Der Paritätische: 100 Jahre Lobby für Chancengleichheit
Der Paritätische Wohlfahrtsverband wird 100. Ein Gespräch mit dem Vorsitzenden Prof. Dr. Rolf Rosenbrock über soziale Gesundheitspolitik, Lehren aus der Aidskrise und die aktuellen Gefahren von rechts.
Über 10.000 gemeinnützige Vereine, Organisationen, Einrichtungen und Initiativen haben sich in dem Dachverband zusammengeschlossen – von Arbeitsloseninitiativen, dem Kinderschutzbund und Tafel Deutschland bis hin zu Selbsthilfeorganisationen wie der Deutschen Aidshilfe. Am 4. April 2024 feiert der Paritätische Wohlfahrtsverband den 100. Jahrestag seiner Gründung. Seit 2012 hat der Gesundheitswissenschaftler Prof. Dr. Rolf Rosenbrock das Amt des ehrenamtlichen Vorsitzenden inne.
Du hast über 30 Jahre am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) gearbeitet und dort den Bereich Public Health etabliert. Nach deiner Emeritierung 2012 hast du dich dann aber nicht in den Ruhestand verabschiedet, sondern dich in den Vorstand des Paritätischen Gesamtverbandes wählen lassen. Lag dieser Wechsel von der Forschung in die Wohlfahrtspflege für dich nahe?
Ich habe mich in den Sechzigerjahren in der Studierendenbewegung politisiert und dadurch nachhaltig für das Problem sozial bedingt ungleicher Lebens- und Entfaltungschancen und für Ungerechtigkeit sensibilisiert. Dies hat mich durch meinen ganzen Berufsweg als Gesundheitsforscher getragen. Ich habe eigentlich alle Forschungsprojekte im WZB unter dem Aspekt betrieben, inwieweit Gesundheitspolitik durch bestimmte Regelungen und Gesetze die sozial bedingte Ungleichheit reduziert oder größer werden lässt.
Beim Paritätischen bin ich Teil einer Lobby gegen Armut, für mehr Gleichheit, für Chancengleichheit, für Gleichwürdigkeit von Menschen.
Als ich 2012 im 68. Lebensjahr das WZB verließ, stellte sich für mich die Frage: Soll ich jetzt als Emeritus weiter Wissenschaft betreiben oder etwas anderes machen? Und da schien es mir sehr naheliegend, zum Paritätischen zu gehen. Denn dies ist ein Verband, für den die Themen sozial bedingte Ungleichheit, Armut, Einkommensspreizung und Gerechtigkeit ebenfalls ganz oben auf der Agenda stehen. Hinzu kam, dass man als Wissenschaftler eigentlich immer derjenige ist, der von ganz oben herunterschaut, analysiert, Muster erkennt und auf dieser Basis versucht, die Politik zu beraten. Aber man bleibt eigentlich immer außerhalb des Geschehens.
Beim Paritätischen bin ich nun Teil einer Lobby – einer Lobby gegen Armut, für mehr Gleichheit, für Chancengleichheit, für Gleichwürdigkeit von Menschen. Nach 35 Jahren Forschung, Lehre und Politikberatung hat es mir sehr gutgetan, nicht mehr nur analysierender Wissenschaftler zu sein, sondern mich als Lobbyist auch völlig parteilich dafür einzusetzen zu können, dass sich die Verhältnisse ändern.
Du hast auch im Rahmen deiner wissenschaftlichen und lehrenden Tätigkeit durchaus die gesellschafts- und gesundheitspolitischen Verhältnisse mitgeprägt, nämlich die Aidspolitik, insbesondere zu Beginn der Aidskrise.
