention in diesem Setting ist zwar zunächst „aufsuchende“ Arbeit, wer wirklich Hilfe sucht, wird aber erst später auf einen zukommen.
Vielfalt in jeder Hinsicht
Clement Matweta ist einer von über zwanzig Menschen, die an dem gerade erschienenen Handbuch „HIV-Prävention für & mit Migrant_innen“ der Deutschen AIDS-Hilfe mitgewirkt haben. Entstanden ist ein Leitfaden, der Qualitätsstandards formuliert und mit 16 Praxisbeispielen die Vielfalt der Präventionsarbeit mit den Communities widerspiegelt. „Migranten sind keine homogene, sondern eine vielfältige Gruppe. Sie kommen in jeder Zielgruppe der HIV-Prävention und Aidshilfe-Arbeit vor“, erläutert DAH-Migrationsreferentin Tanja Gangarova, die federführend zwei Jahre an dem Handbuch mitgearbeitet hat. „Wir haben geschaut, wo sich Standards formulieren lassen, die für alle anwendbar sind. Wo das nicht möglich ist, haben wir Modelle guter Praxis gesammelt, die andere für ihre Arbeit übernehmen und anpassen können.“
Die vorgestellten Projekte reichen vom Tablet-Quiz, mit dem der Berliner Verein manCheck auf Schwulen-Partys spielerisch über HIV und andere sexuell übertragbare Infektionen und die Schutzmöglichkeiten informiert, über Workshops der Hurenorganisation Hydra bis hin zur Aufklärungsarbeit der Münchner MuMM-Gruppe (DAH-Projekt „Migrantinnen und Migranten als Multiplikatoren für die HIV- und STI-Prävention“) in Erstaufnahmeeinrichtungen für Geflüchtete.
Sein Trick sind Zitate aus der Bibel
Auch ganz konkrete Empfehlungen werden gegeben. So rät Clement Matweta, bei der HIV-Prävention in Kirchen immer zuerst den geistlichen Führer einer Gemeinde zu kontaktieren. „In afrikanischen Communities und speziell in Kirchengemeinden ist HIV ein Tabu“, beschreibt er die größte Hürde seiner Arbeit. Für viele sei Aids eine Strafe Gottes. Darüber in der Kirche zu sprechen, funktioniere nur über den Pastor oder Priester. „Sie sind es, die den Zugang zur Gemeinde öffnen und es erlauben, über Tabuthemen zu sprechen.“ Sein Trick sind Zitate aus der Bibel, in denen es um die Gesundheit des Körpers und der Seele geht. „Damit kann man anfangen, wenn man über Gesundheitsthemen sprechen möchte.“
Ohne Menschen wie Clement Matweta, die selbst aus der Community kommen, ist eine effektive HIV-Prävention für und mit Migranten nicht möglich. Das betont auch Tanja Gangarova: „Das Buch basiert auf den Konzepten von ‚Diversity‘, also der Anerkennung von Vielfalt, und Partizipation, der Einbeziehung der Zielgruppe.“
Kooperation statt Konkurrenz
Nach diesen Konzepten ist das Werk auch entstanden: Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus dem Aidshilfe-Verband, Community-Vertreter, die zum Teil über zwanzig Jahre Erfahrung in der Präventionsarbeit haben, und andere Kooperationspartner wie Gesundheitsämter und die Caritas haben das Handbuch gemeinsam entwickelt. „Wir haben die gesamten Erfahrungen in Leitlinien übersetzt, um die Qualität unserer Maßnahmen noch mal zu steigern, die vor allem von der Beteiligung der Communities abhängt“, erläutert Gangarova das Ziel des Projekts.
Der Bedarf an angemessenen Angeboten steige nicht zuletzt durch die aktuelle Flüchtlingsbewegung. „Immer mehr Aidshilfen fragen nach Fortbildungen zur Prävention für und mit Migranten“, erzählt Gangarova. Mit dem Handbuch soll die Beratungsarbeit und die Planung von Projekten erleichtert werden.
Wie wichtig es ist, dass dabei nicht jeder sein eigenes Süppchen kocht, weiß Aids-Koordinatorin Brigitte Menze vom Essener Gesundheitsamt. Auch sie hat am Handbuch mitgewirkt und berichtet in einem Praxisbeispiel vom „Arbeitskreis Migration und sexuelle Gesundheit“ der Stadt Essen. Verschiedene Beratungsstellen, die bis vor ein paar Jahren nebeneinander her gearbeitet haben, wirken hier nun zusammen. „Vorher fehlte die Nachhaltigkeit in der Arbeit“, erinnert sich Brigitte Menze, „deshalb haben wir uns zusammengesetzt und überlegt, wie wir uns ergänzen können statt zu konkurrieren.“
Regelmäßiger Austausch
Die Kooperation ist erfolgreich – und stärkt die einzelnen Mitarbeiter, unter ihnen Community-Vertreter, die die Projekte hauptverantwortlich betreuen. „Das eigene Empowerment fließt wieder in die Arbeit in den Communities ein“, so Brigitte Menze. Besonders freut sie, dass die Projekte inzwischen von der Stadt Essen mitfinanziert und die Angebote in den Communities jetzt so gut angenommen werden.
Auch Clement Matweta kann die positiven Effekte der Zusammenarbeit in Essen bestätigen. „Wenn Menschen kommen, die Hilfe brauchen, können wir sie an die jeweiligen Stellen weiterleiten.“ Wichtig sei aber auch, dass sich alle in der HIV-Prävention Tätigen regelmäßig austauschen. „Wir fragen uns immer wieder, wie wir den Leuten sonst noch helfen können“, erklärt Matweta. „Durch die Vernetzung kriegen wir dazu viele Informationen.“
Input wie diesen möchte auch das Handbuch „HIV-Prävention für & mit Migrant_innen“ geben. Es zeigt auf, welche Voraussetzungen erfüllt werden müssen, um Migrantinnen und Migranten die Beteiligung an der Präventionsarbeit zu ermöglichen und eine an „Diversity“ orientierte Arbeitsweise zu etablieren. „Wir werden jetzt als Migranten mit unseren Anliegen richtig wahrgenommen“, freut sich Clement Matweta. „Wir partizipieren zu hundert Prozent – sind nicht mehr nur Dekoration, sondern richtige Akteure.“
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