Ich habe mich sehr früh durch das Thema Aids herausgefordert gefühlt. Denn die damals als Hauptbetroffene gesehenen Gruppen – Schwule, Drogengebrauchende und Sexarbeiter*innen – drohte Diskriminierung, Verfolgung und damit eine wachsende Vulnerablität. Das war neben der Tatsache, dass ich eben ein schwuler Gesundheitsforscher bin, der Grund, mich seinerzeit in diesen Diskurs hineinzustürzen. Ich habe das auch nie bereut, weil wir im Ergebnis sowohl gesundheits- und diskriminierungspolitisch als auch epidemiologisch sehr erfolgreich waren.
Es ist für mich immer wieder eine Kraftquelle, wenn ich andere Menschen sehe, die mit Engagement die gleichen Ziele verfolgen.
Haben sich aus dieser Arbeitund durch deine persönlichen Erfahrungen in den vier Jahrzehnten mit HIV und Aids Impulse für die jetzige Tätigkeit beim Paritätischen ergeben?
Es gibt in der Tat eine ganze Reihe von Punkten. Mein Buch „AIDS kann schneller besiegt werden. Gesundheitspolitik am Beispiel einer Infektionskrankheit“ habe ich 1986 zum Teil in den Räumen der Deutschen Aidshilfe recherchiert und geschrieben. Dies war ein Kraftfeld, wo sich in den Räumen dieser Mietwohnung alle Informationen, unglaubliche Motivation, aber auch Zuversicht und Mut konzentrierten. Diese Erfahrung hat mir die Kraft gegeben zu sagen: „Ja, wir sind eine Community und die ist in großer Gefahr. Aber wir sind auch in der Lage, uns dagegen zu wehren.“
Das ist eine Grundhaltung, die ich auch im Paritätischen finde. An Benachteiligungen mangelt es gewiss nicht in diesem Land, aber wir sind eine Zivilgesellschaft, die dies erkennt, es benennt und versucht, etwas dagegen zu unternehmen. Es ist für mich immer wieder eine Kraftquelle, wenn ich um mich herum andere Menschen sehe, die mit Engagement die gleichen Ziele verfolgen.
Darüber hinaus habe ich als Beobachter bei der Deutschen Aidshilfe gelernt, wie man mit dem Staat umgeht.
Kannst du das erläutern?
Der Staat gibt Geld, trotzdem müssen wir ihn kritisieren, weil er natürlich nicht immer das macht, was richtig ist bzw. was wir für richtig halten. Und wir müssen uns unsere Freiräume immer neu erkämpfen. Wir haben immer damit zu tun, dass Daueraufgaben nur als Projekte finanziert werden. Wir haben mit bürokratischen Schwierigkeiten zu tun, weil die Sprache des Staates – ausgedrückt in Verordnungen und Bewilligungen – nicht den Notwendigkeiten entspricht, wie wir sie an der Basis in unserer Arbeit sehen. Dies ist letztlich auch die Rolle, die die Zivilgesellschaft in einer Marktgesellschaft spielt. Denn als gemeinnützige Organisation sind wir automatisch in der Opposition, allein schon, weil wir ein anderes Wirtschaftsprinzip vertreten.
Als gemeinnützige Organisation sind wir automatisch in der Opposition, schon weil wir ein anderes Wirtschaftsprinzip vertreten.
War die Deutsche Aidshilfe als Selbsthilfeorganisation im Gesundheitsbereichin ihren ersten Mitgliedsjahren eher ein Exot innerhalb des Paritätischen?
Als die DAH in den Paritätischen eintrat, hatte ich mit dem Verband ja noch nichts zu tun. Allerdings habe ich nie gehört, dass dies besonders konfliktbehaftet oder schwierig war. Der Paritätische hatte sich schon einige Jahr zuvor geöffnet und erste Selbsthilfeorganisationen aufgenommen. Dem waren allerdings langen Diskussionen im Verband vorausgegangen: Sind Selbsthilfeorganisationen überhaupt Wohlfahrtsorganisationen? Der Vorwurf war, sie würden doch nur etwas für sich selbst und nicht für die Allgemeinheit tun. Im Verband setzte sich dann aber die Einsicht durch, das Selbsthilfe sehr viel mit Empowerment, Selbstermächtigung und Kraftschöpfen zu tun hat. Deshalb ist heute der Paritätische auch zum größten Dachverband für die gesundheitsbezogene Selbsthilfe geworden. Parallel zur Integration der Selbsthilfeorganisationen entwickelte sich der Paritätische auch zum Forum der Migrant*innen. Über 200 ihrer Selbstorganisationen, die ebenfalls keine klassische Wohlfahrtspflege, sondern Selbstermächtigung und autonome Interessenvertretung betreiben, sind inzwischen Mitglied in unserem Verband.
In den letzten Jahren ist außerdem der Anteil queerer Projekte und Organisationen im Paritätischen immer gewachsen. Es gibt einerseits eine Fülle von queeren Projekten, die durch Mitgliedsorganisationen eingebracht werden, aber auch bundesweite Organisationen wie die Schwulen Senioren, die Mitglied wurden. Der Paritätische ist für mich aber auch deshalb eine sehr angenehme politische Umgebung, weil er felsenfest auf dem Prinzip der Gleichwertigkeit besteht: Jeder Mensch hat die gleiche Würde, sollte die gleichen Chancen haben und darf nicht diskriminiert werden. Das ist eine einfache und sehr grundsätzliche Position, die uns gerade jetzt in der Auseinandersetzung mit den neuen Rechtsextremen einen klaren Standpunkt gibt.
Die menschliche Würde und das Gleichheitsgebot sind durch Rechtspopulismus und rechte Kräfte gerade immer stärker in Gefahr. Welche Rückmeldungen erfährt der Paritätische durch seine Mitgliedsorganisationen?
„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu schützen ist Aufgabe aller staatlichen Gewalt.“ Schon diese beiden Sätze aus dem Grundgesetz zeigen, dass die Würde immer wieder angetastet wird und es ein ständiger Kampf ist, ihr auch in der Lebenspraxis den höchsten Wert zu verschaffen. Wir erhalten in der Tat Berichte von Mitgliedsorganisationen, wonach gerade Projekte mit Geflüchteten und queere Projekte Gegenstand von Angriffen sind – sei es im Netz, im Gemeinderat oder durch das Beschmieren von Fassaden und Türen.
Meist passieren diese Fälle auf lokaler Ebene. In der Regel ziehen AfD-Vertreter im Gemeinderat oder Stadtparlament durch das Auskunftsrecht Erkundungen zu missliebigen Organisationen ein: Wie finanzieren sie sich? Wer sind die Funktionsträger? Wo befinden sich ihre Einrichtungen? Und irgendwann taucht dann etwas im Netz dazu auf, das aus diesen Informationen gestrickt wurde. Meist läuft es darauf hinaus, dass hier Gelder für Geflüchtete oder andere „seltsame“ Menschen verwendet werden, anstatt es den „ordentlichen Deutschen“ zu geben.
Wie häufig werden solche Vorfälle gemeldet?
Es handelt sich bislang eher um Einzelfälle, aber sie nehmen zu. Die betroffenen Mitgliedsorganisationen sind damit meist völlig überfordert. Denn nicht jeder kann spontan mit solchen Anfeindungen ruhig und gelassen, zugleich aber auch kämpferisch und entschlossen umgehen. Wir versuchen deshalb insbesondere kleine Mitgliedsorganisationen durch unsere Netzscouts zu befähigen, solchen Angriffen adäquat zu begegnen, etwa durch Gegenaufklärung und Gegenöffentlichkeit. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass man gegen bestimmte Formen der Diffamierung und der Diskriminierung letztlich nur sehr schwer angehen kann.
Der Paritätische hat klare Abgrenzungsbeschlüsse zu Rechtsextremen inklusive der AfD und wir halten uns auch daran.
Wie fest steht im Paritätischen die Brandmauer gegen rechts?
Mit der AfD und anderen rechtsextremen Kräften steht uns ein Block gegenüber, der bestreitet, dass alle Menschen die gleichen Rechte haben. Der Paritätische hat sehr klare Abgrenzungsbeschlüsse zu Rechtsextremen inklusive der AfD und wir halten uns auch daran.
Wir laden beispielswiese niemanden von der AfD ein und nehmen an keiner ihrer Veranstaltungen teil. Wenn mich allerdings bei einer Anhörung im Bundestag ein AfD-Abgeordneter etwas fragt, muss ich selbstverständlich antworten. Oder in Sachsen-Anhalt, wo der Vorsitzende des Landtagsausschusses für Soziales ein AfD-Mann ist, muss die Wohlfahrtspflege mit ihm verhandeln. Da führt in unseren Regularien kein Weg dran vorbei. Aber wir beteiligen uns massiv an allen soliden Bündnissen gegen Rechts und inzwischen gehen ja Hunderttausende auf die Straße, um ihre Abscheu gegenüber diesen menschenrechtsfeindlichen Positionen zum Ausdruck zu bringen.
Mir ist aber auch wichtig zu sagen, dass man im persönlichen Bereich mit jenen Menschen, die falsch abgebogen sind, im Gespräch bleiben sollte. Denn ich glaube, dass dies die letztlich entscheidende Ebene ist, an der sich die Frage des gesellschaftlichen Zusammenhaltes und auch einer Zurückdrängung dieser menschenfeindlichen Ansichten entscheiden wird – unabhängig von bzw. zusätzlich zu Demonstrationen, Gesetzesinitiativen gegen rechts und dem politischen Kampf.
In den vielen Einzelorganisationen, die dem Paritätischen angehören, dürfte es schon rein statistisch auch zahlreiche Mitglieder und Beschäftigte geben, die rechte Parteien unterstützen und deren Positionen teilen. Hat das innerhalb des Paritätischen auch schon zu Konflikten geführt?
Dergleichen ist mir noch nicht zu Ohren gekommen, ich höre eigentlich immer das Gegenteil. Nämlich, dass unsere Mitgliederorganisationen, soweit sie sich zu diesen Themen öffentlich überhaupt äußern, sehr dankbar für unsere klare Haltung sind.
Auch die über 50.000 Menschen, die hauptamtlich in den Mitgliedsorganisationen des Paritätischen arbeiten, haben in der weit überwiegenden Zahl diesen Arbeitsplatz nicht zufällig gewählt, sondern weil sie in einer gemeinnützigen Wohlfahrtsorganisation tätig sein wollen. Diese Menschen teilen daher auch die Haltung, dass ein solches Selbstverständnis mit der AfD und Co. nicht zu vereinbaren ist. Es ist richtig: Rein statistisch müsste es innerhalb des Gesamtverbandes Menschen geben, die dies anders sehen, aber sie äußern es nicht im Rahmen ihrer Tätigkeit. Irgendwann werden diese Menschen in einer stillen Stunde ihr Gewissen befragen und sich überlegen müssen, auf welcher Seite sie stehen.
Wie groß ist die Gefahr, dass rechte Politiker*innen in Gemeinderäten oder im Landtag die öffentliche Förderung unliebsamer Einrichtungen und Projekte unterbinden, also schlicht den Geldhahn abdrehen?
Das ist in der Tat eine Gefahr. Damit muss man rechnen. Überwiegend läuft die Förderung der fraglichen Projekte über Bundesförderungen, deshalb kann die AfD derzeit zum Glück auch nicht mit Erfolg intervenieren. Da kann sie noch so viel diffamieren und falsche Informationen verbreiten. Ich habe noch nicht gehört, dass aufgrund des Drucks von rechts Projekte vorzeitig beendet oder Menschen sich daraus verabschiedet haben. Und wir tun alles, damit es dazu auch nicht kommt.
Vielen Dank für das Gespräch!
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